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Slupp erweist sich als eine noch größere Mühle, ebenfalls aus rotem Ziegelmauerwerk und schwarz gestrichenem Fachgebälk. Wir steigen aus und gehen zögernd näher. Das herrschaftlich anmutende Wohnhaus liegt weiter hinten separat, umgeben vom gepflegten Garten mit alten Obstbäumen und seitwärts dem schilfgrünen Wasser der Ossa, mit dichten Laubbäumen und Wiesen am anderen Ufer. Das Haus ist bewohnt. Hier also wurde unsere Urgroßmutter und Gromos Mutter Martha Goldnick geboren. Beim Anblick heute zwingt sich die Vorstellung einer verwunschen-romantischen Kindheit auf. Die Mühle scheint fast wie

      aus dem Märchenbuch, und das Wasser rauschend, wie aus historischer Tiefe in unsere Gegenwart hinein.

      Ein Hund bellt in der warmen Sommerluft. Holger kehrt sofort um.

      Und dann begeben wir uns auf die schwierige Suche nach den Resten des Schlosses Peterhoff (oder auch „Peterhof“ geschrieben).

       Peterhoff ist ein Ort und früherer Familientreffpunkt, der von zahlreichen Vorfahren einhellig begeistert, gefühlsträchtig und geradezu paradiesisch beschrieben wird.

       Eine alte Postkarte zeigt das Schloss als eindrucksvoll schneeweißes Gebäude. Die Front hat mittig einen flachen Giebel über einer Uhr und dem Eingangsportal des Haupttraktes, seitlich zwei langgestreckte Trakte, flankiert von zwei eckigen Türmen. Diese zweistöckige Front liegt nach Norden hin mit einer großartig fürstlichen Einfahrt davor und zwei großen Laubbäumen.

       Auf einem anderen Foto ist die Gartenseite zu sehen mit Garten, zum Haus hin Kübelpflanzen, vielleiht Lorbeer, und weißen Statuen. Weiter hinten schließt sich die ländliche Umgebung mit Heu auf den Wiesen an.

       In der (etwa 1938 geschriebenen?) Chronik der Therese Skowronski, geborene Rosenbaum (deren Eltern: Walter und Jenny Rosenbaum), heißt es:

      „In Westpreußen, bei Graudenz, liegt ein Stück Land, das die Heimat meiner Familie ist. Jeder, der dort seine Kindheit verlebt hat, wird es nie vergessen können. Auch ich hänge mit ganzem Herzen an diesem Fleckchen Erde und versuche darum gern, seiner Geschichte nachzugehen.

       Man weiß, dass die Chomses Hugenotten waren und schließlich in Westpreußen ihre zweite Heimat fanden. Zur Zeit Friedrichs des Großen lebte in Graudenz ein reicher, kinderloser Kaufmann: Peter Chomse. Er kaufte von einem Major von Vieregge das 5500 (Morgen?) große Rittergut Orle mit den Vorwerken Peterhoff und Bergaus und gründete ein Majorat. Um das neu erworbene Westpreußen zu germanisieren, hat Friedrich d. Gr. Hier eine Ausnahme gemacht. Auf besonderen Antrag gestattete er auch Bürgerlichen den Erwerb von Rittergütern. Peter Chomse verpflichtete sich dafür, in Orle ein Internat zu unterhalten, wo ständig zwölf Knaben, möglichst Familienangehörige, ernährt, bekleidet und unterrichtet wurden. Nach Befund der Würdigkeit erhielt später einer dieser Knaben ein Stipendium von 200 Talern jährlich für Studienzwecke. Internat und Stipendium haben bis 1920, wo Orle polnisch wurde, bestanden. Meine Mutter erzählt noch, dass Lehrer und Lehrersfrau gemeinsam die Kinder betreuten, die in einem sehr einfach eingerichteten Raum des kleinen Dorfschulhauses wohnten. Später war jährlich zum Todestag des Stifters ein Schulfest für die Kinder.

       Peter starb unverheiratet 1802. Sein Großneffe Peter erbte das Majorat, starb aber selbst schon 1803. Der nächste Erbe, Peters Bruder Christian war Bauer. Er hat nie auf die Möglichkeit gerechnet, Majoratserbe zu werden. Man erzählt sich, dass Christian aus tiefem Schlaf auf seiner Ofenbank von einem Boten geweckt wurde mit den Worten: „Stehen Sie auf, Sie sind Majoratsherr!“

       Christian heiratete Amalie Schiemann, eine Tochter des Besitzers vom Hotel Adler in Graudenz. In dieser Ehe gab es endlich einen Sohn, der 1818 als neunjähriger Junge durch den Tod seines Vaters Erbe wurde. Wahrscheinlich hat bis zu seinem 18. Lebensjahr sein Vormund das gut bewirtschaftet. Rudolf Chomse, mein Urgroßvater mütterlicherseits, heiratete 1834 Franziska von Prondzinska, Tochter eines preußischen Hauptmannes Jakobus von Prondzinski aus polnischem Adel, der nach seiner Pensionierung vollkommen verarmte.

       Er bezog (laut Familienchronik Prondzinskis) nur 114 Taler Pension jährlich. Franziska ist sehr einfach und streng erzogen worden, und ihre Heirat ist, wie ihr Vater schreibt, eine große Freude und Entlastung für die Familie. Während Rudolf zur Verschwendung neigte, war sie fast zu sparsam und kleidete ihre Kinder sehr einfach, sodass sie deswegen in Graudenz bekannt war.

       Rudolf fuhr oft nach Graudenz. Er liebte es aber nicht, seine Kinder mitzunehmen. Nicht selten krabbelte dann bei seiner Ankunft eins von seinen acht Kindern aus einem Kasten unterm Kutscherbock hervor. Es brauchte gerade eine neue Mütze oder neue Schuhe. Die Mutter, die wusste, dass ihr Mann das Gemüse nicht gerne um sich hatte, hatte es dort versteckt. Rudolf war gutmütig und gab sich knurrend in sein Schicksal. Rudolf war ehrgeizig und verschwenderisch, er wollte dem waldreichen Gut ein schönes Jagdschlösschen bauen. Dazu verkaufte er einen etwa 2000 Morgen großen Besitz Annaberg, der nicht zum Majorat gehörte. Aus dem Erlös baute er Schloss Peterhoff, das, dicht am Walde gelegen, heute Wohnhaus der Besitzer des Majorats ist. Viele Familienangehörige haben seither dort ihre Feri8en verlebt, viele sind im Wald und in der freien Natur groß geworden oder haben dort Erholung gefunden.

       Als ihr Mann 1852 starb, zog Franziska mit sieben Kindern nach Graudenz, da die Kinder dort bessere Bildungsmöglichkeiten hatten. Der älteste Sohn Max erbte das Majorat. Er war sehr gutmütig wie fast alle Chomses und ermöglichte seinen vier Brüdern eine gute Ausbildung, und seinen Schwestern gab er reichlich Aussteuer. Immerhin waren seine Geschwister sehr abhängig von ihm, und Franziska betont diese Abhängigkeit sehr in ihren Briefen an ihren Sohn Ernst: „Wenn Du Geld brauchst, wende Dich an Max.“

       Seine jüngste Schwester Catharina Chomse ist meine Großmutter mütterlicherseits, sie heiratete einen Fotografen Schnackenburg aus Görlitz. Max hatte eine schlechte Eigenschaft, er war leicht jähzornig. Dann verprügelte er nicht selten einen seiner Knechte. Hinterher tat es ihm dann leid, und er schenkte ihm Geld.

       Zu seiner Zeit fuhr man immer vierspännig und bei festlichen Gelegenheiten sogar achtspännig. Er lud oft Graudenzer Schauspieler nach Peterhoff ein und gab große Gesellschaften. Einmal unternahm er mit acht Schauspielern einen Ritt nach Italien. Max war verheiratet mit Mathilde Wüst, einer Pfarrerstochter aus Güttland im Danziger Werder, die sehr streng und fromm erzogen war. Die Ehe blieb kinderlos, und nach Max‘ Tod 1880 erbte sein Bruder Ferdinand das Gut, der Arzt in Briesen war. Er war ein guter Arz7t, hatte aber kein Interesse an der Bewirtschaftung des Gutes und verpachtete Orle auf 20 Jahre an einen Herrn Wannow. Ferdinand hat in Berlin studiert und den Krieg 70/71 mitgemacht. Verheiratet war er mit der Schwester von Mathilde Wüst, Auguste, mit der er glücklich in Peterhoff lebte. Leider hatten auch sie keine Kinder.

       Meine Mutter Jenny und ihre Generation wissen noch aus dieser Zeit zu erzählen. Im Sommer und auch im Winter waren meine Mutter und andere junge Verwandte im gastlichen Peterhoff. Man fuhr und ging im Wald spazieren, man kegelte, sp0ielte Tennis oder das beliebte Crockett. Im Winter machte man Schlittenpartien, im Sommer war man schon so fortschrittlich, getrennt von den Männern in der Ossa zu baden. Die Ossa ist ein Flüsschen, das durch den Orler Wald fließt. Von Hause zog man mit pompösem Badezeug und einem Eimer zum Füße-Spülen zur Ossa. Das ist etwa eine halbe Stunde Weg durch den Wald. In einer aus Brettern gebauten Bude, der Badehütte, zog man sich um. Man tauchte ängstlich und lernte sogar etwas schwimmen. Nur die Sonne vermied man, damit der zarte Teint nicht litte. Die männliche Jugend badete im Salnoer See, in dem wir auch heute baden. Damals galt es als gefährlich und für Frauen unschicklich.

       Onkel Ferdinand liebte vor allem die Musik und hatte besonders gern, wenn Jugend um ihn war, die sang oder Instrumente spielte. Große Geselligkeiten, wie sie damals auf den Gütern üblich waren, liebte er nicht. Im Winter wurde viel gelesen, auch Dramen mit verteilten Rollen, und man rodelte. Damals lag ja noch viel Schnee, und die Verkehrsmöglichkeiten waren geringer. Tante Gustchen, Onkel Ferdinands Frau, war sehr fröhlich und verstand es besonders gut, mit der Jugend umzugehen. War irgendein kleiner Stre8it zwischen einer Nicht und der älteren Generation gewesen, so fand das Nichtchen abends als Trost an ihrem Bett etwas Brot, Zucker und Wein.

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