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die wussten ja Bescheid, die konnten bei Bedarf erzählen. Nein, das konnten sie dann eben nicht mehr. Her also mit dem, was uns blieb: dem Aufgeschriebenen.

      Könnte diese Reise uns näher an die eigene Vergangenheit führen? Können wir Mosaiksteinchen sammeln und uns so in die Lebensart unserer Vorfahren hineintasten?

      Könnte es eine Reise zu den Spannungspunkten zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden? Viele Fragezeichen, viele Konjunktive.

      Wir überlegten und fassten zusammen: Wir haben keine eigenen Erinnerungen. Keine Gefühle werden sich in das, was wir sehen, mischen. Das romantisierende oder gar wehmütige Lebensgefühl von „damals“ gibt es bei uns nicht. So sehen die Vorrausetzungen aus. Und wir sind zu Viert. Unser gemeinsames Auge hat vier Facetten.

      Jeder von uns ist zur Hälfte ostpreußisch.

      Um diese Hälften wird es jetzt gehen.

      2. Der Osten war immer weit weg - eine Annäherung

      Wir haben die erste Juliwoche zu fassen, grau, nass von Regen, kühl.

      Bei Hannover treffen sich unsere Wege aus verschiedenen Bereichen Deutschlands: Bremen, Köln, Jülich und Schlüchtern. Bahnsteige sind Treffpunkte, so auch für uns jetzt. Zwei kamen schon zusammen mit unserem Reise-Auto, zwei per Zug.

      Schon dieses Treffen ist irgendwie etwas Besonderes, oder nicht? Erwartungsvoll strahlen wir uns an. Packen dann die Reisetaschen in Holgers Auto und fahren los.

      „Ich hab‘ extra das ältere Auto vom Büro genommen, man weiß ja nie, wenn man so nach Osten fährt…“

      Wir vier. Tatsächlich. Die Brüder vorn, wir Schwestern hinten. Gucken uns an. Wie würde das hier werden?

      Seit 22 Jahren ist es möglich, nach Osten zu reisen, quer durch das gesamte, uns die ganze Schulzeit hindurch tot geschwiegene, Ostdeutschland und noch weiter. Eine Tante, die Cousine unseres Vaters mit ihrer Schwester und Nichte, war bereits mehrfach in Ostpreußen. Nein, schön sei das nicht gewesen, sie braucht jetzt nicht mehr hin, meinte sie. Vater selbst war nur einmal mit seinem entfernten Cousin losgefahren in die Erinnerung, aber nicht nach Ostpreußen, sondern „nur“ nach Westpreußen, dem jetzigen Polen, nicht weiter. Wir dagegen sind 22 Jahre lang nicht auf diese Idee gekommen. Aber jetzt.

      Noch liegt jedem von uns der eigene Alltag nah. Was werden die Schwägerinnen und Schwager zu Hause gerade tun? Denkt er daran Blumen zu gießen? Kocht sie sich ihren Lieblingstee? Sitzt sie mit einem Buch im Garten?

      Aber wir fahren nach vorn. Fahren in eine Zukunft - und gleichzeitig in die Vergangenheit. Beides unbekannt.

      In Polen verlassen wir die Autobahn. Erste kurze Kaffeepause machen wir in einem Seitenweg. Rostiger Müll liegt am Zaun zwischen hohen Brennnesseln. Ja, was haben wir denn erwartet? Auch bei uns im Westen gibt es Schandflecke. Holger hat die Karte auf der geschlossenen Heckklappe ausgebreitet, wir sind hier richtig, orientieren uns über die Weiterfahrt.

      Weiter geht es dann auf der Nr. 32. Die Straße ist gut befahrbar. Anscheinend wird erwartet, mit nicht zu hoher Geschwindigkeit zu rasen, denn sonst entgehen einem die wertvollen Informationen auf den riesigen Werbeplakaten, die wie eine überdimensionale Schilderallee den ansonsten mit keinen Blumen oder Grün belasteten Mittelstreifen zieren.

      Das flache Land ist unschön zersiedelt. Bau-Favoriten sind offenbar „Bumann-Haustypen“. So nennen wir die viereckigen Hausklötze, die monströsen, grauen Duplo-Steinen gleichen, uns aber an das würfelförmige Flachdachhaus „unserer“ einstigen Vermieterin und Mitbewohnerin Frau Bumann erinnern, in dem und dessen Garten wir die ersten Kindheitsjahre sorglos verspielten. Ein hässlicheres Zweifamilienhaus können wir uns kaum vorstellen, aber eine sorglosere Kindheit ebenso wenig.

      Übernachtungsplätze für Wohnmobile, nach denen ich nebenbei gewohnheitsmäßig Ausschau halte, gibt es nicht. Aber auch keine Wohnmobile. Wir sind in einem fernen Land. Abgesehen von den Bauversuchen hier ist es sommerlich üppig. Riesige Wiesenflächen und Kornfelder breiten sich in die Ebene, und in weiten, grünen Flussniederungen entdecken wir Störche. Die ersten bestaunen wir als Sensation, die weiteren, die vielen, schließlich unzählbaren als sommerlich landestypische Zutaten und herrliche Bereicherungen.

      Am späten Nachmittag sind wir in Posen. Die Pension, eine „Villa“, ist abseits gelegen in einer stillen Straße mit einer Reihe junger Birken auf dem Rasenstreifen zwischen Fahr- und Fußweg. Die Unterkunft macht einen noblen Eindruck. Draußen ist es trocken und warm. Die frische Luft tut gut nach dem langen Sitzen im Auto. Es gibt Tische und Sessel im Garten, den Versuch einer streng beschnittenen Naturpracht mit dunklen Nadelhölzern und einer Buchsbaumlaube.

      Hier atmen wir frische Luft der Fremde, es tut gut, sich draußen zusammen zu setzen. Erleichtert sind wir. Die erste, lange Strecke ist geschafft, der Alltag ferner gerückt. Noch merkwürdig ist diese Mischung aus alter und neuer Gemeinsamkeit. Lachen allerdings konnten wir immer gut zusammen. Ist das ein ostpreußisches Erbe? Im Laufe der nächsten Tage wird uns das immer deutlicher. So gelacht hat die Familie unseres Vaters, jedenfalls einige Verwandte, an die wir noch herzerwärmende Erinnerungen haben.

      Wir haben die Vergangenheit im Gepäck. Noch vor dem Abendessen, das eigens für uns gekocht wird, holen die Brüder die sorgfältig gebündelten Dokumente aus den Reisetaschen und breiten sie auf einem der Gartentische in der Laube aus: alte Messtischblätter, die Chroniken der väterlichen Groß- und Urgroßeltern.

      Vor Ostpreußen kommt für uns gemäß der Fahrtroute Westpreußen. Ohne die vielen Orte dort, an denen etliche Vorfahren gewirkt und gelebt hatten, gäbe es weder unsere Großeltern, noch das Rektor-Haus in Labiau als Großelternhaus.

      „Peterhoff“, so heißt das legendäre, ehemalige Familienschloss der Familie Chomse, auf dem die Jugend vor vielen Jahrzehnten ihre Sommer zu feiern pflegte. Und in der „Mühle Slupp“, wo unsere väterlich-großmütterliche Urgroßmutter geboren wurde, traf sich ebenfalls die Familie.

      Das sind Ziele des morgigen Tages. In den Köpfen seid ihr sortiert, ihr lieben Altvorderen. Was werden wir finden?

      3. Wo sie damals ihre Sommerträume feierten - Mühle Slupp, Schloss Peterhoff

       Das Mühlengut Slupp gehörte lange Zeit der Familie Goldnick. Nach dem Tode ihres ersten Mannes heiratete Therese Goldnick Wilhelm Rosenbaum. Dieser verkaufte es nach dem Tode seiner Frau Therese 1905.

       Unser Vater, Georg Leberecht Zimmermann, schrieb von seinem Besuch der Mühle Slupp anlässlich seiner Westpreußenreise im Sommer 1990 gemeinsam mit seinem entfernten Vetter Carl Wüst:

      „Wir hatten lange vergeblich nach der Mühle Slupp, - betrieben vom Wasser der Ossa -, gesucht. Sie ist das Elternhaus meiner Großmutter Wüst, geborene Goldnick. Nun erfuhren wir, dass das Gut Sallno dort mahlen lässt, die Frau nebst ihren beiden Töchtern fuhr mit uns hin. Der Müller war unfreundlich und erlaubte uns das Fotografieren nicht. Während des langen Palavers zwischen Carl und dem Müller habe ich aber unbemerkt einige Aufnahmen gemacht. Die Mühle arbeitet noch voll. Carl kennt diese Gegend sehr genau, da er hier in der Schlacht am Mellnosee in den allerersten Tagen des Polenfeldzuges als Bataillonsadjutant sehr aktiv mitwirkte.“

       Dr. Ernst Leberecht Wüst (der spätere Schuldirektor in Osterode, unser Urgroßvater) berichtet in seiner Chronik über seine heimliche Verlobung mit Martha Goldnick aus der Mühle Slupp. Im Sommer 1867 kam Therese Goldnick (geb. Schnackenburg) aus der Mühle Slupp nämlich mit ihrer 16 Jahre alten Tochter Martha nach Berlin, wo Ernst L. Wüst seit 1865 studierte. Er kannte Martha aus seinen früheren Sommerferien in Orle.

      „Ich war mehrere Tage der ständige Begleiter der beiden Damen, machte mit ihnen Besorgungen, führte sie zur Besichtigung von Sehenswürdigkeiten und eines Abends auch ins Königliche Opernhaus. Da war es, als wir beiden jungen Menschen während einer Ballett-Aufführung nebeneinander sitzend, uns bei der Hand fassten, um uns für alle Zukunft nicht

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