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Stacheln nach außen spreizten, bildeten ein schier unentwirrbares Knäuel. Mit langen Stricken war es auf der Ladefläche des Kleinlasters festgezurrt und neigte sich in den Kurven einmal zu dieser und dann wieder zu jener Straßenseite. Philipp drückte staunend die sommersprossige Nase an der Fensterscheibe platt, als der Bus das überladene Gefährt überholte. Es war eine fremde und faszinierende Welt, die da draußen an ihm vorbeizog. Halb verfallene Lehmbauten wechselten mit tristen Mietskasernen, dann ragte wieder das schlanke Minarett einer Moschee gen Himmel, oder das vornehme Haus eines Reichen versteckte sich hinter Palmen und Mauern. Rolf, der Reiseleiter, leierte monoton die Namen der Stadtviertel herunter, durch die sie gerade fuhren, erklärte, wie diese und jene Moschee hieß, oder benannte die Gärten und Paläste, die sie passierten. Alle zwei Wochen fuhr er mit einer neuen Busladung voll Touristen die ewig gleiche Runde, und man merkte, dass es ihn langweilte. Oma Weber hingegen fand Marrakesch aufregend.

      »Sieh nur Phips, der Eselskarren!«, rief sie, oder: »Schau mal, wie prachtvoll die Kuppel der Moschee ist!« Dann hob sie zum x-ten Mal ihre kleine Kamera ans Auge und drückte ab. Es war Oma Webers erste große Reise, denn bisher war sie noch nicht weit herumgekommen. Seit 25 Jahren fuhr sie mit schöner Regelmäßigkeit nach Kärnten und machte in der Pension Pichelmeyer am Ossiacher See 14 Tage Urlaub. Hätte sie nicht im Preisausschreiben gewonnen, wäre sie wohl auch heuer wieder an den Ossiacher See gefahren. Seit vielen Jahren machte Oma Weber nämlich so ziemlich bei jedem Preisausschreiben mit. Sie nahm an allen möglichen Lotterien teil, zog Lose und rubbelte angebliche Glücksnummern frei – nur hatte sie bislang so gut wie nie gewonnen. Höchstens mal einen Trostpreis: zwei giftgrüne Eierbecher aus Plastik, ein himmelblaues Staubtuch aus Baumwolle oder einen Kugelschreiber mit eingebauter Quarzuhr. Mine und Uhr hatten innerhalb weniger Tage den Geist aufgegeben, doch nun hatte sie wirklich und wahrhaftig einen der Hauptpreise gewonnen! Zuhause in Alsberg hatte ein neues Einkaufszentrum eröffnet und als besondere Attraktion ein Preisausschreiben veranstaltet. Natürlich hatte auch Oma Weber einen der bunten Teilnahmescheine ausgefüllt und die richtigen Antworten auf ein paar alberne Fragen angekreuzt. Als erster Preis war nämlich ein knallroter Kleinwagen ausgeschrieben, der dritte Preis sollte ein schicker Flachbildfernseher sein. Und weil an Omas altem Auto der Rost nagte, und auch der Fernseher erste Macken zeigte und mitunter streikte, hatte sie natürlich insgeheim mit dem ersten oder dem dritten Preis spekuliert. »Aber wie üblich gewinne ich ja ohnehin nichts«, hatte sie gesagt, als sie ihren Teilnahmeschein durch den Schlitz der bunten Pappbox geworfen hatte. »Und wenn ich ganz viel Glück habe, wird es der 4. bis 100. Preis: eine Schachtel Pralinen.« Doch dann hatte sie tatsächlich den zweiten Preis gewonnen: zwei Wochen Marokko für zwei Personen.

      »Ja was soll ich denn in Marokko? Da war ich ja noch nie!«, hatte Marianne Weber gerufen, als die Glücksbotschaft ins Haus geflattert war.

      »Dann ist es doch wirklich höchste Zeit, dass du mal was anderes siehst, als immer nur den Ossiacher See«, hatte Philipps Vater gesagt. »Reisen bildet!«

      »Aber es ist doch eine Reise für zwei Personen und ich bin alleine!«

      »Vielleicht lässt sich die Reise in die Osterferien legen, dann kannst du Phips mitnehmen!«, hatte Philipps Mutter vorgeschlagen.

      »Zwei Wochen lang in einem Reisebus sitzen? Womöglich noch mit lauter alten Zauseln? Nein, da bleibe ich lieber zu Hause und treffe mich mit meinen Freunden!« Reisen und Urlaub – das war für Philipp Baden in Italien oder Kroatien, Windsurfen in Holland oder Dänemark oder Skifahren irgendwo in den Bergen. Reisebusferien mit der Großmutter gehörten nun wirklich nicht dazu. Doch dann hatte er zusammen mit Oma Weber in Merian- und Geoheften geblättert, hatte sich die Fotos von Marokko angesehen, einen Beitrag über die Suqs, die Märkte von Marrakesch gelesen und schließlich gesagt: »Oma, wenn du möchtest, komme ich gerne mit!«

      Jetzt machte ihm die Reise Spaß. Nur Friedhelm Bartelmann, pensionierter Oberstudienrat, der unglücklicherweise im Bus genau hinter ihm saß, nervte. Nervte gewaltig. Da Herr Bartelmann keine Schüler mehr hatte, die er triezen konnte, hielt er sich an Philipp schadlos. Und wenn er nicht gerade mit seiner Videokamera durchs Busfenster filmte, ließ er keine Gelegenheit ungenutzt, den einzigen Schüler weit und breit dessen er habhaft werden konnte, dieses oder jenes abzufragen. Dann drehten sich die Mitreisenden gespannt um und warteten auf Philipps Antwort. Nicht etwa, dass sie selbst die richtige Antwort gewusst hätten. Aber von einem Gymnasiasten der 6. Klasse erwarteten sie wohl, dass er so etwas Ähnliches wie eine wandelnde Enzyklopädie wäre.

      »Philipp, wie heißen die höchsten Berge des Atlas Gebirges?«, wollte die pensionierte Nervensäge hinter ihm gerade wissen. Natürlich hatte Philipp gelesen, dass das Gebirge, an dessen Fuß Marrakesch lag, einige Gipfel mit über 4000 Metern Höhe aufzuweisen hatte. Dass es das höchste Gebirge Nordafrikas war, wusste er auch, aber die arabischen Namen der Berge hatte er sich nicht merken können. Glücklicherweise ging der Expauker inzwischen auch Oma Weber gewaltig auf den Geist:

      »Wenn Philipp, so wie Sie, gerade in den Reiseführer geguckt hätte, dann wüsste er es auch!« Die Mitreisenden lachten, Herr Bartelmann blickte verdattert drein, und Philipp hatte für eine ganze Weile Ruhe.

       ***

      »Pass auf Oma, wir verlieren den Anschluss an unsere Reisegruppe!« Ungeduldig zerrte Philipp seine Großmutter am Ärmel. Mustafa winkte mit einem zusammengefalteten, roten Regenschirm, damit sich seine Schutzbefohlenen im Gewimmel und Gewirr der Suqs an ihm orientieren konnten und nicht verloren gingen. Der Reiseleiter hatte Mustafa engagiert, als Dolmetscher und als Führer über den Markt und hatte sich dann im Bus zu einem Nickerchen ausgestreckt. Nun lotste sie Mustafa, der Student, der zu Turnschuhen, Bluejeans und Sweatshirt einen kunstvoll gewickelten Turban trug, durch verwinkelte Gässchen aus bunten Verkaufsständen, bahnte ihnen zwischen den Marktschreiern hindurch den Weg. Marianne Weber legte erschrocken die Lederbrieftasche, die sie gerade begutachtet hatte, auf den Verkaufsstand zurück. Philipp zog sie zwischen bärtigen Männern in langen Kaftanen und Frauen, deren dichter langer Schleier gerade mal die Augen freiließ, der Reisegruppe hinterher. Es war wie in einem Märchen aus ›Tausendundeine Nacht‹. Nur die bunt gekleideten Touristen, die sich, mit Videokameras und Fotoapparaten behängt, durch das Gewirr von Menschen und Waren drängelten, erinnerten daran, dass der Markt ein reales Geschehen und keine Fiktion war. Auch Friedhelm Bartelmann hatte aufgeschreckt seine Videokamera ausgeschaltet und sich an Philipps Fersen geheftet. Allerdings hätte Philipp nichts dagegen gehabt, wenn sich der lästige Abfrager auf Nimmerwiedersehen irgendwo im Gedränge zwischen den Kupfer- und Eisenschmieden oder bei den Ledergerbern und Teppichhändlern verlaufen hätte.

      Mustafa hob ein paar Mal seinen roten Regenschirm in die Höhe, so, als wolle er damit ein paar Löcher in den Himmel stochern. Als sein Häuflein Touristen sich um ihn versammelt hatte, erklärte er: »Wir kommen jetzt zum alten Sklavenmarkt. In den vergangenen Jahrhunderten wurden hier die schwarzen Sklaven versteigert.«

      »Wie barbarisch!«, entrüstete sich Philipps Großmutter!«

      »Jetzt haben sich hier die Gewürzhändler und Apotheker niedergelassen!«, fügte Mustafa hinzu. Das stimmte Oma Weber wieder milde. Sie befreite sich energisch aus Philipps Klammergriff und umrundete prüfend Säcke und Schalen mit exotisch duftenden Kräutern und Wurzeln, öffnete neugierig Fläschchen und Tiegel und schnüffelte an Mixturen. Laut Mustafas Übersetzung sollten sie gegen Magenleiden, Schlaflosigkeit, schlechte Träume, Appetitmangel und tausend andere Wehwehchen helfen.

      »Und was ist in dieser Flasche? Sie geht nicht auf?« Philipps Großmutter hatte aus einer Kiste eine staubige, mattblaue Flasche herausgewühlt und versuchte, den Pfropfen, der sie verschloss, zu lösen. »Ich suche nämlich ein Mittel gegen mein Rheuma im rechten Knie!«

      Mit ehrerbietigen Verbeugungen und einem Schwall arabischer Worte versuchte der alte Mann im gestreiften Kaftan, der bis jetzt auf einem Kissen vor der Ladentür gesessen hatte, die Gunst der Stunde zu nutzen.

      »Er weiß leider nicht, was in dieser Flasche ist«, übersetzte Mustafa, »aber er sagt, sie wäre schon sehr, sehr alt und deshalb auch sehr wertvoll!« Mit Händen und Füßen gestikulierend redete der Alte weiter.

      »Er sagt, er hätte sie im Haus seines Ururgroßvaters gefunden,

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