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Sie atmete tief durch, während ihre Augen über die Farbenpracht glitten. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf, allmählich wirkte das alles leicht verwirrend. Dann trat sie zurück, ließ sich auf die große Truhe sinken und vorgebeugt Kopf und Arme hängen. Als sie den Kopf nach einer mittleren Weile wieder hob, fühlte sie sich entspannt und verwundert; sie war noch immer allein im Laden. Müßig glitt ihr Blick durch den Raum. Heute war offenbar eine Wolllieferung gekommen, halbvolle Kisten und Stöße von Kartons standen herum. Edith oder Helen hatte mit dem Auspacken begonnen, war aber davon abgekommen. Olivia sprang auf, wenn niemand kam, musste sie nun doch noch feststellen, ob neue Farben dabei waren. Damit fertig, drehte sie sich um sich selbst, blieb wieder mit dem Blick an der lila Truhe hängen und gab der Laune nach, den Deckel zu heben. Erschrocken sprang sie zurück, mit einem lauten Knall fiel die Truhe zu. In dieser Sommerstille empfand Olivia den Lärm wie eine Welle, die an ihr vorbeibrandete, ehe sie sich verlief. ›So, wenn jetzt niemand kommt‹, stellte sie fest, ›dann stimmt hier was nicht!

       Es kam niemand. Entschlossen ging sie zur Truhe zurück und hob mit einem energischen Ruck den Deckel. Er ließ sich fixieren, so. Sie schaute hinunter und sah immer noch, was sie nicht glauben wollte: da lag eine große, tote Katze, eher ein Kater. Das Tier kam ihr riesig vor. Nach kurzem Überlegen ging Olivia als erstes zur Ladentür, schob die beiden Riegel vor, zog den unteren wieder auf und stellte fest, dass sie fröstelte. Sie drehte das Schild in der Tür auf ›Geschlossen‹. So. Sie schob den oberen Riegel noch einmal hin und her, er rutschte einwandfrei – man sollte sich niemals seinen Fluchtweg versperren. Warum aber überhaupt den Laden schließen? Eine weitere Kundin würde die Stille endlich unterbrechen… aber nicht mit der toten Katze… was spielte das für eine Rolle? Olivia blieb auf halbem Weg durch den Laden stehen. ›Ich drücke mich gerade davor, dieser unverständlichen Stille endlich auf den Grund zu gehen‹, gab sie sich zu, ›das geht so nicht, los!‹

       Sie durchschritt die Tür zwischen Laden und Privaträumen, die sie vor Längerem offen gelassen hatte und stand im Treppenhaus, hier war es noch dunkler als im Laden, aber hinter dem Treppenhaus standen zwei Zimmertüren offen. Sie ging durch die gleich links liegende und stand in einer Art Arbeitszimmer, wie sie auf Grund des ausladenden Schreibtisches schloss. Der Raum war leer, die Tür zum Garten stand offen. Olivia rief nach Edith Munroe, bekam aber keine Antwort. Sie zog sich zurück, atmete tief durch und ging zur Tür am Ende des Flurs. Dahinter war die Küche, ebenfalls leer, und auch hier stand die Tür zum Garten offen. Und wieder keine Antwort auf ihren Ruf. Eine Küche war nicht ganz so privat wie ein Arbeitszimmer, fand sie; sie ging entschlossen hinein, auf die breite Tür zum Garten zu. Beide Flügel standen offen, Sommerduft strömte herein. Abrupt stürzte die Wahrnehmung der Schönheit in sich zusammen. Am Boden sah Olivia einen Kopf. Mit wenigen Schritten war sie um die Glastür herum, stieß den Weidensessel aus dem Weg und beugte sich über Edith Munroe. Sie war tot. Sie war so zweifelsfrei tot, dass man sie nicht einmal mehr anzufassen brauchte. Trotzdem sprang Olivia sofort auf, sauste zu ihrer Tasche im Laden, zog das Handy heraus und rief den Notarzt an. Er würde umgehend kommen. Auf das Klicken im Handy hin ließ sie den Arm sinken, ihr Blick glitt über die Stoffe und Knäule, die sie zusammengetragen hatte. Diese ganze Zeit über hatte Edith Munroe dort hinten gelegen. Vielleicht hätte sie sie retten können, wenn sie nicht so verdammt diskret gewesen wäre. Ein offener Laden ohne einen einzigen Menschen, der sich um ihn kümmert, war eigentlich unnatürlich genug, um Diskretion, zumindest nach einer Weile, zweitrangig werden zu lassen.

       Sie schaute noch einmal auf die riesige rotbraune Katze hinunter und klappte den Truhendeckel zu. Mechanisch hob sie den Schal auf, der daneben lag, faltete ihn zusammen und hängte ihn über die Sofalehne. Nachdenklich ging sie in die Küche zurück und sah sich um. Öl und Essig standen auf dem Küchentisch, eine Trockentrommel für Salat, offen, nass innen mit Resten von Blättern, wahrscheinlich Feldsalat, ein Brett und Messer, ein Zweig Petersilie, ein Radicchio-Strunk, ein Laib Brot, von dem nur wenig fehlte. Sie ging hinaus und musterte den kleinen Esstisch. Hier hatten zwei Personen ihren Lunch eingenommen: zwei Gedecke, Kaffeebecher und Gläser, eine Flasche Granatapfelsaft und eine Karaffe mit Wasser, die fast leere Salatschale, ein schwitzendes Stück Käse und ein offenes Glas mit Chutney. Sie fühlte das Handy zwischen den Fingern und fast automatisch wählte sie Richards Nummer. Zum Glück hatte ihr alter Freund, der inzwischen Chief Inspector in der Mordabteilung von Scotland Yard war, erst in der zweiten Augusthälfte seinen Sommerfamilienurlaub. Er meldete sich sofort.

       »Richard, hast du ganz kurz Zeit? – Danke«, sie gestattete sich einen erleichterten Seufzer. »Richard, ich stehe hier in meinem Wollladen in Chelsea zwischen der Leiche der Besitzerin und einer toten Katze. Ich glaube nicht, dass das alles mit rechten Dingen zugegangen ist.«

       »Klingt zumindest überraschend. Wie heißt der Laden?«

       »›Cat’s Rest.‹«

       »Soll das ein Scherz sein?«

       »Die tote Katze in der Truhe ist absurd! Zugegeben. Hör ganz kurz zu, bitte.« Sie schilderte ihm den äußeren Ablauf der letzten anderthalb Stunden, und beobachtete, wie die anhaltende Stille das eigentliche Ereignis wurde.

       »Der Notarzt muss jeden Moment kommen«, schloss sie.

       »Dann lass ihn seine Arbeit tun und bitte ihn, mich anzurufen, bevor er geht. Bis dahin mache ich hier meine Schreibtischarbeit weiter, in Ordnung?«

       »In Ordnung, und danke.« Langsam ging Olivia zurück in den Laden und entriegelte die Tür, das Schild ließ sie unverändert hängen. Vor sich sah sie die Seite mit der einladenden Aufforderung, bitte einzutreten, eine reizende graue Katze sah den Betrachter an. Auf der anderen Seite des Schildes schlief die Katze, ›Geschlossen, tut mir leid‹, entschuldigte sie der Text neben ihr. Alles in diesem Laden war so freundlich. Wer hatte das mit der scheußlichen braunen langhaarigen toten Katze zerstört? Und warum? Und warum war Edith Munroe tot? Hatte die tote Katze sie zu Tode erschreckt? War sie zwischen den Kartons der neuen Lieferung hindurch davon gestürzt an die frische Luft und dort zusammengebrochen? Und wo war Helen? Die Antwort auf alle Fragen war die bewegungslose Stille dieses heißen Augusttages.

       Eine Sirene näherte sich. Es war das erste Mal, dass dieser Ton Olivia erleichterte. Der Ton verstummte, sorgfältig wurde der Krankenwagen in die enge Gasse gesteuert. Da sprang schon ein Mann mit einer Tasche heraus und kam zu ihr gelaufen. Mit beiderseits knappen Begrüßungsfloskeln eilten sie zu der Toten. Zum zweiten Mal in ihrem Leben schaute Olivia zu, wie der Tod eines Menschen festgestellt wurde. In diesem Fall waren nur wenige Handgriffe nötig, dann richtete der Arzt sich wieder auf. »Hier kommt leider jede Hilfe zu spät. Ist die Tote eine Verwandte von Ihnen?«

       Olivia erklärte die Situation. »Wie lange ist sie schon tot, Doktor?«

       »Zwischen zwei und vier Stunden, eher kürzer als länger.« Er hockte sich wieder hin. »Sehen Sie, die Leichenstarre um die Augen hat schon eingesetzt, den Kiefer könnte ich noch ganz schließen. Es ist sehr warm, dann beginnt der Erstarrungsprozess schneller, andererseits liegt die Tote auf Kacheln im Schatten…« er stand wieder auf und sah Olivia wie abwartend an.

       »Doktor, ich habe einen befreundeten Inspektor beim Yard, würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz mit ihm zu sprechen?«

       »Nein, natürlich nicht. Von einem neuen Notfall wird mein Kollege draußen mich verständigen, bis dahin habe ich Zeit.«

       Olivia sah in den Garten hinaus, während sie den Gesprächsteilen in ihrem Rücken zuhörte. »Chief Inspector Bates, hier Doktor Mortimer vom Royal Brompton Hospital. …Ja, ich stehe hier neben der Leiche einer etwa sechzigjährigen Frau… vermutlich Herzversagen, sicher sagen kann ich es nicht… nein, Mrs Lawrence erwähnte, dass die Tote mit zu niedrigem Blutdruck kämpfte, ich sehe eine fast leere Flasche Granatapfelsaft, keinen Alkohol… wenn Sie mich so direkt fragen: in den meisten Fällen finde ich Herztote in ihrem Sitzmöbel, sie fühlen sich schwach, lehnen sich eher zurück und sacken dann weg. Diese Frau ist aufgestanden, sie hat eine Hand am Kleidausschnitt, als fehle ihr Luft… ich kenne ihr Krankheitsbild nicht, das kann alles ganz natürlich so abgelaufen sein, aber ich weiß es nicht aus meinem minimalen Kenntnisstand heraus… ja, selbstverständlich, Chief Inspector, ich gebe das weiter. Und, Chief Inspector, ich schließe der Toten die Augen und den Mund, noch geht das, mehr Veränderungen nehme ich nicht vor.«

      

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