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heißt du?“, fragte Ben. „Stefan.“ Dann hielt Ben das Mikrofon vor seinen Mund und sagte zu allen im Bus: „Hier vorne, das ist Stefan. Er hat erzählt, dass er in einer Dokumentation erfahren hat, dass viele Israelis nach ihrer Militärzeit …“. Und so erzählte Ben bis kurz vor ihrer Ankunft in Caesarea über die Bedeutung des Militärs für Israel. Besonders eindrücklich erschienen Max zwei von Bens Aussagen: (1) „Würde das israelische Militär einen Tag nicht in Alarmbereitschaft sein, würden die Nachbarn sofort einmarschieren und der Staat Israel, wie er nach dem zweiten Weltkrieg gegründet worden sei, wäre Geschichte.“ (2) „Die meisten Israelis hören oder schauen alle halbe Stunde Nachrichten, um sich zu vergewissern, ob es neue Angriffe gegen Israel gibt.“

      Von der antiken Stadt Caesarea waren viele Überreste erhalten geblieben, was sie zu einem Mekka für Altertumsforscher, für Latein- und Geschichtslehrer und für die Touristengruppen machte, die mehr von Israel mitbekommen wollten als das, was ihnen in ihren Heimatländern zugetragen wurde.

      Zunächst führte Ben die Reisegruppe zum römischen Theater von Caesarea. Da das Gelände mit den Relikten der Stadt überschaubar war, bestand keine Notwendigkeit, dass Max und Stefan als Schlusslichter das Ende der Gruppe markierten. Jetzt nahmen sie Ben in ihre Mitte und liefen mit ihm vornweg. Mit wenig Abstand folgten Maria und Mathilde. Andreas und Inge ließen sich ans Ende zurückfallen.

      Als ihnen Ben Einzelheiten zu Caesarea und dessen römischem Theater erläuterte, erinnerte sich Stefan an den Geschichtsunterricht bei Frau Allekotte. Bei deren historischen Ausführungen über die verschiedenen Epochen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert konnte er seine Gedanken schweifen lassen. Sein Herz und Kopf waren frei, um Laetitia, die in der ersten Reihe im Klassenzimmer vor ihm saß, zu bewundern und sich auszumalen, wie es sein würde, mit ihr zusammen ins Kino zu gehen. Jetzt im römischen Theater von Caesarea mit der restlichen Reisegruppe im Halbkreis um Ben stehend, tagträumte Stefan, während er Mathildes Profil bestaunte, wie es wäre, würde er mit ihr allein durchs Heilige Land reisen.

      „Jetzt habt ihr das Wesentliche über die Stadt Caesarea gehört“, sagte Ben abschließend, was Stefan aus seinem Tagtraum aufweckte, und fuhr fort: „Lauft doch nun eigenständig durch die antike Stadt und überlegt euch, was für ein Leben vor 2500, vor 2000 Jahren hier geherrscht hat, wie die Menschen aussahen, welchen Tätigkeiten sie nachgingen, welche religiösen Vorstellungen sie hatten, wie sie Schiffe an ihrem Hafen empfingen und verabschiedeten und so weiter. Viel Spaß! Wir treffen uns gegen elf Uhr wieder am Bus. Wie gesagt, wenn ihr ein kaltes Getränk kaufen möchtet, Tobias hat genügend Vorräte dabei.“

      Stefan und Max marschierten los, besichtigten den Stein, in dem der Name von „Pontius Pilatus“ eingemeißelt war, erkundeten das Ergebnis der technischen Finesse, mit der die Bewohner einen Aquädukt gebaut hatten – Vorläufer der Wissenschaftler und Bauern, die mit der Tröpfchenmethode die Bewässerung in Israel revolutionierten – und schlenderten auf dem Platz, auf dem früher Pferde- und Wagenrennen veranstaltet wurden. Am Rande des Hippodroms, zur Landseite hin, kletterten Stefan und Max auf Steinen, die Stefan an das Felsenmeer im Lautertal im Odenwald erinnerte. Einen Moment nicht aufgepasst und Stefan rutschte ab, konnte sich mit der rechten Hand glücklicherweise noch abfangen, aber da das Körpergewicht mit einem Mal auf der Hand lastete, gab ihre Haut am Hauptbelastungspunkt nach und öffnete sich. Blut floss. Mit einem Tempotaschentuch, das Stefan auf die Wunde drückte, konnte die Blutung gestoppt werden. Der kleine Ausrutscher machte ihm klar, trotz der Schönheiten Israels und der angenehmen Reisegruppe nicht zu vergessen, dass Israel – wie jedes andere Land – von kleinen bis großen Gefahren alles zu bieten hatte.

      Den Highway 2 nach Norden nehmend steuerte Tobias die Reisegruppe bis Haifa, wo es durch einen langen Tunnel hindurchging, bis er auf die Route 4 bog und auf ihr zur Kreuzritterstadt Akko weiterfuhr.

      Da Ben damit beschäftigt war, letzte Vereinbarungen per Telefon für die nächsten Stationen ihrer Tagestour bis zu deren Ende im Kibbuz am See Genezareth zu treffen, Max ein Nickerchen machte, Andreas und Inge ihren Lieben zu Hause in Münster erste Fotos sandten und das Karmelgebirge, das sie passierten, wenig aufregend war, hatte Stefan Zeit, zwei Reihen nach hinten zu hören, was sich Maria und Mathilde zu sagen hatten.

      Die Wortfetzen, die er aufschnappte, reichten nicht aus, um sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Sie ließen aber den Schluss zu, dass der Gegenstand, über den sie sich gerade unterhielten, nicht konfliktfrei war. Das wunderte Stefan. Jetzt waren sie erst den zweiten Tag in Israel und schon kam es auf diesem heiligen Boden zwischen Maria und Mathilde zu Unstimmigkeiten. Doch vielleicht schuf gerade die friedliche Umgebung dieser Landschaft Raum, dass Dinge zur Sprache kommen konnten, die ansonsten ungesagt oder zu wenig gründlich gesagt blieben. Gefördert wurde es durch den künstlichen Umstand, dass sich die Gruppenreisenden in dieser einen Woche wie Kinder fühlen konnten. Denn Ben und Tobias kümmerten sich wie Eltern um die Sicherheit, das leibliche wie seelische Wohl sowie das Reiseprogramm. Sie gingen auf die individuellen Ansprüche ein, die sich aber im Rahmen hielten, da alle Teilnehmer, so unterschiedlich sie auch waren, Anteil an der Schnittmenge gesunden Menschenverstands besaßen.

      Wie eine unbekümmerte äußere Atmosphäre es begünstigt, Innerem den Weg zu ebnen, sich auszudrücken, hatte Stefan bei Schweigeexerzitien in einem Kloster am Bodensee erlebt. Bereits am zweiten Tag stand das präsent auf der Bühne, was im Alltag hinter den Kulissen spielte.

      Dass etwas, was angeschaut werden will, gerade dabei war, die gemeinsame Bühne von Maria und Mathilde zu betreten, verstand Stefan, auch wenn er die Worte nicht hörte. Es schien, als müsse Maria mit Druck jedes einzelne Wort nach draußen schieben. Die Worte flossen nicht, sie wurden gepresst. Stefan fragte sich, was es war, das die Worte und Gefühle von Maria so blockierte. Mathilde war der passivere Part in der Unterhaltung. Ihre wenigen Worte genügten allerdings, dem Gespräch eine Richtung zu geben, die Maria in die Enge trieb, mehr Kraft und Lautstärke aufwenden zu müssen, um sich Gehör zu verschaffen.

      Mitten in Akko konnte Tobias den Bus abstellen und die Gruppe aussteigen lassen. Die meisten nahmen Bens Angebot an und folgten ihm zu dem wenige Gehminuten entfernten Restaurant, in dem bereits fünf Tische zu einer großen Tafel zusammengeschoben waren. Um ihn herum fanden alle 15 Personen Platz. 1-Liter-Plastikflaschen und Gläser mit einer Zitronenscheibe waren für die Gäste auf einem rot-weiß-karierten Tischtuch bereitgestellt. Zu einem Pauschalpreis von 80 Schekel wurden typische Speisen der palästinensischen Küche serviert: Verschiedene gekochte und ungekochte Salate, Pasta-Fingerfood, Auberginen-Paste, Fladenbrot, in das wahlweise Lammfleisch oder Falafel gefüllt werden konnte, und zum Dessert Wassermelone, Pflaumen und Pfirsiche.

      Stefan wurde überrascht, wie ihn dieses gemeinsame Essen zu rühren begann. Das letzte Mal, als er an einer so großen Tafel mit anderen gegessen hatte, war bei seiner Hochzeit im Schwarzen Stern am Frankfurter Römer vor knapp zehn Jahren.

      Erst heute Morgen hatte er erfahren, dass die anderen, die hier zusammen am Tisch saßen, mit ihm durchs Heilige Land reisen würden. Bis auf seinen Bruder waren ihm alle fremd. Und schon jetzt, vorbereitet durch die Besichtigungen in Jaffa, Tel Aviv und Caesarea und die gemeinsame Busfahrt, spürte er eine Zusammengehörigkeit.

      Wenn die Teilnehmer einer Gruppenreise nicht zusammenpassen, kann dasselbe Mittagessen in Akko zu einer lästigen Pflicht werden. Doch obgleich niemand auf die Zusammensetzung der Reisegruppe Einfluss genommen hatte, verband sie etwas, dass sie gut miteinander reisen ließ.

      Gegenüber von Max und Stefan saß eine Familie aus Kaiserslautern. Die Eltern, Hendrik und Maike, waren eine Idee älter als Max und Stefan. Deren Sohn Lennard hatte im vergangenen März seinen 15. Geburtstag gefeiert. Wie sich bei der Unterhaltung während des Mittagessens herausstellte, arbeitete Hendrik in der Entwicklungsabteilung eines Automobilzulieferers und Maike, die Englisch und Französisch studiert hatte, war bei einem Dolmetscherbüro angestellt. Lennard ging in die neunte Klasse. Hendrik und Maike hatten ihm zu seiner Konfirmation im Mai diese Reise geschenkt.

      Es fiel den meisten schwer, von dieser überdachten Terrasse, die im Schatten eines alten Steinhauses lag, in das grelle Mittagslicht aufzubrechen. Der Zeitplan ließ aber wenig Spiel. Sie mussten gehen, auch wenn Ben dieses ‚Muss‘ annehmbar verkleidete: „Wir werden gleich einen ‚verzauberten Garten‘

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