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hergestellt. Inwieweit sich dieser künstliche Eingriff in die Natur langfristig auf die Gesundheit von Menschen und Tieren auswirkte, konnte noch nicht gesagt werden. Doch da es momentan keine Alternative gab, musste das Risiko, das Wasser aus den Entsalzungsanlagen zu nutzen und zu konsumieren, eingegangen werden, kaufte man nicht Trinkwasser aus dem Ausland in Lebensmittelläden.

      Die Strandpromenade war ein Traum. Das Licht der Lampen reflektierte in dem anbrandenden Meer, Frauen joggten paarweise und leichtfüßig, in einer Strandbar schaute eine Gruppe Männer ein Fußballspiel und trank bunte Cocktails – Weite, Freiheit und Sorglosigkeit bestimmte die Szenerie. Stefan und Max unterhielten sich über das, was sie sahen, über ihre bisherigen Eindrücke und spekulierten darüber, wie ihre Reise im Weiteren verlaufen würde.

      Auf dem Weg

      Hotelfrühstück – Begrüßung durch den Reiseführer – Altstadtbesichtigung in Jaffa – Caesarea – Mittagessen in Akko – Abendstimmung in Haifa – Kibbuz am See Genezareth

      Stefan und Max wachten so früh auf, dass sie vor Beginn des Frühstücks erneut zum Strand von Tel Aviv spazierten. Da sie die letzte Nacht ihrer Rundreise in Jerusalem verbringen und von dort direkt zum Flughafen gefahren werden würden, war es für sie die letzte Möglichkeit, unabhängig von der Reisegruppe in Tel Aviv unterwegs zu sein. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Horizont.

      Gegen 7 Uhr betraten die beiden den Speisesaal, in dem sich einige der bekannten Gesichter vom Vortag in einer Schlange vor dem Kaffeeautomaten drängten. Normalerweise standen zwei Kaffeeautomaten zur Verfügung. Da einer davon defekt war und der andere wegen Überlastung auch nur noch in verminderter Geschwindigkeit die vier verschiedenen Kaffeevariationen brühte, wurde die Reihe vor ihm länger und länger. Max und Stefan entschieden sich, sich antizyklisch zu verhalten. Sie gingen zu dem Tisch, auf dem unterschiedliche Müslisorten, Kuh-, Hafer- und Sojamilch, Joghurt, Kefir, getrocknete Früchte und Nüsse standen. Schnell noch einen Esslöffel genommen und beide näherten sich einem der runden Gruppentische, an dem ein Ehepaar Platz genommen hatte, das aus Münster stammte.

      Andreas und Inge, wie sich die beiden mit Vornamen vorstellten, erzählten offen von sich und hielten auch nicht hinterm Berg damit, welche ersten gesundheitlichen Befindlichkeiten das ungewohnte Klima und Essen bei ihnen bewirkten. Stefan freute sich, dass Max zwischen ihm und Andreas saß. So brauchte er sich nicht aktiv am Gespräch zu beteiligen und konnte Personen beobachten, die er zunächst interessanter fand.

      Stefan waren zwei Frauen aufgefallen. Vom Alter und Aussehen zu schließen, vermutete er, es seien Mutter und Tochter. Die Mutter, sie hieß Maria, hatte lockiges, kinnlanges Haar, dessen Pony durch einen schwarzen Haarreif im Haupthaar verschwand, und ein ebenmäßiges Gesicht. Die blonden Haare der Tochter – Mathilde – waren, wie es zu dieser Zeit Mode war, in einem Dutt, der direkt auf der Oberseite des Kopfes mit einem Haargummi befestigt war, zusammengebunden. Offen reichten sie ungefähr bis zur Mitte ihrer Wirbelsäule. Das ebenmäßige Gesicht hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Aufgrund ihrer Jugend – Stefan glaubte, sie sei um die 30 Jahre alt – fielen noch mehr Blicke auf sie. Aus der Fülle an Reizen, die sich vervielfachte, als sich Mathilde und Stefan kurz in die Augen schauten, hob sich unter anderem die glatte und leicht gebräunte Haut Mathildes ab.

      Stefan beobachtete, wie sich Mathilde ans Ende der Reihe vor dem Kaffeeautomaten anstellte. Eine der beiden Frauen, die kurz darauf hinter ihr warteten, verband die zwei losen Bänder in der Mitte des Schlitzes des Rückenteils von Mathildes ärmelloser, lindgrüner Bluse – der zuvor ungewollt eine große, freie, ovale Fläche ihres Rückens offengelegt hatte – wieder zu einer Schlaufe zusammen.

      Mathilde drehte sich irritiert um, als sie bemerkte, dass jemand sich an den Bändern am Rückenteil ihrer Bluse zu schaffen machte. Sie blickte erleichtert, als sie sah, dass es eine Frau war, die sich darum sorgte, dass alles seine Ordnung hatte.

      Maria, die ihren 57. Geburtstag in drei Monaten feiern sollte, leitete seit dem Ende ihres Musikstudiums die Musikschule einer Kleinstadt in der Nähe von Paderborn, beinahe 33 Jahre lang. Ihre Persönlichkeit passte zu diesem Posten. Sie war kämpferisch und konnte dadurch den Etat der Musikschule, der größtenteils von der Stadtverwaltung getragen wurde, schrittweise erhöhen. Und auch die Zahl der Musikschüler wuchs, bis auf eine kurze Phase ihrer Tätigkeit, kontinuierlich. Sie begann mit 300 Schülern, inzwischen waren es über 700 geworden. Die Kehrseite ihres extrovertierten Charakters, genauer, die Kehrseiten, bekam ihr Mann Richard zu spüren.

      Es ist ja das Besondere, dass manche Frauen, die in allen anderen verwandtschaftlichen Bezügen, Freund- und Bekanntschaften, großherzig, verständnis- und liebevoll, nicht nachtragend und geduldig sein können, ihren Ehemann oder Partner auf Herz und Nieren prüfen und achtgeben, dass sie ihm nur dosiert Annehmlichkeiten schenken. Am Anfang prüfen sie ihn, weil sie wissen möchten, ob er stressresistent genug ist, um ein treuer Gefährte, ein guter Ernährer und Familienvater zu sein. In der Mitte der Ehe prüfen sie ihn, weil sie sich vergewissern möchten, ob er treu und loyal zu ihnen und ihren Kindern steht. Und am Ende der Ehe prüfen sie ihn, um zu erfahren, ob sie während der Ehe nicht doch etwas übersehen haben.

      Richard, ebenfalls Pianist wie Maria, liebte sie seit dem Studium. Ihre Beziehung war von Höhen und Tälern bestimmt. In den Tälern dachte Maria zunehmend an Scheidung. Als sie eines morgens neben Richard aufwachte, ihn ansah, wollte sie sich scheiden lassen. Doch etwas hielt sie von diesem Schritt zurück. Stattdessen zog sie für einige Jahre in ein anderes Haus, ehe sie wieder zu Richard zurückkehrte.

      Diese Trennungszeit belastete Mathilde. Sie ließ es sich nicht anmerken, überspielte es. Mathilde fühlte sich zu ihrem Vater hingezogener, obgleich sie die Zuverlässigkeit ihrer Mutter schätzte, was keine ausgesprochene Fähigkeit ihres Vaters war. Sie besuchte Richard zu allen sich ergebenden Gelegenheiten. Bei ihm zuhause stand ihre Harfe. So war es ein Einfaches, ihren Vater täglich zu besuchen. Sie musste ja Harfe üben. Beim Harfespielen vergaß sie ihre Traurigkeit, dass ihre Mutter und ihr Vater nicht mehr zusammenwohnten. Als das ältere Geschwister fühlte sie sich verpflichtet, alles dafür zu tun, dass Maria wieder zu Richard zog. Da es ihr vorerst nicht gelang, konzentrierte sie sich aufs Harfenspiel. Als Maria wieder zu Richard gezogen war, hörte Mathildes übermäßiger Einsatz für die Musik nicht auf. Denn ihre Sorge, die Eltern würden sich erneut trennen, wurde nicht still.

      Nach ihrem Abitur erhielt Mathilde einen Studienplatz an der ‚Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin‘. Im Anschluss daran spielte sie in verschiedenen Orchestern als Honorarkraft, bis sie sich gegenüber 130 Mitbewerberinnen durchsetzte und Soloharfenistin der Berliner Philharmoniker wurde. Nach dem Probejahr, das vor zwei Monaten geendet hatte, erlitt sie einen Zusammenbruch. Die vielen Jahre der Anspannung, in denen ihr Körper durchgehalten hatte, ballten sich in einem gutartigen Tumor an der Niere. Er konnte komplett entfernt werden. Doch der Schreck saß tief, wenn auch nicht so tief wie die Sorge um eine mögliche, erneute Trennung, ja vielleicht sogar Scheidung ihrer Eltern. Diese Sorge war aktiv und beeinflusste Tag um Tag ihr Leben, ihre Entscheidungen, ihre Freuden und ihre Traurigkeiten. Diese seelische Geschwulst war bösartig, streute ihr Gift in sämtliche, gesunde Bereiche, sich immer weiter ausdehnend, so dass es immer schwieriger wurde, sich mit der Musik zu beruhigen.

      Wie Stefan und Max waren Maria und Mathilde noch nie allein miteinander verreist. Da Maria die Gabe hatte, spontan zu sein, und das Gefühl und später den Gedanken nicht verlor, sie habe etwas mit Mathildes Zusammenbruch zu tun, lud sie Mathilde auf diese Israelreise ein. Mathilde wunderte sich, weshalb das Reiseziel ‚Israel‘ sein solle. Sie waren zwar beide katholisch getauft, ansonsten hatten sie mit der Kirche und dem Glauben nicht viel am Hut. Weshalb also ‚Israel‘? Auf Mathildes Frage, warum es ‚Israel‘ sein solle, Mallorca, Tunesien, Griechenland oder Italien seien doch auch schön und schneller zu erreichen, hob Maria die Schultern und sagte: „Keine Ahnung. Als ich vorgestern Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, war mir klar, wir zwei müssen nach Israel reisen.“

      Mathilde wusste nicht, wie ihr geschah. Aber sie war offen, nach ihrem Zusammenbruch noch offener, weil auch sie mutmaßte, dass sie nicht von ungefähr krank geworden war. Zudem war sie neugierig, wie es sein würde, allein mit ihrer Mutter zu verreisen.

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