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Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
Читать онлайн.Название Traum oder wahres Leben
Год выпуска 0
isbn 9783738079319
Автор произведения Joachim R. Steudel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sarah spürte eine gewisse Hilflosigkeit und Trauer in seinen Worten. Sie legte ihre Hand auf seine auf dem Schaltknüppel ruhende Rechte und erschrak über die große Niedergeschlagenheit, die den sonst so stark erscheinenden Mann ergriffen hatte. Wie immer, wenn sie sich berührten, schien er alle Gefühle mit ihr zu teilen.
»Aber wie ist das möglich? Hast du seit dieser Zeit in China, also ...«, sie rechnete kurz nach, »über dreihundert Jahre gelebt?«, fügte sie stockend hinzu.
Günter stöhnte leise auf.
»Habe ich wirklich gelebt? Lebe ich überhaupt, oder träume ich nur?«
Er entzog ihr seine Hand und legte sie mit aufs Lenkrad. Als er sie dabei kurz anblickte, konnte Sarah einen feuchten Schimmer in seinen Augen sehen.
»Manchmal weiß ich selbst nicht, wer oder was ich bin. Wandelt vielleicht meine Seele, nach dem doch geglückten Selbstmord, nur ruhelos durch die Zeit und manifestiert sich ab und zu in einem anderen Körper?« Er schluckte, weil seine Stimme zu brechen begann. »Es gibt Momente, da denke ich das, denn alles andere erscheint mir noch unmöglicher zu sein. Andererseits habe ich Erinnerungen an ein ungeheuer langes Leben. So detailliert, dass es unmöglich erscheint, es nicht gelebt zu haben. Ich kann mich an ein Leben als Günter Kaufmann mit Firma und Familie erinnern. An ein Leben als Gü Man in China, als Ishikawa Yoshio in Japan, als Karim bin Azmi bin Halim Al-Kismetbahr in Ägypten und noch viele andere. Und die ältesten Erinnerungen sind genauso stark wie die jüngsten. Nichts scheint verloren zu gehen.«
Sarah wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, denn sie versuchte immer noch zu erfassen, was sie gerade erfuhr. Es dauerte lange, bis Günter weitersprach.
»Noch nie hatte ich das Gefühl, der Lösung all dieser Fragen auf die Spur zu kommen. Erst heute Morgen, als ich dich beim Tai-Chi sah und dann mit dir am Frühstückstisch sprach, erschien ein kleiner Lichtblick. Auch deshalb bist du der erste Mensch, der so viel über mich erfährt, und wenn du mich jetzt für schizophren hältst, kann ich dir das nicht verübeln.«
Ohne zu zögern, erwiderte Sarah:
»Ich halte dich nicht für geisteskrank! Auch ich denke mittlerweile, dass unsere Schicksale irgendwie miteinander verknüpft sind, dennoch verstehe ich vieles nicht.«
Sarah lehnte sich mit nach innen gekehrtem Blick zurück.
»Wie konntest du zum Beispiel mit Günter Kaufmann von Ägypten aus in Kontakt treten, ohne dass er merkte, dass du er bist?« Sie schüttelte sich. »So was würde mich aus der Bahn werfen.«
»Ich bin niemals persönlich mit ihm in Kontakt getreten. Immer nur über Mittelsmänner und andere Firmen, an denen ich beteiligt bin. Außerdem war ich in dieser Zeit nicht immer in Ägypten. Ich habe auch mit anderen Identitäten von anderen Ländern aus sein Projekt gefördert.«
»Hattest du nicht Angst davor, in die Geschichte einzugreifen?«, fragte Sarah stirnrunzelnd.
»Ich habe den Lauf der Entwicklung nicht verändert. Als ich aus der Ferne mein altes Leben beobachtet habe, ist mir aufgefallen, dass ich mich ohne einen Schub von außen niemals in diese Richtung entwickelt hätte. Als ich dann darüber nachdachte und Vergleiche zog, erkannte ich, dass nur ich es gewesen sein konnte, der diese Entwicklung ausgelöst hat.«
»Du hast dich also selbst zu dem gemacht, der du als Firmenchef warst? Du hast dein eigenes Schicksal ausgelöst, ohne es ändern zu wollen?«
Ungläubig ruhte ihr Blick auf ihm, und Günter brauchte eine Weile, bis er antworten konnte.
»Irgendwie schon, doch machen wir uns nicht alle selbst zu dem, was wir sind? Sind es nicht unsere Entscheidungen, die den Lebensweg maßgeblich bestimmen? Sicher gibt es äußere Einflüsse, das weiß ich selbst am besten, doch in vielen Fällen haben wir die Wahl, welche Richtung wir einschlagen.« Günter holte tief Luft. »An einem gewissen Punkt wollte ich in den Lauf der Geschichte eingreifen. Ich wollte den Tod meiner Familie verhindern. Wenn du wüsstest, was ich alles unternommen habe, um das zu erreichen, würdest du kaum glauben, dass es dennoch dazu kam.«
Die Nüchternheit, mit der er jetzt sprach, verwirrte Sarah, und sie suchte in seinem Gesicht nach einer Erklärung, aber seine Züge wirkten hart und abweisend.
»Was hat deine Versuche verhindert?«, fragte sie zaghaft.
»Ich weiß es nicht. Alles, was ich unternahm, scheiterte an fast banal erscheinenden Dingen. Männer, die ich losschickte, um Igors Handlanger aufzuhalten, gerieten in einen unerklärlichen Stau und kamen um Minuten zu spät. Ich selbst wurde auf dem Flughafen festgehalten, weil plötzlich meine glaubwürdigste Identität fragwürdig erschien. Auch als ich mehrere Sachen gleichzeitig in Bewegung setzte, wurde jeder Eingriff durch ähnliche, sonst unwichtig erscheinende Ereignisse verhindert. Das war eine Zeit, an der ich wieder einmal fast zerbrach.«
Sarah merkte, dass er nur mit äußerster Kraftanstrengung dieses nüchtern erscheinende Gespräch aufrechterhalten konnte. Sie zögerte, fragte aber dann doch weiter:
»Und diese Erpresserbande ist ungestraft davongekommen?«
Ein schmerzlicher, aber zynischer Zug umspielte seine Lippen.
»Nein, das nicht. Danach gelang es mir fast spielend, ihre Machenschaften aufzudecken. Leider hatten sie sich da schon wieder nach Russland abgesetzt, doch ein guter Geschäftsfreund von Karim«, er betonte das auf eine Art, die Sarah anderes vermuten ließ, »konnte ihnen aufgrund seiner Beziehungen weitere Verbrechen – inklusive Mord – nachweisen. Jetzt sitzen sie in einem Straflager in Ostsibirien. Mein Partner hat sie dort besucht, und ich versichere dir, dass ihre Strafe mehr als angemessen ausgefallen ist.«
Günter atmete wieder geräuschvoll ein.
»Ich habe mich seither oft gefragt, ob mich das befriedigt oder meine Qual lindert. Im ersten Moment war es so, doch es macht das Geschehene nicht rückgängig. Der Schmerz bleibt, ebenso die anderen Dinge, die sich daraus ergeben haben. Einige sind dabei, die mich für eine Zeit lang zu einem überaus glücklichen Menschen gemacht haben, und gerade die möchte ich nicht missen. Manchmal tröste ich mich damit, dass es Glück und Leid geben muss, weil das eine das andere bedingt.