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wäre«, sag­te Gün­ter mit ei­nem Seuf­zer. »Ja, ich bin nicht auf die glei­che Art zu­rück­ge­kom­men, wie ich nach Chi­na kam. Nein, ich bin nicht an einen an­de­ren Ort ge­kom­men. Ich be­fand mich im­mer noch am sel­ben Fleck, aber nichts war mehr so, wie ich es kann­te, doch das möch­te ich dir ger­ne spä­ter in Ruhe er­klä­ren.«

      Sa­rah spür­te eine ge­wis­se Hilf­lo­sig­keit und Trau­er in sei­nen Wor­ten. Sie leg­te ihre Hand auf sei­ne auf dem Schalt­knüp­pel ru­hen­de Rech­te und er­schrak über die große Nie­der­ge­schla­gen­heit, die den sonst so stark er­schei­nen­den Mann er­grif­fen hat­te. Wie im­mer, wenn sie sich be­rühr­ten, schi­en er alle Ge­füh­le mit ihr zu tei­len.

      »Aber wie ist das mög­lich? Hast du seit die­ser Zeit in Chi­na, also ...«, sie rech­ne­te kurz nach, »über drei­hun­dert Jah­re ge­lebt?«, füg­te sie sto­ckend hin­zu.

      Gün­ter stöhn­te lei­se auf.

      »Habe ich wirk­lich ge­lebt? Lebe ich über­haupt, oder träu­me ich nur?«

      Er ent­zog ihr sei­ne Hand und leg­te sie mit aufs Lenk­rad. Als er sie da­bei kurz an­blick­te, konn­te Sa­rah einen feuch­ten Schim­mer in sei­nen Au­gen se­hen.

      »Manch­mal weiß ich selbst nicht, wer oder was ich bin. Wan­delt viel­leicht mei­ne See­le, nach dem doch ge­glück­ten Selbst­mord, nur ru­he­los durch die Zeit und ma­ni­fes­tiert sich ab und zu in ei­nem an­de­ren Kör­per?« Er schluck­te, weil sei­ne Stim­me zu bre­chen be­gann. »Es gibt Mo­men­te, da den­ke ich das, denn al­les an­de­re er­scheint mir noch un­mög­li­cher zu sein. An­de­rer­seits habe ich Er­in­ne­run­gen an ein un­ge­heu­er lan­ges Le­ben. So de­tail­liert, dass es un­mög­lich er­scheint, es nicht ge­lebt zu ha­ben. Ich kann mich an ein Le­ben als Gün­ter Kauf­mann mit Fir­ma und Fa­mi­lie er­in­nern. An ein Le­ben als Gü Man in Chi­na, als Is­hi­ka­wa Yos­hio in Ja­pan, als Ka­rim bin Azmi bin Ha­lim Al-Kis­met­bahr in Ägyp­ten und noch vie­le an­de­re. Und die äl­tes­ten Er­in­ne­run­gen sind ge­nau­so stark wie die jüngs­ten. Nichts scheint ver­lo­ren zu ge­hen.«

      Sa­rah wuss­te nicht, was sie dar­auf sa­gen soll­te, denn sie ver­such­te im­mer noch zu er­fas­sen, was sie ge­ra­de er­fuhr. Es dau­er­te lan­ge, bis Gün­ter wei­ter­sprach.

      »Noch nie hat­te ich das Ge­fühl, der Lö­sung all die­ser Fra­gen auf die Spur zu kom­men. Erst heu­te Mor­gen, als ich dich beim Tai-Chi sah und dann mit dir am Früh­stücks­tisch sprach, er­schi­en ein klei­ner Licht­blick. Auch des­halb bist du der ers­te Mensch, der so viel über mich er­fährt, und wenn du mich jetzt für schi­zo­phren hältst, kann ich dir das nicht ver­übeln.«

      Ohne zu zö­gern, er­wi­der­te Sa­rah:

      »Ich hal­te dich nicht für geis­tes­krank! Auch ich den­ke mitt­ler­wei­le, dass un­se­re Schick­sa­le ir­gend­wie mit­ein­an­der ver­knüpft sind, den­noch ver­ste­he ich vie­les nicht.«

      Sa­rah lehn­te sich mit nach in­nen ge­kehr­tem Blick zu­rück.

      »Wie konn­test du zum Bei­spiel mit Gün­ter Kauf­mann von Ägyp­ten aus in Kon­takt tre­ten, ohne dass er merk­te, dass du er bist?« Sie schüt­tel­te sich. »So was wür­de mich aus der Bahn wer­fen.«

      »Ich bin nie­mals per­sön­lich mit ihm in Kon­takt ge­tre­ten. Im­mer nur über Mit­tels­män­ner und an­de­re Fir­men, an de­nen ich be­tei­ligt bin. Au­ßer­dem war ich in die­ser Zeit nicht im­mer in Ägyp­ten. Ich habe auch mit an­de­ren Iden­ti­tä­ten von an­de­ren Län­dern aus sein Pro­jekt ge­för­dert.«

      »Hat­test du nicht Angst da­vor, in die Ge­schich­te ein­zu­grei­fen?«, frag­te Sa­rah stirn­run­zelnd.

      »Ich habe den Lauf der Ent­wick­lung nicht ver­än­dert. Als ich aus der Fer­ne mein al­tes Le­ben be­ob­ach­tet habe, ist mir auf­ge­fal­len, dass ich mich ohne einen Schub von au­ßen nie­mals in die­se Rich­tung ent­wi­ckelt hät­te. Als ich dann dar­über nach­dach­te und Ver­glei­che zog, er­kann­te ich, dass nur ich es ge­we­sen sein konn­te, der die­se Ent­wick­lung aus­ge­löst hat.«

      »Du hast dich also selbst zu dem ge­macht, der du als Fir­men­chef warst? Du hast dein ei­ge­nes Schick­sal aus­ge­löst, ohne es än­dern zu wol­len?«

      Un­gläu­big ruh­te ihr Blick auf ihm, und Gün­ter brauch­te eine Wei­le, bis er ant­wor­ten konn­te.

      »Ir­gend­wie schon, doch ma­chen wir uns nicht alle selbst zu dem, was wir sind? Sind es nicht un­se­re Ent­schei­dun­gen, die den Le­bens­weg maß­geb­lich be­stim­men? Si­cher gibt es äu­ße­re Ein­flüs­se, das weiß ich selbst am bes­ten, doch in vie­len Fäl­len ha­ben wir die Wahl, wel­che Rich­tung wir ein­schla­gen.« Gün­ter hol­te tief Luft. »An ei­nem ge­wis­sen Punkt woll­te ich in den Lauf der Ge­schich­te ein­grei­fen. Ich woll­te den Tod mei­ner Fa­mi­lie ver­hin­dern. Wenn du wüss­test, was ich al­les un­ter­nom­men habe, um das zu er­rei­chen, wür­dest du kaum glau­ben, dass es den­noch dazu kam.«

      Die Nüch­tern­heit, mit der er jetzt sprach, ver­wirr­te Sa­rah, und sie such­te in sei­nem Ge­sicht nach ei­ner Er­klä­rung, aber sei­ne Züge wirk­ten hart und ab­wei­send.

      »Was hat dei­ne Ver­su­che ver­hin­dert?«, frag­te sie zag­haft.

      »Ich weiß es nicht. Al­les, was ich un­ter­nahm, schei­ter­te an fast ba­nal er­schei­nen­den Din­gen. Män­ner, die ich los­schick­te, um Igors Hand­lan­ger auf­zu­hal­ten, ge­rie­ten in einen un­er­klär­li­chen Stau und ka­men um Mi­nu­ten zu spät. Ich selbst wur­de auf dem Flug­ha­fen fest­ge­hal­ten, weil plötz­lich mei­ne glaub­wür­digs­te Iden­ti­tät frag­wür­dig er­schi­en. Auch als ich meh­re­re Sa­chen gleich­zei­tig in Be­we­gung setz­te, wur­de je­der Ein­griff durch ähn­li­che, sonst un­wich­tig er­schei­nen­de Er­eig­nis­se ver­hin­dert. Das war eine Zeit, an der ich wie­der ein­mal fast zer­brach.«

      Sa­rah merk­te, dass er nur mit äu­ßers­ter Kraft­an­stren­gung die­ses nüch­tern er­schei­nen­de Ge­spräch auf­recht­er­hal­ten konn­te. Sie zö­ger­te, frag­te aber dann doch wei­ter:

      »Und die­se Er­pres­ser­ban­de ist un­ge­straft da­von­ge­kom­men?«

      Ein schmerz­li­cher, aber zy­ni­scher Zug um­spiel­te sei­ne Lip­pen.

      »Nein, das nicht. Da­nach ge­lang es mir fast spie­lend, ihre Ma­chen­schaf­ten auf­zu­de­cken. Lei­der hat­ten sie sich da schon wie­der nach Russ­land ab­ge­setzt, doch ein gu­ter Ge­schäfts­freund von Ka­rim«, er be­ton­te das auf eine Art, die Sa­rah an­de­res ver­mu­ten ließ, »konn­te ih­nen auf­grund sei­ner Be­zie­hun­gen wei­te­re Ver­bre­chen – in­klu­si­ve Mord – nach­wei­sen. Jetzt sit­zen sie in ei­nem Strafla­ger in Ost­si­bi­ri­en. Mein Part­ner hat sie dort be­sucht, und ich ver­si­che­re dir, dass ihre Stra­fe mehr als an­ge­mes­sen aus­ge­fal­len ist.«

      Gün­ter at­me­te wie­der ge­räusch­voll ein.

      »Ich habe mich seit­her oft ge­fragt, ob mich das be­frie­digt oder mei­ne Qual lin­dert. Im ers­ten Mo­ment war es so, doch es macht das Ge­sche­he­ne nicht rück­gän­gig. Der Schmerz bleibt, eben­so die an­de­ren Din­ge, die sich dar­aus er­ge­ben ha­ben. Ei­ni­ge sind da­bei, die mich für eine Zeit lang zu ei­nem über­aus glück­li­chen Men­schen ge­macht ha­ben, und ge­ra­de die möch­te ich nicht miss­en. Manch­mal trös­te ich mich da­mit, dass es Glück und Leid ge­ben muss, weil das eine das an­de­re be­dingt.

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