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Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel
Читать онлайн.Название Die Entleerung des Möglichen
Год выпуска 0
isbn 9783753181400
Автор произведения Reinhold Zobel
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ein einzelner Mensch kommt ihm am Strand entgegen, ein Mann mit einem Schäferhund. Er grüßt. Oskar grüßt zurück. Franzosen lieben deutsche Schäferhunde. Oskar schlägt einen Bogen. Er sucht die Stille. Er weidet sie aus. Er denkt an gestern. Er hatte im Ort etwas erlebt, was in dieser Kulisse geradezu riesenhaft wirkte.
Es geschah im Scheitel des Tages, er wurde Augenzeuge eines schweren Verkehrsunfalls zwischen einem bulligen Lieferwagen und einer jungen Frau, die eine unbesetzte Kinderkarre schob. Es war wie eine rasche, gewalttätige Kopulation. Die vier Räder der umgestürzten, nur leicht beschädigten Karre drehten potemkinsch ins Leere. Die Frau überlebte den Zusammenstoß nicht.
Da zeigte er sich plötzlich, der tödliche Zungenkuss der Vergänglichkeit (Oskar spürte ihn) nach einem kurzen Ausritt des Lebens - Als er jünger war, war er viel auf der Piste unterwegs gewesen, nachts, in Bars, Kneipen, Tanzlokalen. Er hatte nicht allein etwas erleben wollen, es war ihm darum zu tun gewesen, in die menschliche Existenz, in die menschliche Zelle hinein zu leuchten, am liebsten in jede einzelne von Milliarden. Warum? Um das Leben an seiner Quelle zu ertasten, um zu sehen, was es in der Tiefe ausmachte, was sein Geheimnis war, wo seine Gesetze lagen. Er selber hingegen hatte dabei gerne die Distanz gewahrt. Ja, und als er jünger war, hatte er natürlich nicht ans Ende gedacht. Doch ist die Vorstellung, es könnte auf ewig so weitergehen, denn weniger unheimlich, als die, dass die eigene Existenz eines Tages erlischt?
Andrerseits, so dachte er Jahre später, existieren womöglich auch zahllose Seelen, die, würden sie je einen Blick riskieren, hinab in die gefalteten Abseiten des eigenen Selbst, dort nichts als Gräber vorfänden, Jahrmillionen alt, und - hätten sie den Mut, diese zu öffnen - feststellen müssten: die Gräber sind leer. Und gehörte er nicht ebenfalls zu diesem Club?
Oskar taucht die Füße ins Wasser.
Es ist an der Zeit, umzukehren. Constanze wird schon warten. Sie wollen heute zum Großeinkauf in den Hypermarché. Zuvor wollte sie noch Hausputz halten. Darin ist seine Frau schnell. Dennoch, er hat sich zeitig aus dem Staub gemacht. Im Zuge dieser Säuberung wird sie wieder Berge an unnützem Kleinkram von einem Raum in den nächsten verschieben. Denn sie hat einen Sammeltick. Sie kann nichts wegwerfen. Oskar schmeckt die salzige Luft. Er könnte noch für Stunden hier am Strand, am Meer entlang wandern.
Er denkt an seine Mutter. Er wirft Sand mit seinen nassen Füßen auf. Seine Mutter lebt im Altersheim. Sie wird bald neunzig. Sie ist älter als der Vater, der jetzt zwanzig Jahre tot ist. Oskar kann sich gar nicht erinnern, sie früher so streng erlebt zu haben, so monadisch. Sie ist konservativ und prinzipientreu, ja, das ist sie. Und sie war einmal eine sehr schöne Frau. Er schaut himmelwärts. Eine vornehm monochrome Wolke spreizt ihren Sommerrock. Es könnte Gewitter geben. Das geht an der See bekanntlich im Handumdrehen.
Dann war da noch dieses Zerwürfnis, gestern Abend. Ein Streit, der aufbrach wie eine giftige Pflanze. Dieses Mal war nicht er daran schuld. Aber er war der Beschuldigte. Er fühlte sich nicht als solcher. Sie warf ihm ein paar Dinge an den Kopf, doch sie hatte die Flugbahn falsch berechnet. Sie machte den Fehler, auf zu altes Material zurückzugreifen. Es beeindruckte ihn nicht. Es ging sozusagen in gekrümmter Linie an ihm vorbei. Ihre Stimme, die wie zersprungenes Glas klang, füllte den Raum mit Vorwürfen, die als dicke Regentropfen kamen, doch war nichts darunter, was seinem Empfinden nach das Aufspannen eines Schirms gelohnt hätte. Sie redete in Sätzen, deren Ausgang er kannte, ehe sie ganz ausgesprochen waren. Er hätte manches auswendig hersagen können. Das meiste davon war, wie er es sah, im Grunde verjährt. Er wurde undurchdringlich und hart. Hinterher tat es ihm leid…
Oskar wendet sich der Landseite zu. Zu den Dünen hin wird der Sand schrittweise gröber. Ich will jetzt zurückgehen, denkt er, und es ihr sagen. Als er das Haus erreicht, hört er von draußen das Geräusch des Staubsaugers. Constanze ist also noch bei der Arbeit. Er zögert, bleibt nahe der Terrasse stehen und schaut über den verdorrten Rasen, über den Zaun, über das schmiedeeiserne Tor, die das Grundstück nach hinten begrenzen. Beide sind halb zerfallen. Sie haben keine Funktion mehr. Oskar streicht sich über den haarlosen Schädel. Die Nachbarn schlafen noch, nein, sie sind gar nicht da. Das Auto steht nicht vor der Tür. Oskar betritt das Haus.
“Es tut mir leid wegen gestern.”
Er hat abgewartet, bis seine Frau den Staubsauger ausgeschaltet hat. Es wirkte, als beende sie einen Zeitvertreib. Sie trägt ein rotes Kopftuch. Das Haar, das darunter hervor schimmert, ist nass. Sie geht barfuss. Da sie öfter als er in der Sonne war, ist sie bereits gut durchgebräunt. Es vergeht eine Weile, ehe sie sich ihm zuwendet. Sie streift ihn mit einem kurzen Blick, während sie sich eine Zigarette anzündet. Sie ist ein hoch gewachsener, nervöser Frauentyp. Trägt sie Schuhe mit hohen Absätzen, ist sie größer als er, obwohl Oskar nicht klein ist.
“Du warst wieder einmal sehr ausfallend.”
“Ich weiß.”
“Und abweisend.”
“Ja, entschuldige.”
Constanze erweckt den Eindruck, als wolle sie noch etwas hinzufügen, doch sie schweigt. Auch er schweigt. Nach einer Weile sieht er sie geradeheraus an.
“Unser Leben verläuft doch eigentlich in geordneten Bahnen, nicht wahr?”
“Ist es das, was dich derzeit umtreibt?”
“Nein. ich meine nur, es fehlt uns doch an nichts, materiell betrachtet.”
“Warum betonst du das so?”
“Keine Ahnung...Vielleicht, weil ich denke, was morgen wird, müsste uns nicht beunruhigen, nicht ernsthaft.”
Sie lässt sich ziemlich viel Zeit mit einer Entgegnung. Sie ist keine Auster, aber wer sie nicht kennt, könnte sie für spröde halten, nicht zuletzt wegen der zwei scharfen Falten in ihren Mundwinkeln, die sich, wenn sie sich nach außen hin verschließt, wie Schützengräben aufrichten können. Sie sind in den letzten Jahren prägnanter geworden. Doch im Grunde ist sie ganz weich. Als Oskar das erste Mal mit ihr Sex hatte, glaubte er, in eine Kissenhöhlung aus Daunenfedern einzudringen. Und auch ihr Herz ist, tief drinnen, aus Daunenfedern. Ihre Widerhaken, ihre Untiefen liegen anderswo.
Man hört das Zwitschern eines Vogels durch die offene Verandatür. Oskar kennt das Lied, aber er wüsste nicht zu sagen, welcher Familie der gefiederte Sangesbruder angehört. Dann ertönt wieder Constanzes Stimme.
“Du könntest dir aber, finde ich, hin und wieder ruhig ein paar Sorgen um die Zukunft machen.”
“Ich mache mir aber keine Sorgen um die Zukunft, eher um die... Vergangenheit.”
“Was willst du jetzt damit sagen?”
“Ah, das ist… schwierig zu erklären.”
Erneute Stille. Er steht, wo er zu Beginn schon stand. Seine Gefühlslage ist nicht geerdet. Sie sitzt auf dem breiten Rand des Sofas, die Beine übereinander geschlagen, den Kopf aufgestützt, raucht, wippt unruhig mit dem nackten rechten Fuß. Auch ihr Blick wandert unstet hin und her. Vielleicht, denkt sie, hätte ich “unsere Zukunft” sagen sollen. Man hört ein Auto am Haus vorbeifahren.