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Praxis lag in der malerischen Sophienstraße in Mitte direkt gegenüber der dreihundert Jahre alten Sophienkirche. Draußen glühte die Sonne. Es waren schwüle 30 Grad. Er war froh, dass er Samira einigermaßen beruhigen konnte und musste sich die ganze Zeit beherrschen, nicht selbst in Tränen auszubrechen.

      Wie sehr er doch Nadine in Wahrheit vermisste. Sie war seine große Liebe, die Liebe seines Lebens. Und ihr hatte er es zu verdanken, dass er heute der war, der er war. Sie war es, die ihn immer wieder ermutigte, hinter dem zu stehen, was er in den ersten 20 Jahren seines Lebens geleugnet hatte.

      Borchardt besaß nämlich die Fähigkeit der außersinnlichen Wahrnehmung. Er vermochte, Gedanken anderer zu erkennen, Antworten in Träumen zu erhalten und Zukünftiges zu erahnen. Darüber hinaus besaß er ein ausgeprägtes empathisches und intuitives Gespür, das ihn aus der Masse seiner Therapeuten-Kollegen hervorhob. Schon in seiner frühen Kindheit entdeckte er sein Talent, seiner Intuition nicht nur zu trauen, sondern auch Folge zu leisten. Er lag mit seinen intuitiven Entscheidungen immer richtig. Nicht manchmal, immer.

      Er definierte sie als seinen inneren Kompass, der ihn zu seinem Ziel, welcher Natur auch immer, führte oder besser drängte. Mit diesem Instrument konnte er verlorengegangene Gegenstände wiederfinden, deren Suche andere längst aufgegeben hätten, oder vor schwierigen Klausuren die richtigen Kapitel studieren oder einen gebuchten Flug canceln, um wenig später vom Absturz der Maschine zu erfahren. Man kann den Übergang in den intuitiv gesteuerten Geist - einen Zustand, den Borchardt übrigens Mentalnavi nennt - mit einem Wechsel in seiner Wahrnehmung beschreiben. Er fing an, die Umwelt anders wahrzunehmen. Er sah sie nicht mehr durch die Augen seines Verstandes. Alles erschien langsamer, weitaus langsamer. Die Geräusche zogen sich in die Länge, so als würde man ein Gummiband ausdehnen. Und dennoch bewegte er sich in der von allen Menschen gemeinsam wahrgenommenen Zeit. Auch Gerüche nahm er intensiver wahr. Er erkannte Vorkommnisse, die er außerhalb dieses Zustandes nicht beobachtet hätte. Selbst innerseelische Konflikte anderer erfasste er in symbolischer Form direkt vor seinen Augen, und es erforderte Jahre psychotherapeutischer Praxiserfahrung, bis er zufällig darauf stieß, wie er sein Mentalnavi bewusst aktivieren konnte. Seitdem nutzte er es in der Therapie und löste die psychischen Probleme seiner Klienten überdurchschnittlich schnell.

      Borchardt lag immer Wert darauf, seine Mitmenschen wissen zu lassen, dass jeder die Fähigkeit des psychischen Sehens und Fühlens besäße und ausbauen könne. Aber - und dessen war er sich bewusst - es war ausschließlich Nadine, die ihm half, sein Talent in Gänze anzunehmen, sich nicht sonderbar zu fühlen und es in seinem Leben sinnvoll und im Dienst für andere einzusetzen.

      Momentan verbrachte er also nur noch Anfang Frühling bis Mitte Herbst in Berlin und seit vorletztem Jahr seine Zeit auch damit, der hiesigen Mordkommission bei unlösbar erscheinenden Kriminalfällen fallanalytisch beratend zur Seite zu stehen. Sein Kindheitsfreund Tomas Reichstatt, mittlerweile Kriminalhauptkommissar beim Berliner LKA 1, hatte sich vertrauensvoll an ihn gewandt, als sein Team während der laufenden Ermittlungen gegen den „Schlitzer von Neukölln“ fortwährend im Dunkeln tappte.

      Tomas war immerzu von Borchardts Talent begeistert gewesen, genauso wie Borchardt Tomas‘ Begabung, am Ball zu bleiben, faszinierte, egal was passierte. Für Tomas erschien es unter den damaligen extrem angespannten Umständen völlig in Ordnung, die übersinnlichen Fähigkeiten seines seit Lebzeiten besten Freundes zu Rate zu ziehen. Wie sich jedoch herauskristallisierte, wurde aus der Beratung eine aktive Ermittlungsteilnahme. Borchardts Navi drängte ihn nicht nur auf die richtige Fährte, die den Ermittlern des LKA 1 verschlossen blieb, sondern vermittelte ihm darüber hinaus mentale Skizzen des Tathergangs und er konnte somit dazu beitragen, den „Schlitzer von Neukölln“ zu fassen.

      2

      Wie ein Blutegel klebte seine Hand auf ihren nach Gnade flehenden Lippen.

      „Hab keine Angst, du wirst eh sterben.“

      Was immer sie auch tat, welcher Gedanke ihr auch kam, er war stärker - weitaus stärker.

      „Wenn der Tod anklopft“, während der warme Sommerregen auf ihre nagelneue Frisur prasselte und ihre Augen randvoll tränkte, „dann kann man ihm nicht mehr entkommen.“

      Sie hatte einfach keine Chance, ihren Widersacher wenigstens im Ansatz zu erkennen - es war zu dunkel und ihre Augen zu nass. Und sie fürchtete sich, sie nur für einen Bruchteil einer Sekunde zu schließen. Sie befürchtete, er könne sie dann töten.

      Er hatte sie unerwartet und heimtückisch überrascht, sodass sie außerstande war, auch nur irgendwie zu reagieren, obgleich sie seit Jahren im Kampfsport - insbesondere im Bodenkampf - trainiert war. Ihr Vater, ein professioneller Kampfkünstler, hatte sie schon im frühen Kindesalter an die Notwendigkeit dieser Kunst herangeführt. Im Vordergrund stand dabei sein Wunsch, seine Tochter möge sich stets gegen Übergriffe erfolgreich zur Wehr setzen. Eine seiner Maxime lautete: Gleichgültig, wie perfekt man kämpfen kann, ein wahrer Kampfkünstler verteidigt sich nur im Notfall. Und jetzt war so ein Notfall, und was brachte ihr seine Maxime nun? Eduard - hier mitten im Berliner Volkspark Hasenheide an der Grenze von Neukölln und Kreuzberg - ließ sie dastehen, als hätte sie nie zuvor trainiert. Er war ihr immer einen Schritt voraus. Zudem hatte er sie auch noch mit einer ihr bis dato unbekannten Grifftechnik förmlich bewegungslos gemacht.

      „Verstehst du das, Martina?“

      Martina? Erstmals konnte sie einen bewussten Gedanken aufgreifen.

      „Das ist sehr wichtig. Du musst begreifen, dass es im Leben keine Garantie gibt, außer die, dass wir alle sterben.“

      Wieder suchte sie nach Möglichkeiten, sich zu befreien, erneut vergebens. Es war auch schon spät, sehr spät sogar – 0:31 Uhr Sonntagnacht mitten im Hochsommer. Der Volkspark menschenleer, nur die beiden und der unaufhörlich warme Sommerregen, der zunehmend ankündigte, sich in ein wildes Unwetter zu verwandeln. Tagsüber mit unzähligen Anwohnern, Touristen und Dealern angefüllt bot der Volkspark um diese Nachtzeit das perfekte Szenario für Eduards Absichten. Er hatte sie an einem der spärlich beleuchteten Hauptwege überwältigt, mit einem gezielten Hieb ins Gesicht ausgeschaltet, auf eine kleine freie Fläche zwischen den anliegenden Büschen gezerrt, in denen tagsüber die afrikanischen Dealer ihre Drogen versteckten, und sie mit einem weiteren professionellen Hieb gegen ihre Schläfe wieder zu Bewusstsein befördert.

      Martina hatte sich auf dem Rückweg von ihrem Verlobten Lucas Dupont befunden, einem Einzelkind einer französischen Unternehmerfamilie in dritter Generation. Lucas wohnte in einer 200 qm großen Wohnung am einen Ende des Volksparks - am Südstern in Kreuzberg – und Martina am diagonal gegenüberliegenden Neuköllner Herrfurthplatz, der sich von einem unbedeutenden und hausgemachten Problemkiez zu einem angesagten Szenekiez gemausert hatte. Normalerweise mied sie um diese Tageszeit den Park und normalerweise war sie auch mit ihrem Fahrrad unterwegs, das sich ausgerechnet heute in der Werkstatt befand. Vor allem aber war es der plötzliche Regen, der sie veranlasst hatte, die Abkürzung durch den Park zu nehmen. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Abend sie hier hinführen würde. So selig war sie bis eben noch gewesen. So verliebt.

      Martina und Lucas hatten sich in einem Masterstudiengang einer renommierten französischen Business School kennen und lieben gelernt. Kurz vor der Abschlussprüfung verstarb Lucas‘ Vater im Alter von 56 Jahren unerwartet an einem Herzinfarkt. Ein Schicksalsschlag, der die gesamte Familie traumatisierte. Ohne zu zögern, übernahm Lucas die Verantwortung und nahm den Tod seines geliebten Vaters als Anlass, sich von seinem Traum, ein Internetunternehmen aufzubauen, zu verabschieden - zumindest bis auf Weiteres - und stieg nach Rücksprache mit seiner Mutter in die Geschäftsführung des Handelsunternehmens ein. Eine seiner ersten Entscheidungen war, die Handelsaktivitäten räumlich von der Administration zu trennen. Berlins geographische Lage zu nutzen, sei eine notwendige und strategisch wichtige Ausrichtung im modernen Europa. Nach nur sechs Monaten zog er mit fast all seinen Tradern von Paris nach Berlin in die oberste Etage des in Mitte gelegenen internationalen Handelszentrums.

      „In Momenten wie dieser wird einem bewusst, wie einzigartig das Leben doch ist, nicht wahr Martina?“

      Ein

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