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volle Tage wie diesen. Seitdem er jedoch einen Teil des Jahres in seiner Casa auf Gran Canaria verbrachte, um sich seiner schriftstellerischen Karriere zu widmen, ließen die Anfragen nach seinen Behandlungen nicht nach. Im Gegenteil, seit der erfolgreichen Veröffentlichung seines ersten Fachbuches „Paradigmenwechsel in der Psychotherapie“ vor drei Jahren hatte er sich vor Anfragen nicht mehr retten können und für die Sommermonate hier in Berlin eine Gehilfin anstellen müssen - Samira.

      Ebenfalls beschränkte er seine Tätigkeit als psychologischer Psychotherapeut und renommierter Traumanalytiker auf nur noch zwei bis drei Tage die Woche. Wenn er früher höchstens vier Klienten á 90 Minuten pro Tag behandelt hatte, so hatte er heute höchstens fünf Klienten á 60 Minuten, und das obwohl er die neunzigminütigen Sitzungen vorzog. Denn gerade in der letzten halben Stunde machten seine Klienten oftmals Quantensprünge. Borchardt war zu sehr Profi, als dass er sich von der herrschenden Meinung hätte einreden lassen, dass einstündige Sitzungen generell ausreichten. Dem ist nicht so und das wusste er nur zu gut. Solche oberflächlichen Plattitüden, wie er sie nannte, konnten ihn nicht beeinflussen.

      Darüber hinaus besaß der monetäre Aspekt eine untergeordnete Rolle. An erster Stelle standen seine Klienten und zwar als menschliche und nicht als irgendwelche psychomaschinellen Wesen. An zweiter Stelle stand seine tiefe Überzeugung, dass es zweifellos psychologische Gesetzmäßigkeiten gibt, die allen Menschen gleichermaßen innewohnen, dass aber jedes Individuum seine ureigene und einzigartige innerseelische Landkarte aufweise.

      Somit waren für ihn nicht die verschiedenen Therapieformen, die es in der gängigen Praxis gibt, maßgeblich, sondern die Fähigkeit der Empathie und die Kunst, aufmerksam zuzuhören. In der Regel wurde ein Großteil seiner Klienten erst nach 40 Minuten warm. Oft stiegen wenig später die nach Freiheit schreienden und in Vergessenheit geratenen Erinnerungen zurück ins Bewusstsein.

      Für Borchardt war das eine Gesetzmäßigkeit, die er gleich zu Beginn seiner Berufslaufbahn entdeckt und beherzigt hatte. Natürlich war er sich bewusst, dass er seinen Klienten viel abverlangte, aber seine Erfolge sprachen letztlich für ihn. Dennoch war Borchardt kein Besserwisser und schon gar nicht ein sturer Zeitgenosse. Er war flexibel und stets bereit, neue Wege zu gehen und hatte für sich einen Weg gefunden, auch in 60-Minuten-Sitzungen zu einem guten Ergebnis zu kommen.

      Er bediente die Sprechanlage.

      „Ja, Papa.“

      „Ich habe ja heute niemanden mehr. Mach doch bitte Schluss und kümmer dich um deine Sachen.“

      „Ja, gerne, aber ein Abschiedsküsschen wollte ich dir schon noch geben“, lächelte Samira in die Anlage.

      „Den gebe ich dir, wenn ich gleich rauskomme“, lächelte er zurück.

      Samira war zu einer hübschen 23-jährigen Frau herangewachsen. Sie studierte Agrarwissenschaften im zweiten Semester an der Humboldt-Universität, nachdem sie eine Ausbildung zur Landwirtin erfolgreich abgeschlossen hatte. Sie begrüßte die Tätigkeit bei ihrem Vater und hatte mit ihm vereinbart, ihn mit höchstens 15 Stunden die Woche zu entlasten. Sie übernahm einfache Tätigkeiten wie Terminierungen, Reservierungen und die anfallende Verwaltung von Praxismaterial.

      Nachdem sie alle Unterlagen geordnet und den Computer heruntergefahren hatte, warf sie wie gewöhnlich einen Blick auf das Foto Nadines auf ihrem Schreibtisch. Sie war doch das Herz der Familie gewesen, eine so lebensfrohe Frau und Borchardts erste große Liebe. Sie hatte immerzu gelächelt - kein aufgesetztes sondern ein authentisches und durch und durch lebensbejahendes Lächeln. Auch auf diesem Foto.

      Während Samira in Erinnerungen versunken auf das Bild starrte, kam Borchardt dazu. „Ich vermisse sie.“

      „Ich auch, Papa.“

      „Wir müssen lernen, mit dem Verlust zu leben.“

      „Wie soll ich das? Sie ist meine Mutter. Sie starb einfach zu früh.“

      Er ging zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter, wissend, dass eine Berührung mehr als Worte sagt. Sofort brach Samira in Tränen aus. Sie weinte bitterlich, stand auf, umarmte ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter.

      „Wir schaffen das, meine Prinzessin.“

      „Sie war eine so gute Frau.“

      „Ich weiß.“

      „Warum lässt Gott so etwas nur zu?“

      „Samira, unsere Aufgabe ist es, zu lernen, mit diesem Verlust zu leben.“

      „Ich bin einfach nur traurig.“

      „Ich weiß.“ Zärtlich nahm er den Kopf seiner Tochter von seiner Schulter, sodass er ihr in die Augen schauen konnte. „Glaubst du immer noch nicht an ein Leben nach dem Tod?“, lächelte er sie an.

      „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie leicht verunsichert.

      „Auf der ganzen Welt gibt es nicht eine einzige wissenschaftliche Studie, die nachweist, dass es nicht so etwas gibt wie ein Leben nach dem Tod.“

      „Das bringt mir meine Mama auch nicht zurück“, weinte sie.

      „Ich weiß, aber solange niemand beweisen kann, dass es nach dem Tod nicht weitergeht, glaube ich an ein Leben nach dem Tod. Weißt du, wie ich das meine? Für mich ist Nadine noch da, auf einer anderen Ebene, nicht sichtbar, aber trotzdem ist sie für mich noch da.“

      „Trotzdem verstehe ich nicht, warum Gott so etwas zulässt.“

      „Ich weiß es auch nicht. Ich glaube noch nicht einmal, dass Gott es zugelassen hat. Ich glaube an Schicksal und Fügung. Ich glaube nicht an einen Gott, der Leiden bringt.“

      „Aber warum ist sie so gestorben, auf so eine fürchterliche Weise?“

      „Samira, mein Ein und Alles“, sagte er nach einer kurzen Weile mit Tränen in den Augen, „ich glaube, wie gesagt, dass sie auf einer anderen Ebene noch unter uns weilt. Ja, ich glaube, dass sie jetzt gerade unter uns ist.“

      „Aber dann müsste man doch ein Zeichen oder sowas von ihr erhalten, wenn das wirklich stimmt.“

      „Wer sagt denn, dass das hier kein Zeichen ist?“

      „Wie bitte?“

      „Vielleicht macht sie ja gerade dadurch auf sich aufmerksam, indem sie uns beide in dieses Gespräch verwickelt. Vielleicht war sie es, die dich veranlasst hat zu weinen. Dass du weinst, ist in Ordnung. Aber, nehmen wir einmal an, Mama lebt tatsächlich auf einer anderen Ebene und kann uns hier und jetzt sehen oder vielleicht sogar hören, wie traurig müsste sie dann sein, dich so zu sehen?“

      Samira hatte Ähnliches von ihrem Vater schon des Öfteren gehört. „Du meinst, ich bin es Mama schuldig, mich positiver zu fühlen, wenn ich an sie denke?“

      Borchardt lächelte.

      „Vielleicht hast du recht.“

      „Ich glaube, du bist es Mama schuldig, sie zum Lachen zu bringen, wenn du an sie denkst“, sagte er weich.

      Samira musste lächeln.

      „Weißt du, mein Engel“, fuhr er fort, „wir alle müssen sterben. Es gibt rein gar nichts, das überlebt. Alle müssen gehen. Die einen früher, die anderen später. Mama ist nur vorausgegangen, und wir kommen nach.“

      „Ich vermisse sie trotzdem.“

      „Ich weiß. Wenn du aber ständig ihren Tod bedauerst und deine Wut darüber auslebst, hat ihre Seele keine Chance, dort hinzugehen, wo sie vielleicht hingehen will. Du musst sie so langsam aber sicher gehen lassen. Das ist sehr wichtig. Sie ist tot, Samira. Daran ist nichts mehr zu ändern. Sie kommt so, wie sie war, nicht mehr zurück. Nie mehr. Das ist der Lauf der Dinge. Ihre Seele kann einfach nicht frei sein, wenn du an ihr festhältst.“

      Diesmal musste sie nicken. „Was hast du heute noch vor?“

      „Ich gehe meiner Lieblingsbeschäftigung nach.“

      „Einem Spaziergang.“

      „So

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