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rufe ich: „Ja, mach‘ ich, und sag allen liebe Grüße von mir!“, und dann ist die Verbindung auch schon unterbrochen.

      Ich halte den Hörer noch in der Hand und will gerade etwas zu Emily sagen, die wie hypnotisiert auf der Couch sitzt, als es an der Tür klingelt. Himmel, was ist denn heute nur los?

      Als ich die Wohnungstür öffne, tänzelt ein unglaublich gut gelaunter George an mir vorbei, küsst mich im Vorübergehen auf die Wange und lässt sich neben Emily auf das Sofa plumpsen. Den hatte ich schon ganz vergessen!

      „Honey, wir werden uns ein paar schöne Tage machen“, verspricht er mir vergnügt. Ich verziehe das Gesicht und sage leidend: „So schön es halt in Worms sein kann.“ Und betone dabei das Wort „Worms“ besonders verächtlich, so verächtlich wie es nur geht.

      „Was, wo fahrt ihr hin? Und warum?“, will Emily wissen. Das ist das Stichwort für George. Er springt auf und beginnt ganz euphorisch zu erzählen.

      „Ich gebe doch dieses Semester ein Seminar an der Uni über die Geschichte der Nibelungen.“ Emily guckt verständnislos, im Gegensatz zu mir hat sie noch nicht viel von Georges Arbeit gehört.

      „Was für Lungen?“, fragt sie, ohne den geringsten Anflug einer Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte.

      „Nicht Lungen. NIBELUNGEN“, erklärt George, ohne seine gute Laune zu verlieren.

      „Hach Emily, my dear, du bist genauso ein Kulturbanause wie Hilda. Die Nibelungensage ist so etwas wie das deutsche Pendant zur Artussage in England. Eine Geschichte voller Liebe und Leid und Verrat, und einen Schatz gibt es auch! Ihr seid mir eine Nation! Ihr habt eine der spannendsten Legenden des Mittelalters und wisst nichts darüber, aber auch rein gar nichts! Aber fragt man euch nach König Artus, dann könnt ihr einem stundenlang was von den Rittern der Tafelrunde, dem Schwert Excalibur und dem Zauberer Merlin erzählen!“ Er schnappt in gespielter Empörung nach Luft. „Ihr interessiert euch nicht für eure Kultur, dabei hat dieses Land doch so viel zu bieten!“

      Emily und ich werfen uns einen Nicht-schon-wieder-Blick zu. Wenn George richtig in Fahrt gerät, dann hält er uns lange, sehr lange, Vorträge über das, was unsere Kultur schon alles Großartiges hervorgebracht hat. Er als ausgewanderter Engländer versteht nicht, dass man als Deutscher nicht gut mit einem zu großen Stolz auf die Kultur des eigenen Landes herumlaufen kann. Und er versteht nicht, dass es andere Themen gibt, die uns brennender interessieren. Die neue Sommerkollektion von Prada zum Beispiel.

      George bemerkt unser Desinteresse und die Blicke, die wir austauschen. „Okay, machen wir es kurz. Ich gebe dieses Seminar über die Geschichte der Nibelungen, verstanden?“ Emily nickt gehorsam, George fährt zufrieden fort.

      „Einer der Handlungsorte dieser Sage ist Worms. Und dort finden jedes Jahr die Nibelungen-Festspiele statt. Ähnlich wie Karl-May-Festspiele, halt nur ohne Indianer. Und es geht dabei um die Geschichte von Kriemhild und Siegfried. Das sind, um es vereinfacht auszudrücken, die Hauptpersonen. Ich fahre mit den Studenten, die mein Seminar besuchen, nach Worms, um dort die Sage der Nibelungen und ihre Wurzeln genauer zu untersuchen.“ Mit dem Stolz, wie nur ein waschechter Brite ihn authentisch zur Schau stellen kann, sieht er Emily erwartungsvoll an. Ich weiß, dass er nun Komplimente hören will. Er sei der beste Dozent, den man sich nur vorstellen könne, er sei so einfallsreich, so engagiert – das volle Programm.

      „Aha. Das klingt ja unheimlich spannend“, kichert Emily, die für solche Sachen noch weniger übrig hat als ich, und zerschmettert damit Georges Hoffnung auf eine ordentliche Lobeshymne.

      Als persönliche Assistentin in einem Großkonzern ist sie auch denkbar weit von dieser Thematik entfernt. George verdreht die Augen und seufzt, dabei fällt sein Blick auf den Couchtisch.

      „Oreos und Baileys?“, fragt er. „Was ist passiert?“ Nicht nur ich kenne ihn gut, auch er kennt mich und meine Angewohnheiten.

      Emily wirft mir einen flehenden Blick zu. Sag ihm nichts, soll das wohl heißen. Okay, wir müssen ihm nicht die ganze Geschichte erzählen.

      „Ich hab‘ mich mal wieder ein bisschen tollpatschig angestellt“, beginne ich und liefere Emily damit den Einstieg, um die Geschichte so zu erzählen, wie sie es für richtig hält.

      Sie greift dankbar meine Vorlage und damit mein Missgeschick auf und erzählt George ausführlich von unserem Zusammentreffen auf dem Flur, ich in der Unterhose in einer Kaffeepfütze sitzend. Dabei verschweigt sie unseren Besucher, den nackten Mann, geflissentlich. Walter.

      Nein, über Emilys Affäre will ich jetzt nicht nachdenken, sonst kann ich mich nicht beherrschen und muss mit ihr darüber sprechen. Also denke ich lieber an etwas anderes. George.

      Ich sehe ihn an und muss lächeln. Aufmerksam hört er Emily zu, seine blauen Augen sind konzentriert auf sie gerichtet, der Kopf mit den hellbraunen Haaren – und ein paar grauen Strähnen darin, auch wenn er das nicht wahrhaben will – nickt leicht, während sie spricht. Er ist ein außergewöhnlich guter Zuhörer, das muss man ihm lassen.

      Spontan fällt mir ein, wie wir uns damals kennen gelernt haben. Es war zu Beginn meines fünften Semesters an der Uni, ich kam mir schon wahnsinnig erfahren vor, wie ein richtig alter Uni-Hase. Ich hatte den Plan. Nicht irgendeinen Plan A, B, C oder D. Nein, ich hatte DEN Plan.

      Ich hatte schon gute Beziehungen und schlechte, ich habe Prüfungen gut und andere weniger gut bestanden, kurzum: Ich dachte, ich wüsste, wie es läuft und mir könnte keiner mehr etwas vormachen.

      An dem Tag, an dem ich George zum ersten Mal traf, war ich auf dem Weg zu einer Vorlesung über die Dichtung im Mittelhochdeutschen. Vorher wollte ich mir noch schnell einen Kaffee in der Cafeteria besorgen, obwohl ich schon etwas spät dran war.

      Ich stand in der Schlange, trippelte von einem Bein auf das andere und sah nervös auf die Uhr. Nur noch einer vor mir, gut. Doch dieser Kerl wusste anscheinend nicht, dass man in der Cafeteria nicht in bar zahlen konnte. Dazu benutzten wir den aufladbaren Chip, der in unseren Universitätsausweis integriert war. Mit unserer Studi-Card konnten wir auch kostenlos die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, in der Uni-Bibliothek Bücher ausleihen und mit der Chipkartenfunktion bezahlten wir unsere Kopien und eben auch das Essen.

      Davon wusste dieser Typ zu meinem Ärger nichts und wollte unbedingt sein Salami-Käse-Sandwich und die Cola in bar bezahlen. Schätzungsweise zehn Jahre älter als ich, aber keine Ahnung vom Leben. Typisch Langzeitstudent eben, dachte ich mir.

      Er sah nicht schlecht aus, ein bisschen wie Eric Dane, alias Dr. Mark Sloan aus ‚Grey’s Anatomy‘. Daher half ich ihm und bat die Kassiererin, seinen Betrag von meiner Karte abzubuchen.

      „Äh, thank you so much“, sagte er und lächelte mich verlegen an.

      „Ach, das ist schon in Ordnung. Du bist sicher neu hier“, antwortete ich – ein bisschen großspurig.

      „Ja, ich bin George“, stellte er sich vor. „Jetzt schulde ich dir was.“

      „Ich bin Hilda“, sagte ich, „und ich hab’s eilig. Ich komme sonst zu spät in die Vorlesung. ‚Dichtung im Mittelhochdeutschen‘.“ War ich cool – dachte ich.

      „Das trifft sich gut, da muss ich auch hin, und ich kenne die Wege hier noch nicht so gut. Dann schließe ich mich dir an“, strahlte George und fand mich auch total cool – dachte ich. Meine Gelegenheit, mich noch etwas mehr aufzuspielen.

      „Klar, komm nur mit. Aber ich sag‘ dir gleich, dieser Typ, Darnett, scheint ein neuer Dozent zu sein. Ich kenne ihn nämlich nicht. Ich hoffe, dass er keine Anwesenheitsliste führt. Dann brauche ich mir diesen langweiligen Mittelalter-Kram nicht anzuhören und lasse mir trotzdem am Ende des Semesters eine Teilnahmebescheinigung ausstellen. Das checke ich nur schnell ab. Ich setze mich ganz hinten rein, und wenn es keine Liste gibt, dann verzieh‘ ich mich direkt wieder“, erklärte ich ihm mit aller Gleichgültigkeit, die ich aufbieten konnte.

      „So, wir sind da, hier ist der Hörsaal“, deutete ich mit einer so lässigen Handbewegung auf das Schild mit der Raumnummer, dass ich selbst überrascht war, wie lässig ich

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