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gestern abend erzählt habe. Ich hatte mich indessen nicht genügend in der Gewalt, um zu wissen, was ich sagen durfte und was nicht. Für die Wahrheit alles dessen, was ich hier berichtet habe, kann Ihnen Oberst Fitzwilliam bürgen, der auf Grund der Freundschaft, die uns beide verbindet, und dann auch durch die Tatsache, dass er zusammen mit mir Verwalter des Familienvermögens und Vormund meiner Schwester ist, über alle Einzelheiten so gut Bescheid weiß wie ich selbst. Wenn Ihr Abscheu vor mir meine Versicherung wertlos macht, dann kann Sie wenigstens nicht das gleiche Gefühl der Abneigung an seinen Worten zweifeln lassen. Und um Ihnen Gelegenheit zu geben, ihn zu befragen, will ich versuchen, Ihnen diesen Brief noch heute morgen zu übermitteln. — Ich möchte nur noch hinzufügen: Gott segne Sie. Fitzwilliam Darcy‹

      Sechsunddreissigstes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Ob Elisabeth in dem Brief eine schriftliche Wiederholung des Antrages vermutet hatte oder nicht, viel erwartete sie sich bestimmt nicht von dem Schreiben, das ihr da so über das Parktor gereicht worden war. Aber man kann sich denken, mit welchem Eifer sie schon nach den ersten Worten die Zeilen überflog und welch widerstreitende Gefühle das Gelesene in ihr erweckte. Mit hellem Erstaunen stellte sie gleich zu Anfang fest, dass Darcy glaubte, eine hinreichende Erklärung für seine Handlungsweise abgeben zu können; war sie doch fest davon überzeugt, dass er darüber nichts werde sagen können, was seine Schande nicht noch offensichtlicher werden lasse. Und so begann sie denn auch seinen Bericht über die Ereignisse auf Netherfield mit tiefem Misstrauen, dann packte sie aber ein solcher Eifer, dass sie gar nicht schnell genug weiterlesen konnte.

      Seine Behauptung im ersten Teil des Briefes, er habe geglaubt, Bingley sei ihrer Schwester gleichgültig gewesen, tat sie sogleich als unwahr ab. Und die Aufzählung der Gründe, die seiner Ansicht nach gegen eine Heirat Bingleys mit Jane sprachen, versetzte sie wieder in eine solche Wut, dass jede Regung, ihm wenigstens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, schon im Keim erstickt wurde. Er war doch zu selbstgefällig: kein Wort der Reue über das, was er angestiftet hatte; der ganze Ton des Briefes bestätigte nur von neuem seine grenzenlose, unverschämte Überheblichkeit.

      Aber als danach seine Eröffnungen über Wickham folgten, als sie dann wieder etwas ruhiger und aufmerksamer diesen Bericht über ihren früheren Verehrer las, der, wenn er der Wahrheit entsprach, alle ihre Vorstellungen von seinem Wert zunichte machte, da empfand sie einen fast körperlichen Schmerz und fühlte sich von aller Welt verraten. Ein furchtbares Entsetzen bemächtigte sich ihrer. Sie wollte das alles nicht glauben, sie konnte das gar nicht glauben. Wiederholt rief sie, ohne es selbst zu merken, aus: »Das ist nicht wahr! Das kann doch nicht stimmen! Das muss doch eine niederträchtige Lüge sein!«

      Als sie den ganzen Brief durchgelesen hatte, ohne jedoch von der letzten Seite auch nur ein einziges Wort wirklich begriffen zu haben, steckte sie ihn eilig fort und nahm sich vor, sich nicht im geringsten durch ihn beeinflussen zu lassen und ihn nie wieder anzusehen. Aber es nützte nichts: nach einigen Augenblicken holte sie den Brief wieder hervor, versuchte, so gut sie es vermochte, ihre Fassung wiederzuerlangen, und begann von neuem den niederschmetternden Bericht über Wickham zu lesen, indem sie sich selbst befahl, bei jedem Satz so lange zu verweilen, bis sie seinen Inhalt und seine Bedeutung vollständig aufgenommen habe. Was Darcy da über Wickhams Beziehungen zu der Familie in Pemberley sagte, stimmte genau mit dem überein, was dieser selbst ihr erzählt hatte; von der Zuneigung des alten Mr. Darcy zu dem Knaben, davon hatte sie auch durch Wickham selbst gehört, obschon nicht mit so vielen Einzelheiten wie hier. So weit bestätigte also ein Bericht den anderen. Aber in bezug auf das Testament des alten Mr. Darcy gingen die beiden Erzählungen auseinander. Sie konnte sich noch genau an das erinnern, was Wickham ihr darüber mitgeteilt hatte. Eine der beiden Fassungen musste demnach bewusst erlogen sein; und einen Augenblick lang redete sie sich ein, dass ihr Gefühl sie in diesem Fall nicht getäuscht haben konnte. Aber als sie die fragliche Stelle in dem Briefe noch einmal durchlas, in der von Wickhams Verzicht auf die Pfarre gegen eine Abfindung von dreitausend Pfund die Rede war, wurde sie wieder unsicher. In dem Wunsche — und auch in der Überzeugung —, alles unparteiisch zu betrachten, wog sie alles das, was sie nun wusste, gegeneinander ab und versuchte, die größere Wahrscheinlichkeit dieser oder jener Behauptung zu ergründen; doch sie kam zunächst zu keinem Ergebnis. Behauptung stand gegen Behauptung, bewiesen war nichts. Sie las die Stelle noch ein drittes Mal, und nun erschien ihr plötzlich, was sie eben noch als völlig ausgeschlossen von sich gewiesen hatte, durchaus nicht mehr so unmöglich: dass nämlich Darcys Verhalten in diesem Fall vielleicht doch gerechtfertigt gewesen sei.

      Der leichtfertige Lebenswandel und die allgemeine Charakterlosigkeit, deren Darcy seinen Jugendgefährten so unumwunden bezichtigte, entsetzten sie zutiefst, umso mehr, als sie keinen Anhalt dafür hatte, dass die Anschuldigung zu Unrecht erfolgte. Sie hatte ja von Wickham, bevor er auf Dennys Anraten in dessen Regiment eingetreten war, noch nie etwas gehört, und auch von Denny erfuhr sie nur, dass er ihn zufällig nach Jahren in London wiedergetroffen und dort die frühere flüchtige Bekanntschaft mit ihm erneuert hatte. Von Wickhams Vergangenheit wusste sie nur das, was er selbst ihr erzählt hatte. Sie wäre niemals auf den Gedanken gekommen, der Wahrheit seiner Worte nachzugehen, selbst wenn das in ihrer Macht gelegen hätte. Die Art seines Auftretens, sein Aussehen, seine Stimme, nichts hatte je einen Zweifel an seiner Lauterkeit in ihr hervorgerufen. Sie versuchte jetzt, sich irgendeines Beispiels zu erinnern, das seinen guten Charakter unbestreitbar erweisen und Darcys Angriffe auf ihn widerlegen könnte; oder das es ihr wenigstens ermöglichte, in seinen Fehlern und Vergehen, die Darcy einer inneren Haltlosigkeit zuschrieb, nur Irrtümer und jugendlichen Leichtsinn zu sehen. Aber keine solche Erinnerung wollte ihr zu Hilfe kommen. Sie vermochte ihn zwar deutlich vor sich zu sehen mit seinem gewinnenden Wesen und seiner glänzenden Erscheinung, aber sie hätte nicht eine einzige Gelegenheit nennen können, bei der er die vielen guten Eigenschaften, die man ihm allgemein und ohne Zögern beigelegt hatte, durch die Tat wirklich bewiesen hätte.

      Nachdem Elisabeth in ihren Überlegungen so weit gekommen war, kehrte sie wieder zu dem Brief zurück.

      Tatsächlich! Die Geschichte seines Anschlags gegen Miss Darcy, die jetzt folgte, wurde in gewisser Weise durch gewisse Andeutungen Oberst Fitzwilliams am Tage zuvor bestätigt. Und hier, am Schlusse seines Briefes, wies Darcy sie auf denselben Fitzwilliam als Zeugen für die Wahrheit seiner Behauptungen hin — auf Fitzwilliam, der ihr schon selbst erzählt hatte, wie gut er mit allen Angelegenheiten seines Vetters vertraut war, und an dessen Aufrichtigkeit zu zweifeln sie gar keinen Anlass sah. Fast hätte sie den Entschluss gefasst, sich jetzt an den Obersten zu wenden, aber das wäre doch allzu peinlich gewesen, und so kam sie wieder von dem Gedanken ab. Außerdem sagte sie sich, dass Darcy ihr diesen Zeugen nicht genannt hätte, wenn er nicht wüsste, dass er wirklich jedes einzelne seiner Worte bestätigen würde.

      Sie rief sich ihr erstes Zusammentreffen mit Wickham bei ihrer Tante ins Gedächtnis. Sie konnte sich noch genau an einzelne Ausdrücke, ja sogar an ganze Sätze von ihm erinnern. Mit einem Mal kam es ihr zum Bewusstsein, dass die Art seiner Unterhaltung eigentlich sehr unpassend gewesen war, und sie wunderte sich, dass ihr nicht schon damals aufgefallen war, wie er sich und seine Lebensgeschichte sogleich in den Vordergrund gestellt hatte. Sie erkannte jetzt auch, dass sein Handeln fast immer seine Worte Lügen gestraft hatte: er prahlte damit, keine Angst vor einer Begegnung mit Darcy zu haben — Darcy könne ihm ja aus dem Wege gehen, er selbst habe ihn nicht zu scheuen —, und am nächsten Abend blieb er trotzdem dem Ball auf Netherfield fern. Vor der Abreise der Netherfielder hatte er nur ihr seine Leidensgeschichte eröffnet; aber kaum war Darcy fort, führte jeder sie im Munde. Und obwohl er versicherte, dass seine Verehrung für den Vater ihn niemals schlecht über den Sohn sprechen lasse, machte es ihm ganz offensichtlich keine großen Gewissensbisse, Darcy durch seine abfälligen Äußerungen in aller Ansehen herabzusetzen.

      Wie anders sah jetzt alles aus, wenn sie zurückdachte! Seine Aufmerksamkeiten Miss King gegenüber erschienen ihr jetzt als verabscheuenswerte Berechnung; und dass er sich mit einem so geringen Vermögen wie dem ihren zufrieden geben wollte, bewies nun in ihren Augen nicht etwa eine Mäßigung seiner Wünsche, sondern bloß seinen Eifer, seine Gier, möglichst bald wieder zu Geld zu kommen. Auch

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