Скачать книгу

den 2. August 1879.

      Meine liebe Julie!

      Es drängt mich, Dir heute einige Zeilen zu schreiben. Beim Empfang dieses Briefes wird es Dir gewiß auch schon bekannt sein, daß Herr Geib gestern am Herzschlag gestorben. Es tut uns sehr sehr leid, er war ein braver Mann und ein treuer, wackerer Kämpfer im Dienste der Sozialdemokratie. Mein Mann wurde heute morgen so von seiner inneren Stimmung beherrscht, daß ihm die Tränen in die Augen traten, und ich fühle es der armen Frau Geib nur zu gut nach. Sie haben keine Kinder, und so war ihr Mann ihr alles. O, es ist überwältigend, mit einem Schlage so elend in der Welt dazustehen, das Leben muß einem zu einer traurigen Einöde werden. Gestern hatten wir die große Freude, Deinen lieben Mann bei uns zu sehen. Wir machten auch einen kleinen Ausflug ins Gehölz per Wagen, denn mein Mann kann leider immer noch nicht gut gehen. Die Füße sind ihm wie gelähmt, es ist kein Leben darin. Dein Mann wird Dir's späterhin erzählen. Wieviel Angst und Sorge mir dieser Zustand macht, brauche ich Dir wohl kaum zu sagen. Man sieht keine Besserung, und das macht einen mut- und hoffnungslos. Wenn ich daran denke, wie er früher gut zu Fuß war und tüchtig marschieren konnte, und wenn ich ihn jetzt dahingehen sehe, so blutet mir das Herz. Der Gedanke, daß es ihm auch so ergehen könnte, wie dem Großpapa, will mir gar nicht aus dem Sinn, und er ist ja doch noch so jung, wieviel schwerer ist ein solches Schicksal doch für einen jungen Mann, als für jemand, dessen Lebensabend schon ziemlich weit vorgerückt ist. In acht Tagen wird mein Mann eine Kur gebrauchen in Baden-Baden. Mein Bruder ist soeben nach Hamburg zu Geibs Begräbnis. Er wird hoffentlich Deinen guten Mann auch dort antreffen. Mein Mann hat dem Deinigen nach Hannover telegraphiert. Derselbe wird sich auch sehr erschrocken haben, wir sprachen noch über Geibs Kranksein. Für Eure freundliche Einladung tausend Dank, wie gern käme ich mal nach Leipzig, doch daran ist gar nicht zu denken. Dahingegen hat mir aber Dein Mann versprochen, daß Du mit Frida diesen kommenden Herbst uns besuchen sollst. Eine größere Freude könnte es für mich nicht geben. Wir werden uns später noch darüber schreiben. Für heute sage ich Dir Adieu, ich muß hinunter, das Abendbrot zu besorgen. Lebe recht wohl und schreibe mir bald einmal ein paar Zeilen wieder. Tausend herzliche Grüße von uns allen auch für Frida in treuer Liebe Deine

      Emilie Bracke.«

      Als Frau Bracke diesen Brief schrieb, ahnte sie nicht, daß ehe ein Jahr verging, sie ebenfalls Witwe war.

      Dem schweren Verlust, den uns der Tod August Geibs zugefügt, folgten wieder Erfolge. Im August 1879 fanden in Sachsen die Landtagsergänzungswahlen statt, bei denen nach dem Gesetz nur ein Drittel der Wahlkreise beteiligt ist. In einem der Wahlkreise, Leipzig Land, siegte Liebknecht und in Zwickau Land Rechtsanwalt Puttrich. Ein bedeutendes Mehr an Stimmen gegen früher erhielten wir in einem der Dresdener Landwahlkreise und in einem Wahlkreise der Stadt Chemnitz. In letzterer Stadt tobte die Polizei wie besessen. So verhaftete sie kurz vor dem Wahltag zwanzig Parteigenossen, die Flugblätter und Stimmzettel falzten, und führte sie wie ein Bündel Zigarren mit einem Strick umschnürt nach dem Polizeiamt. Dort wurden die meisten der Verhafteten wieder entlassen; dagegen wurden Julius Vahlteich, der Kandidat der Partei, und einige andere wider Recht und Gesetz für mehrere Tage in Haft genommen. Eine Anklage konnte nicht erhoben werden. Zweck dieser Prozedur war, unsere Wahlagitation zu durchkreuzen. Dieser Zweck wurde durch die schnöde Rechtsverletzung, die sich die Chemnitzer Polizei zuschulden kommen ließ, auch erreicht.

      Bei den Reichstagsnachwahlen in Erfurt und in Magdeburg schnitt die Partei sehr günstig ab. Diese Erfolge wirkten so niederschlagend auf die gegnerische Presse, daß ein Teil derselben jetzt befürwortend dafür eintrat, das Sozialistengesetz über den 31. Oktober 1881 hinaus zu verlängern. Anfang Januar 1880 sah Bracke sich genötigt, sein Mandat für den 17. sächsischen Reichstagswahlkreis Glauchau-Meerane-Hohenstein niederzulegen. Dieser Rücktritt vom Mandat veranlaßte die gegnerische Presse zu allerlei plumpen Verdrehungen und Unwahrheiten. Bracke sollte das Mandat niedergelegt haben, weil er weder mit dem »Sozialdemokrat« einverstanden sei, noch sich in Übereinstimmung mit Liebknecht und mir befinde. Weiter hätten geschäftliche Rücksichten ihn zum Rücktritt aus der Öffentlichkeit veranlaßt. Darauf antwortete Bracke in der Nummer 15 des »Sozialdemokrat« vom 11. April 1880:

      »Ich erkläre erstens: Mein Gesundheitszustand ist leider ein so trauriger, daß noch vor Weihnachten mein Arzt Dr. med. Otto Müller, wie er mir nach der seit einigen Monaten eingetretenen Besserung sagte, die ernstesten Bedenken hegte. Auch jetzt leide ich noch an periodisch auftretenden, äußerst heftigen Katarrhen, welche allein genügen, mich zum Stillsitzen zu zwingen; an einem rheumatischen Zustande, der mir oftmals nicht erlaubt, ohne Hilfe wenige Schritte im Zimmer zu gehen; an einem Nervenleiden, welches jede größere Anstrengung und Aufregung als gefährlich, wenn nicht tödlich erscheinen läßt. Wenn an diese Krankheit aber in Braunschweig kein Mensch glaubt, so muß sich die Mehrheit der Einwohner über Nacht in Tiere oder Engel verwandelt haben. Zweitens: Geschäftliche »Rücksichten«, wie überhaupt materielle Interessen haben mich nie in meinem Leben davon abgehalten, für meine Überzeugung meine Pflicht zu tun. Die Behauptung des Gegenteils bei Gelegenheit der mir jetzt auferlegten Zurückhaltung ist eine höchst leichtfertige und grobe Beleidigung. »Auf eine Anzahl adeliger Großgrundbesitzer« habe ich bisher nie »Rücksicht« genommen und glücklicherweise auch keine zu nehmen. Diejenigen Herren, welche bisher mit mir verkehrt, fanden offenbar Geschmack an meinen geschäftlichen Grundsätzen und fragten nicht nach meinem politischen Standpunkte, und diejenigen, welche sich erdreisten möchten, hiernach zu fragen, tun am besten, mir fern zu bleiben. (Bracke führte das väterliche Geschäft: Getreide- und Mehlhandlung. A. B.) Drittens: Ich bedaure allerdings jedes gewalttätige Vorgehen; aber die Geschichte zeigt, daß noch jedesmal die Gewalttat von oben die Gewalttat von unten erzeugte. Ich befinde mich deshalb auch mit meinen Freunden Bebel und Liebknecht wie mit dem »Sozialdemokrat« in Zürich in vollem Einverständnis. Von einem ›Verlust‹ in ihrem Sinne kann deshalb nicht die Rede sein, wenn ich allerdings auch vorläufig zu den Ganzinvaliden gehöre.«

      Diese Erklärung war Brackes letztes Hervortreten in der Öffentlichkeit. Kaum vierzehn Tage später, am 27. April, abends 8 Uhr, starb er an den Folgen eines schweren Blutsturzes im Alter von kaum 38 Jahren. Ein großes Herz hatte aufgehört zu schlagen, einer der liebenswürdigsten Menschen war nicht mehr. Die Partei hatte einen hochintelligenten, unermüdlichen, opferwilligen Parteigenossen verloren, sein Weib und seine vier Kinder einen Gatten und Vater, der mit schwärmerischer Liebe an ihnen hing, seine alten Eltern – der Vater war selbst schon jahrelang leidend – einen liebevollen Sohn. Wir, die wir ihm persönlich näherstanden, einen stets heiteren, lieben Freund und Kameraden, »einen bessern findst du nit«.

      Sonntag, den 2. Mai, wurde Bracke unter enormer Beteiligung der Bevölkerung zur letzten Ruhe bestattet. Und jetzt zeigte sich wieder einmal die Polizei in ihrer ganzen Barbarei und erbärmlichen Nichtswürdigkeit; sie verbot das Tragen von Traueremblemen im Zug und jede Rede am Grabe. Das nahm aber der Feier nicht ihre Würde. Die Parteigenossen Braunschweigs schaufelten selbst das Grab zu, und ihre Frauen bestreuten den Grabhügel mit frischen Blumen, um ihn wurde ein Berg von Kränzen und Palmen aufgebaut. Jahrzehntelang war es üblich, daß die Braunschweiger Genossen am Todestage ihres unvergeßlichen Führers an seinem Grabe eine Gedächtnisfeier veranstalteten.

      Nachdem Bracke sein Mandat niedergelegt hatte, wurde im 17. sächsischen Wahlkreis Ignaz Auer als Kandidat aufgestellt, für dessen Wahl ich in Nummer–5 des »Sozialdemokrat« einen Aufruf zur Geldsammlung veröffentlichte. Am 2. März siegte Auer mit 8225 Stimmen über seinen Gegner, der 7256 Stimmen erhielt. Die Beteiligung an der Wahl war eine mäßige und die Mehrheit Auers keine große. Das lag nicht an ihm. Im Winter von 1879 auf 1880 war namentlich unter den damals im Verhältnis sehr zahlreichen Handwebern die Not aufs höchste gestiegen und hatte allgemein Entmutigung im Gefolge. Die Notlage, besonders unter den Handwebern der Weberdörfer im sogenannten Mülsengrund, war eine so große, daß ich mich veranlaßt sah, über deren Lage eine Enquete zu veranstalten und, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Zustände zu lenken, eine Broschüre veröffentlichte unter dem Titel »Wie unsere Weber leben«, die in zwei Auflagen erschien. Bei Bearbeitung des Materials legte ich mir wiederholt die Frage vor: Wie können diese Menschen überhaupt noch leben?

      Ein anderer Umstand, der auf die Wahlbeteiligung ungünstig einwirkte, war der, daß die Behörde die Wirte bestimmte, keinen Saal zu

Скачать книгу