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      Niemand unter den deutschsprachigen Übersetzungswissenschaftlern hat nachdrücklicher als Rainer Kohlmayer betont, dass der Übersetzer sich in seine Figuren einfühlen müsse: „Das Einfühlungsvermögen ist die unhintergehbare Voraussetzung des Verstehens“ (Kohlmayer 2004: 23). Er hat als Theaterübersetzer und Theaterpraktiker naturgemäß primär Bühnenfiguren vor seinem geistigen Auge, aber viele seiner Forderungen lassen sich getrost verallgemeinern und sind auch so gemeint:

      Die Originalfiguren haben als ästhetische Schöpfungen des Autors ein Recht auf ihre möglichst authentische Stimme und Sprache. Der Literaturübersetzer übersetzt nicht ‚Text‘, sondern Menschen und menschliche Stimmen. (Kohlmayer 2004: 19)

      Dabei gesteht Kohlmayer dem Übersetzer zu, dass ihm die Empathie, die Einfühlung nicht die gesamte Figur in all ihren Facetten erschließt. Deswegen müsse die Fantasie, die er als „Fähigkeit zur emotionalen Hypothesenbildung“ (Kohlmayer 2004: 25; Kursivsetzung im Original) versteht, einspringen und weiterhelfen. Da solche Hypothesen in Bezug auf literarische Figuren nie auf ausreichend abgesicherte Indizien gestützt werden können, also im Stadium der Abduktion bleiben, wird vom Übersetzer Kreativität gefordert: „Der Begriff der ‚Kreativität‘ in der Übersetzungswissenschaft, wenn er nicht auf der Ebene eines Modebegriffs bleiben soll, müsste folglich als abduktive Kompetenz beschrieben werden“ (Kohlmayer 2004: 25; Kursivsetzung im Original).

      Kohlmayer, der „der emotionalen Blindheit zerebraler Translationstheorien“ (Kohlmayer 2004: 25) das Einfühlungsvermögen entgegensetzt, fordert hier etwas, was in der translationsdidaktischen Fachliteratur wenig thematisiert wird, um es vorsichtig auszudrücken. Das bedeutet nun allerdings – ich kann das aus eigener Erfahrung behaupten – keineswegs, dass in praktischen Übungen, wenn es um ästhetisch geformte bzw. fiktionale Texte geht, das Hineindenken in Handeln und Sprechen von Figuren eine untergeordnete Rolle spielen würde. Im Gegenteil: Gerade wenn es um direkte Rede geht, sind die Studierenden oft recht unterschiedlicher Meinung darüber, wie denn nun die authentischste Äußerung einer Figur in einer bestimmten Situation lauten müsse. Nach längeren und manchmal ergebnislosen Diskussionen werden auch verschiedentlich Stimmen laut, die nach Anleitungen verlangen. Es müsse doch wissenschaftliche Literatur geben, aus der man lernen könne, was man bislang offenbar nicht richtig beherrsche. Andererseits verhärten sich die Positionen auch im Zug der Diskussion, wobei die Berufung auf das eigene Sprachgefühl eine zentrale Rolle zu spielen pflegt.

      Solche Auseinandersetzungen, die nicht mit einem Kompromiss enden, auf den sich schließlich und endlich – und nicht vollends überzeugt – alle einigen, gehören zu den Glücksmomenten der Didaktik. Es genügt meistens, die Studierenden selbst zu der Einsicht kommen zu lassen, dass sich ihr eigenes Sprachgefühl in unterschiedlichen Regionen, in unterschiedlichen Milieus, durch unterschiedliche Lektüreerfahrungen und – was man leicht vergisst – durch unterschiedliche Nutzung der sozialen Medien herausgebildet hat. Dennoch sollten sich Gelegenheiten ergeben und wahrgenommen werden, über das Sprachgefühl und seine Bedeutung für ÜbersetzerInnen nachzudenken. Sowohl in der Sprach- als auch in der Übersetzungswissenschaft begegnet man dem Begriff selten. Das Sprachgefühl hatte einen kurzen öffentlichen Auftritt, nachdem im Jahr 1980 die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung die Preisfrage gestellt hatte: „Ist Berufung auf das ‚Sprachgefühl‘ berechtigt?“

      Rufen wir uns in Erinnerung, warum wir überhaupt auf das Problem des Sprachgefühls gestoßen sind. Es ging darum, für Äußerungen (insbesondere in direkter Rede) einen möglichst lebensnahen, glaubwürdigen Ausdruck zu finden. Und entsprechend unserem Thema wollen wir uns im Besonderen die diesbezügliche Aufgabe einer Übersetzerin oder eines Übersetzers von Kinderbüchern vergegenwärtigen.

      Sind die von der Akademie publizierten Antworten (Gauger et al. 1982) der Autoren (es sind sämtlich Männer) hilfreich, speziell im Hinblick auf unsere Thematik?

      Die preisgekrönte Schrift (Gauger / Oesterreicher 1982) verengt den Horizont von Anfang an auf die transregionale Norm und auf die Dichotomie ‚richtig‘ vs. ‚falsch‘: „Die Berufung auf Sprachgefühl kann ja, offensichtlich, nur berechtigt sein, wenn es Gründe gibt, im Sprachgefühl einen verläßlichen Zeugen für Sprachrichtigkeit zu erblicken“ (Gauger / Oesterreicher 1982: 14). Soll das heißen, dass es in Bezug auf Dialekte oder sprachlichen Substandard kein Sprachgefühl – oder um ganz fair zu bleiben – keine berechtigte Berufung auf das Sprachgefühl gibt? So ist es, sagt Gauger, denn Dialekte sind nicht normiert, also fehlt der Maßstab für die Beurteilung der Richtigkeit.

      Die Antwort von Helmut Henne wird ÜbersetzerInnen mehr Zustimmung entlocken. Henne bringt das Konzept der innersprachlichen Mehrsprachigkeit (ohne speziell auf Wandruszka zu verweisen) ins Spiel und sieht ganz realistisch, dass man rückfragen müsse: „Sprachgefühl in welcher Sprache? Wird nicht die Mehrzahl der Deutschsprachigen mehrere Varietäten teilweise sprechen und teilweise verstehen?“ (Henne 1982: 104), um danach zu schildern, wie sich Studierende an der Universität nach und nach die Praktiken des akademischen Diskurses aneignen müssen.1

      In Übersetzungen steht man viel öfter als vor einem Urteil über ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ vor der Frage, ob eine Formulierung ‚angemessen‘ ist oder nicht. Angemessen für welche Person, für welche Situation? Hier haben ÜbersetzerInnen von Kinder- und Jugendbüchern vielfach ständig Entscheidungen jenseits übersetzerischer Routinen zu treffen.

      4.2 Beispiele

      Kommen wir nun zurück zu unserem Ausgangspunkt für das Kapitel über das Sprachgefühl: Es war die Frage der jungen Leserin aus der Südpfalz, warum die Figuren in Christine Nöstlingers Geschichten „so komisch“ reden. Nun weiß man, wenn man sich für Kinderliteratur interessiert, dass ein falscher Zungenschlag ihrer Heldinnen und Helden der geringste Vorwurf ist, den man der österreichischen Schriftstellerin machen kann. Die Lebensnähe der von ihr geschaffenen Gestalten und ihrer Konflikte ist Anlass für viele einschlägige Preise und für ihr hohes Ansehen in der Branche.

      Die Antwort liegt auf der Hand. Während sich LeserInnen etwa in Frankreich, um sich ein Urteil über die sprachliche Authentizität eines jungen Protagonisten zu bilden, fragen würden: Wie alt ist das Kind und in welchem sozialen Milieu bewegt es sich?, muss im deutschen Sprachraum die erste Frage der regionalen Herkunft gelten. Kinder aus Berlin sprechen anders als Kinder in München oder in Wien, auch wenn sie derselben sozialen Schicht angehören. So wie es im deutschen Sprachraum keinen überregionalen Substandard gibt, existiert auch keine gesamtdeutsche Kinder- und Jugendsprache, auch wenn TV-Serien für die Verbreitung einer Reihe von sprachlichen Innovationen sorgen, die von Kindern leicht aufgenommen und oft auch schnell von Erwachsenen in ihren Sprachschatz integriert werden.

      Die Verschränkung von Diatopik und Diastratik im deutschen Sprachraum ist ÜbersetzerInnen als Problem wohlvertraut (und gut beschrieben, z. B. bei Albrecht 2005: 243ff.). Dagegen muss man sich bei Übersetzungen aus dem Deutschen in der Regel keine Gedanken über Helvetismen oder Austriazismen machen. Wenn Nöstlingers Kinder über die Schule reden und von ihren Fünfern oder vom Sitzenbleiben erzählen, ist das für italienische oder französische ÜbersetzerInnen kein Anlass, sich irgendwelche Normabweichungen auszudenken.1 Die sprachliche Irritation ist eine rein innerdeutsche. Es scheint, als sollte es zur leichteren Verbreitung österreichischer Kinderliteratur intralinguale Übersetzungen geben. Wir werden gleich sehen, dass die Idee nicht so skurril ist, wie sie auf den ersten Blick anmuten könnte.

      Die Tatsache, dass das Deutsche eine plurizentrische Sprache ist, wurde bei der Buchproduktion lange Zeit ignoriert. Was richtiges Deutsch ist, wurde mit demographisch-statistischen Argumenten geklärt. Seit einigen Jahrzehnten wehren sich viele Sprecher jedoch gegen die traditionelle Ansicht, ihr Deutsch sei eine – mit welchen wohlwollenden Adjektiven auch immer belegte – Abweichung von der einzig gültigen Norm. Organisierter (friedlicher) Widerstand hat bei den ‚Minderheiten‘ sowohl zu größerer sprachlicher Sensibilität als auch zur Stärkung des Selbstbewusstseins geführt und im Bereich der für Kinder produzierten Lesestoffe für Initiativen gesorgt, die dem Sprachgefühl Qualitäten abverlangen, die bislang wenig gefragt und noch weniger trainiert wurden. Dazu im Anschluss drei unterschiedlich gelagerte Fälle.

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