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auf sie ein. Eltern und PädagogInnen wissen natürlich, dass es Kinder gibt, die bereits im Grundschulalter umfangreiche Geschichten verfassen; deren Distribution beschränkt sich aber gewöhnlich auf den Verwandtenkreis, sofern sie nicht überhaupt nur ins Familienarchiv wandern. Doch es sind auch schon einzelne Kinder, vorwiegend Mädchen, in die Literaturgeschichte eingegangen. Ihre Werke repräsentieren in etwa das, was man in der Kunst als „art brut“ bezeichnet. Ein berühmter Fall sei immerhin erwähnt, zumal der namhafte Schriftsteller H. C. Artmann als Übersetzer seine Hand im Spiel hatte.2 Angeregt durch die Lektüre zahlreicher konventioneller Beziehungsromane, verfasste die neunjährige Daisy Ashford, die bezeugtermaßen unbeschränkten Zugang zum elterlichen Bücherbestand hatte, Ende des 19. Jahrhunderts Geschichten, deren orthographische Unbekümmertheit noch mehr zum Charme ihrer Werke beiträgt als die altklugen Kommentare der auktorialen Erzählerin. Was die Adressierung betrifft, so kehren sich hier die üblichen Verhältnisse um, denn das literarisch frühreife Mädchen hat handlungsmäßig herkömmliche Liebesromane geschrieben, die wohl für Erwachsene gedacht waren, da sich gleichaltrige Kinder für solche Themen ja noch nicht begeistern.

      3 Übersetzungstheoretisches

      Man kann, wie Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz über „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1923 / 1963), die Auffassung vertreten, dass Kunstwerke nicht im Hinblick auf Rezipienten entstehen – „kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft“ (Benjamin 1963: 182) – und dass dasselbe analog auch für die Übersetzung gilt: „Wäre sie […] für den Leser bestimmt, so müßte es auch das Original sein“ (Benjamin 1963: 183). Die meisten modernen Literatur- und Übersetzungstheoretiker folgen ihm darin allerdings nicht, und am wenigsten wohl diejenigen, die sich mit Kinderliteratur beschäftigen. Es ist nicht abwegig sich vorzustellen, dass ein Mensch seinen Liebeskummer in ein Gedicht gießt, das er der Öffentlichkeit vorenthält, aber es wäre wohl eine sehr ungewöhnliche Reaktion, sich mit dem Verfassen eines Kinderbuchs über die Enttäuschung hinwegzutrösten. Dabei muss man freilich nicht von der Idee einer unüberschaubaren Leserschaft ausgehen; nicht wenige Bucherfolge in diesem Sektor sind, den Berichten ihrer AutorInnen zufolge, zunächst für ein einziges ganz bestimmtes Kind, in der Regel natürlich ein eigenes, entstanden, aber ganz ohne den Gedanken an ein Publikum – und sei es zahlenmäßig noch so beschränkt – wird man sich Kinderbücher nicht entstanden denken dürfen.

      Wie generell mit Übersetzungen literarischer Texte umgegangen wird, hängt – sehr verallgemeinernd gesprochen – von der Translationskultur des jeweiligen Landes ab. In den – ohnedies nicht sonderlich übersetzungsfreudigen – anglophonen Sprachgemeinschaften dominiert die Einbürgerung, domestication, covert translation; im deutschen Sprachraum genießt dagegen seit den kanonisierten Übersetzungen der Sturm-und-Drang-Zeit und der Frühromantik die Verfremdung, foreignization, overt translation, mehr Kredit; Frankreich hat nach dem Zweiten Weltkrieg seine Orientierung an den Idealen der Belles Infidèles schrittweise aufgegeben und bisweilen dem entgegengesetzten Extrem gehuldigt.

      Für Kinderliteratur aber scheint europaweit zu gelten, dass die Anpassung an die Zielkultur das unhinterfragbare Mittel der Wahl ist, um die jungen LeserInnen nicht zu irritieren oder zu verunsichern. Dabei sind allerdings weniger rein sprachliche Aspekte als im weitesten Sinn kulturelle Faktoren im Fokus. Die Untersuchung von Juliane House (2004) – übrigens das einzige mir bekannte repräsentative Forschungsprojekt – hat an zahlreichen aus dem Englischen ins Deutsche übersetzten Kinderbüchern zeigen können, wie in den zielsprachlichen Versionen kulturelle Filter unterschiedlichster Art eingezogen werden.

      Es wäre zweifellos aufschlussreich, kulturbedingte Übersetzungsprobleme auch für andere Sprachenpaare auf so breiter Basis zu untersuchen. Bekannt und oft nacherzählt: die Auseinandersetzung Astrid Lindgrens mit ihrem französischen Verleger, der Pippi Langstrumpf im Namen des gesunden Menschenverstands französischer Kinder verwehren wollte, ein Pferd zu stemmen; ein Pony sei das äußerste Zugeständnis (Blume 2001: 102ff., bes. Fußnote 175), was die Autorin zu einer sarkastischen Replik veranlasste.

      Nicht allgemein bekannt dürfte der Grund dafür sein, warum der Hamburger Klopp-Verlag die Übersetzungen der in Spanien (und weit darüber hinaus) außerordentlich erfolgreichen Manolito-Bände von Elvira Lindo aus dem Programm genommen hat. Auf Anfrage einer Innsbrucker Dozentin (zum Anlass vgl. infra 4.2) antwortete die Vertreterin des Verlags: „Leider konnte trotz intensivster Bemühungen kein TB-Verlag gewonnen werden. Deren Ablehnungen gipfelten in dem unguten Gefühl, dass die häusliche Gewalt in diesen Geschichten für den deutschen Markt nicht erfolgversprechend sei.“1

      Es ist nachvollziehbar, dass im Zusammenhang mit Kinderliteratur viel von kulturellen Unterschieden und dem zweckmäßigen oder faktischen Umgang mit ihnen die Rede ist. Es sind die Phänomene, die am deutlichsten auffallen und sich bei wissenschaftlichen Untersuchungen am ehesten aufdrängen. Ob sie in Zeiten der Globalisierung das Privileg nahezu exklusiver Aufmerksamkeit verdienen, ist eine andere Frage. Über kulturelle Unterschiede wissen Kinder heute als Mitglieder von Patchworkfamilien, aus Urlauben oder durch Klassenkameraden mit fremdkulturellem Hintergrund oft gut Bescheid, so dass das Eliminieren solcher Diskrepanzen wie eine Verbeugung vor der Skopostheorie erscheint, wenn man nicht überhaupt von einem Akt der Zensur sprechen will.

      Was mich als Leser (bzw. hauptsächlich als Vorleser) von Kinderbüchern dagegen immer verwundert hat, ist die Seltenheit von Kommentaren hinsichtlich der Sprache. Diesbezüglich werden Kinder, die viel lesen (oder vorgelesen bekommen), vermutlich weit öfter mit irritierenden Erlebnissen konfrontiert. Die heutigen deutschsprachigen Kinder werden durch die Medien zwar an die Existenz unterschiedlicher Varietäten sehr viel früher gewöhnt als noch ihre Großeltern, aber besonders wenn es um Geschichten aus dem täglichen Leben geht, stellen Kinder mit einer altersgemäß entwickelten sprachlichen Sensibilität fest, dass Figuren in ihren Büchern häufig nicht „ihre“ Sprache sprechen. Eine deutsche Kollegin aus Rheinland-Pfalz hat mir vor Jahren berichtet, ihre Tochter verschlinge die Geschichten von Christine Nöstlinger, aber eines Tages habe sie gefragt: „Warum reden die in diesen Büchern so komisch?“

      4 Sprachgefühl

      4.1 Annäherung an einen umstrittenen Begriff

      Mit dieser Frage der jungen Leserin kommen wir nun zum zentralen Punkt unserer Überlegungen. Wissen Verfasserinnen und Verfasser von Kinderliteratur, wie ihre Heldinnen und Helden „in Wirklichkeit“ reden? Findet sich eine achtjährige Grundschülerin in der gleichaltrigen Hauptfigur wieder? Das gilt natürlich in gleichem Maß für Originale wie für übersetzte Werke, denn wir haben es ja mit Texten zu tun, bei denen die „performative Unauffälligkeit“ (Heller 2013) zur elementaren Rezeptionsbedingung gehört; das heißt, das Translat wird nicht als Translat wahrgenommen und schon gar nicht als solches reflektiert.

      Wenn Radegundis Stolze in ihrem Einführungswerk in den hermeneutischen Ansatz demonstrieren will, was für „vielfältiges sprachliches Wissen“ (Stolze 1992: 272) zum Handwerkszeug des kompetenten Übersetzers gehört, ruft sie als Theoretiker Mario Wandruszka und dessen Konzept der muttersprachlichen Mehrsprachigkeit (Wandruszka 1979: 13ff.) auf und bemüht als Praktiker den renommierten Übersetzer Curt Meyer-Clason, der die ganze Bandbreite dieser innersprachlichen Mehrsprachigkeit durch Aufzählung von VertreterInnen diatopischer und diastratischer Varietäten eindrucksvoll (und wohl auch ein wenig großsprecherisch) vorführt:

      Im Kopf muß das vorhanden sein, womit der Übersetzer arbeitet: vor allem seine Sprache, die Sprache von Vater und Mutter, seiner Geschwister, die Sprache vieler Menschen und Gesellschaftsklassen, seines Landes, seiner engeren Heimat mit ihrem Tonfall, Dialekt, Jargon, Slang. Der Übersetzer muß also im Ohr gespeichert haben, wie ein Handwerker, ein Hilfsarbeiter, ein Bürger der Vorkriegs- und Nachkriegszeit spricht, ein Beamter, ein Landedelmann aus dem Bayerisch-Österreichischen etwa, wie ein Hochschullehrer, ein Schulmann, wie ein Griechenschwärmer oder ein Atomkraftgegner redet, er muß die Suada der Medienarbeiter kennen, aber auch den Tonfall der Toilettenfrau in den Residenzstuben. (Zit. nach Stolze 1992: 272)

      Und da Meyer-Clason offenbar bemüht war, nichts auszulassen, was je an Anforderungen an ihn gestellt wurde

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