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Das hat nichts mit Vetterliwirtschaft zu tun. Bis in die oberste Leitung der Firma habe ich es nicht geschafft. Und ich musste mich behaupten neben Harvard- und Princeton-Absolventen. Neben ihnen hatte ich es mit weniger Ausbildung und schlechterem Englisch nicht einfach. Ich brauchte oft mehr Zeit für meine Entscheidungen. Aber ich schaffte es ohne Universitätsstudium. Und ich wusste immer, wo mein Platz war. Als es einmal um einen höheren Posten ging, für den ich im Rennen war, sagte mir der Präsident, ein alter Kollege: «Du bist zu nahe bei den Leuten, darum kannst du sie nicht rauswerfen».

      Ich verstand die Kritik. Ich musste mich wohlfühlen in meiner Haut und mir treu bleiben. In den Grossfirmen Amerikas ist es wichtig, beruflich immer höher zu steigen. Die Karriere zählt. Aber ich weiss, man kann sich auch verlieren, überschätzen und dann unweigerlich abstürzen.

      1989 bin ich als Vice President und Direktor der Greensboro-Niederlassung von Ciba-Geigy zurückgetreten. Ich war 62 und fühlte: Man muss gehen, bevor der «burnout» einsetzt. Heute will man nicht mehr, dass die Leute jahrelang in derselben Firma bleiben und dann für die geleisteten Dienste eine Uhr bekommen. Sie wollen keine Sesseldrücker feiern. Der Gründer von Apple, Steve Jobs, suchte den ständigen Turnover – Leute mit neuen Gedanken und unbelastet von Vergangenem. Das ist Gedankengut des 21. Jahrhunderts. An der Abschiedsparty bei meinem Rücktritt staunten jüngere Mitarbeitende: «Wir können es nicht fassen, dass Sie so lange bei der gleichen Firma blieben.»

      Von Zuhause aus erzogen, Verantwortung im öffentlichen Leben zu tragen, war ich während der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre – bis zu meinem 77. Geburtstag – weiter in verschiedenen lokalen und regionalen Organisationen tätig, so unter anderem im Vorstand einer Gruppe von Spitälern der Region und im Aufsichtsrat für Kinderhorte und Tagesheime. Daneben hatte ich ein Mandat als Vorsitzender der Stadtund Bezirkskommission für Planung und Wirtschaftsentwicklung der Region. Ciba-Geigy unterstützte mich in dieser Tätigkeit fürs Gemeinwohl und überliess mir grosszügig ein Büro. Meine grosse Befriedigung ist, dass heute Dinge in Greensboro und Umgebung wahr geworden sind, die wir damals angedacht und geplant haben.

      Jetzt ist mein Leben mit Joe ruhiger geworden. Ihre und meine Kinder besuchen uns, oder wir sind zu ihnen und unseren achtzehn Grosskindern unterwegs nach New York, Washington, Boston, Rhode Island und Arkansas. Die Reisen in die Schweiz werden seltener. Aber Heimweh nach Basel, nach dem Münsterplatz und nach den Bergen habe ich immer wieder. Und wenn ich ans Hotel Edelweiss in Mürren mit direktem Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau denke, wird mir warm ums Herz. Doch zurück in die Schweiz, um dort zu leben, das könnte ich nicht mehr. Ich fühle mich heute zuerst als stolzer Amerikaner, aber gleichzeitig auch als treuer Auslandschweizer und Basler. Das ist alles vereinbar.

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       Donald Tritt, 1931

      Von Columbus, Ohio, nach Granville, Ohio

      «ICH TRAGE DEN ROTEN SCHWEIZER PASS IM HERZEN.»

      Donald Tritt bedauert, nicht auf Schweizerdeutsch erzählen zu können. Er ist in den USA geboren, als Kind von Schweizer «Secondos», und hat es verpasst, Deutsch zu lernen. Aber seine Liebe zur Schweiz und zum Simmental, wo seine Vorfahren herkommen, ist gross: «I am American, but I feel Swiss very, very much», sagt er mit ruhiger, angenehmer Stimme und zeigt stolz auf seine fünfhundert neuen Schweiz-USA-Pins, die er auf eigene Kosten anfertigen liess. Quadratisch und nicht rechteckig, wie üblich, sollte dabei das Schweizer Wappen auf dem Pin sein – das Schweizer Kreuz sei ja schliesslich so.

      Mein Bild von der Schweiz ist nicht realistisch, sondern idealistisch. Schweizer Freunde hier in Amerika weisen mich gelegentlich schmunzelnd darauf hin, wenn ich mal wieder in den höchsten Tönen von diesem Land schwärme. Ich möchte das Land meiner Vorfahren wirklich kennen. Und schön wäre es, ich hätte den Schweizer Pass. Vater war es damals als Einwanderer der ersten Generation nicht bewusst, dass er für meinen Bruder und mich die Doppelbürgerschaft hätte beantragen sollen. Und trotz intensiver Bemühungen scheint es unmöglich, dass ich noch Schweizer werden darf. Das ist und bleibt für mich eine herbe Enttäuschung.

      Zum Trost trag ich den roten Schweizer Pass in meinem Herzen und versuche, so viel wie möglich für die Schweizer Belange in den Vereinigten Staaten zu tun. Ausserdem kann ich jederzeit aus meiner Bibliothek ein Buch über die Schweiz hervorholen. Dann fühl ich mich irgendwo dort – in ihrer Geschichte, in ihren Geschichten aber auch in ihrer Kunst oder in ihren Gegenwartsfragen. Und wenn ich hier am Waldrand in mein Haus eintrete, sehe ich als Erstes die markante Kapelle von St. Stephan und fühle mich ins Simmental versetzt, wo meine Ursprungsfamilie herkommt. Ich habe die Gegend um den Weiler St. Stephan über mehrere Meter hinweg an die Zimmerwände malen lassen – das kleine Dörfchen mit den Wiesen, Feldern und dem Wald.

      Vor über dreissig Jahren begann ich mit Bekannten am Küchentisch mit der Familien- und Ahnenforschung der Tritt oder Tritten. Wann immer ich in einer neuen US-Stadt war, stöberte ich in den Telefonbüchern nach Leuten, die so hiessen. Schliesslich hatte ich auf meiner Adressliste etwa zweihundert mit meinem Namen in den Vereinigten Staaten. In einer fünfzehnköpfigen Forschergruppe tasteten wir uns Schritt für Schritt vorwärts, um mehr über unsere Wurzeln zu erfahren. Auf einer Studienreise ins Berner Oberland stiessen wir auf Zivilstandsämtern und in alten Pfarreibüchern im Simmental auf Quellen, die unsere Familie bereits 1562 erwähnen. Stolz sind wir auf die beiden Familienbücher, die unsere Gruppe aus den Forschungsergebnissen geschaffen hat; weitere werden folgen. Wir sind uns nun sicher: Wer Tritt oder Tritten heisst, kommt definitiv aus St. Stephan im Simmental. Als Hobbyhistoriker interessiert mich auch die Geschichte unserer in Amerika weit verzweigten Familien, die ab 1739 aus dem Berner Oberland ausgewandert sind. Wir haben rund 21 000 Namens- und Lebensdaten. Aber über ihre Schicksale, wo sie wohnten und was sie in ihrem Leben taten, wissen wir erst bruchstückweise Bescheid.

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      Donald Tritt als Einjähriger mit seinen Eltern in Columbus, Ohio.

      Mein Schweizer Urgrossvater liess sich 1864 in Columbus am Scioto-Fluss nieder. Er war Mitbegründer des Helvetia Unterstützungsvereins, und meine Urgrossmutter gründete die Ladies Aid Alpenrösli Gruppe – beides Organisationen, die bis heute existieren.

      Ich bin es nicht gewohnt, so viel von mir zu reden. Meist höre ich in meinem Beruf als Psychotherapeut anderen Menschen zu und helfe ihnen, durch Nachdenken über die eigene Situation sich in ihrem Leben besser zurechtzufinden.

      Meine ersten Lebensjahre waren nicht eben leicht. Ich bin am 2. Juni 1931 in Columbus im Staate Ohio geboren. Als ältester Sohn von Gustav Jakob und Ruth Weaver Tritt. Mein Bruder Paul kam zwei Jahre später auf die Welt. Ich war ein einsames Kind, und meine Mutter kannte ich nur als kranke Frau. Sie litt an Tuberkulose, war oft in Sanatorien und wenig daheim bei uns. Und wenn sie da war, durften wir Kinder jeweils nur bis an ihre Zimmertür. Es war nie heimelig mit ihr, kuscheln oder sie umarmen war wegen der Ansteckungsgefahr verboten.

      Im Alter von 29 Jahren verstarb Mutter. Paul war fünf, ich sieben Jahre alt. Ich weiss noch genau, wo ich stand, als ich meinem Bruder sagen musste, dass Mutter gestorben war. Was es bedeutete, verstand ich nicht. Ich wusste nur, es war sehr schlimm. Mutter würde nie mehr zu uns zurückkehren. Ich fühlte mich innerlich leer und allein-gelassen.

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      Als Achtjähriger mit seinem kleinen Bruder Paul und seiner Schweizer Tante aus Beggingen, Schaffhausen.

      Ein Gefühl von Familienliebe und Geborgenheit spürte ich beim Besuch bei unseren älteren Schweizer Verwandten, meine Schweizer Tanten waren ein beglückendes Bindeglied zur Schweiz. Ich erinnere mich, dass ich sie als Kind vor dem Einschlafen bis weit in die Nacht hinein auf Schweizerdeutsch Geschichten erzählen hörte. Sie redeten von einem weit entfernten Land, über das frühere Bauernleben dort und über zahme Hasen, die sich in der Scheune tummelten; über die heimatliche Geschichte auch, das Alltagsleben und über die schweizerische Verbundenheit mit der Neuen Welt. Und die Grosseltern sagten «Buebe» zu uns.

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