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gegangen und habe seine Familie zurückgelassen! Vater dachte ökumenisch und hatte sehr viel Humor – diesen speziellen Basler Humor, den viele Schweizer nicht verstehen. Ausserdem meinen sie, Baseldeutsch sei eine Fremdsprache.

      Meine Kindheit war im Schutz der grossen Familie glücklich, aber der Zweite Weltkrieg war in der Grenzstadt doch prägend: Ich wurde Meldebote im internen Luftschutz. Vater war als Luftschutzchef dafür besorgt, dass bei Alarm alle vierzig bis fünfzig Personen aus dem Missionskomplex in den Keller gingen, Studenten, Lehrer und all deren Familien. Eine Zeitlang kamen die Flieger jede Nacht. Wir mussten verdunkeln, denn die beleuchtete Schweiz wäre ein wichtiger Hinweis für die Bombardements der Amerikaner im nahen Deutschland gewesen. Deutschland hatte seine Munitionsfabriken nahe an der Schweizer Grenze gebaut; so waren sie sicher, dass sie nicht bombardiert würden. Wenn alle im Luftschutzkeller unten waren, fuhr ich mit dem Velo bei dunkler Nacht ins Spalenschulhaus zum Luftschutzposten. Ich war stolz, die Armbinde tragen zu dürfen, die mich autorisierte, während des Alarms allein durch die Stadt zu fahren. Angst verspürte ich nie.

      Was ich beruflich machen würde, war für mich schon als fünfjähriger Bub klar: Ich wollte Pfarrer werden wie mein Vater und meine beiden Grossväter. Aber der Schuldruck im Humanistischen Gymnasium wurde unerträglich. Ich strengte mich an, aber nach kurzer Zeit fingen die Probleme an. Im zweiten Jahr hatte ich Mühe und im sechsten Jahr am «Gymmeli» wurde es dramatisch. Für mich war der Schulstoff schwierig, Latein, Griechisch, Französisch, Mathematik, einfach alles. Hebräisch wäre in der siebten Klasse noch dazugekommen. Vater sprach mit mir über die schulischen Schwierigkeiten: «Man muss aufpassen, dass man nicht etwas durchzwängt, was vielleicht nicht Gottes Wille ist.» Ich rang innerlich mit mir und entschied: Pfarrer zu werden war nicht mein Weg! Ich erlebte mein Versagen als grosse persönliche Niederlage. Was nun?

      Freunde halfen mir und meinen Eltern im Entscheid, meine weitere Schulbildung an der Ecole Supérieure de Commerce in Neuenburg fortzusetzen. Ich wohnte bei einer liebenswürdigen welschen Familie in Saint-Blaise. Plötzlich ging mir der Knopf auf – das Lernen fiel mir leichter. Ich erlebte die Neuenburger Jahre als befreiende Zeit und kehrte mit dem Handelsdiplom nach Basel zurück. Um nicht verwandtschaftlich verbandelt zu sein, riet mir mein Onkel von der Bank Sarasin, die weitere Ausbildung bei der Schweizerischen Volksbank zu absolvieren. Das dreijährige Praktikum und der Unterricht beim kaufmännischen Verein wurden mehrmals unterbrochen durch die Rekrutenschule, dann die Unteroffiziers- und anschliessend die Offiziersschule in Bern, die letzte übrigens, in der die Infanterieaspiranten den Umgang mit Pferden und das Reiten lernten. 1948 wurde ich im Berner Münster zum Leutnant brevetiert. Meine Eltern konnten sich das Zugbillett nicht leisten. «Wir sind im Geist bei dir», liessen sie mich wissen und waren sehr stolz auf ihren Zweitjüngsten.

      Die Direktion der Schweizerischen Volksbank ermutigte mich, nach Amerika zu gehen. Wenn man weiterkommen wollte, gehörte ein US-Jahr dazu. Amerika galt als grosses Vorbild. Die Leute fragten nicht, was man dort machte. «IAG» im Zeugnis war einfach wichtig für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn!

      Walter Schiess, ein Vetter meines Vaters, war Anwalt für die damals führende Schreibmaschinenfirma Remington. Er half, einen Kontakt zu seinem amerikanischen Anwaltskollegen zu knüpfen, der mir versprach, bei seiner Firma in New York ein gutes Wort für mich einzulegen.

      1949 gab ich auf der US-Botschaft in Bern für ein Visum ein. Untätig zu warten, bis ich nach Amerika ausreisen konnte, kam für meine Eltern nicht in Frage. Mutter hatte eine Bekannte in Paris, die mich als Tellerwäscher in die Mensa der Pariser Universität vermittelte. Paris – immer noch gezeichnet von den harten Kriegsjahren – war bedrückend. Viele Menschen bettelten auf den Strassen. Am Desk des YMCA, wo ich wohnte, stand in grossen Lettern: «Nous attendons une aire nouvelle où la justice reignera».

      Ich war ein guter Arbeiter in der Uni-Mensa, und es gab für mich gratis Essen und ein paar Francs Lohn. Wenn ich im Café die Studenten beim Hinausgehen kontrollieren musste, ob sie Besteck klauten, war das sehr unangenehm. An den Nachmittagen streifte ich durch die Stadt, besuchte den Louvre. Mit anderen Menschen hatte ich wenig Kontakt; allein zu sein, machte mir wenig aus.

      Ich hatte noch einen zweiten Job, für den ich morgens um sechs Uhr aufstand. An den Schaltern der Folies Bergère im Quartier Latin musste ich Tickets kaufen und sie einer Agentur zum Wiederverkauf bringen. Nach sieben Monaten endlich kam das versprochene Visum für Amerika.

      In dritter Klasse auf der S. S. De Grasse reiste ich Ende Dezember 1949 in sieben Tagen über den Atlantik nach New York. Ich war trotz stürmischem Meer nie seekrank. Ein Amerikaner, der mit mir die Schiffskoje teilte, fand es naiv, dass ich aufgrund eines äusserst vagen Job-Versprechens nach Amerika reiste. «I hope you succeed!», liess er mich wissen. Für mich war klar, die Einladung des Anwalts «come and see us» war quasi ein Arbeitsvertrag.

      Niemand holte mich am Hafen ab. Mit einem Taxi fuhr ich ins YMCA, und eine Woche später fand ich in Manhattan an der 87th West Street bei zwei älteren Damen für sieben Dollar die Woche ein Zimmer. Ich genoss das Dolcefarniente in der Grossstadt. Als der Remington-Anwalt mich am Telefon abfertigte: «I am away for the next two weeks, come and see me later … – ich bin die nächsten zwei Wochen weg, kommen Sie später!», wurde ich nicht hellhörig, keinerlei Warnlampen blinkten. Wie naiv und unerfahren war ich! Nach seiner Rückkehr lud er mich zum Lunch in ein teures Restaurant ein. Ich sprach miserabel Englisch, wir diskutierten über alles Mögliche, nur nicht über eine Anstellung. Am Schluss fragte ich schüchtern, wie es denn mit der versprochenen Arbeit sei. «Let me think about it – I am leaving for Washington.» Er war auf dem Sprung nach Washington, und mir ging endlich ein Licht auf: Der will mich loswerden!

      Mir wurde mulmig zu Mute, ich geriet in Panik, denn ich hatte nur noch knappe achtzig Dollar in der Tasche. Auf dem Schweizer Konsulat wurde mir geholfen, einen Brief aufzusetzen. Ich sei nach Amerika gekommen, um zu arbeiten. Die Antwort aus dem Anwaltsbüro war knapp und eindeutig: «If you can’t wait until things work out, you better take the next boat back! – Wenn Sie nicht warten können, bis sich die Dinge klären, nehmen Sie besser das nächste Schiff zurück!» Zurück? Nie und nimmer. Das hätte mir mein Stolz nicht zugegeben.

      Ausgerechnet in jenen Tagen schrieb Mutter, die Union Trading Company in Basel habe sich nach meiner Adresse wegen eines Stellenangebots erkundigt. Aber ich wollte mich nicht unterkriegen lassen: Zwölf Monate Amerika, dann komm ich heim, war mein Entschluss. Ich musste es einfach schaffen. Mit meinem Résumé in der Hand ging ich an der Wall Street von Tür zu Tür. Ich meldete mich jeweils unten beim Pförtner an: «I am looking for a job.» Bei den Schweizer Banken hiess es «complete an application form», ohne feste Zusage. Bei der American Express liess man mich umgehend wissen: «Sie können morgen anfangen!»

      Wie dankbar war ich für die 24 Dollar, die ich ab Ende Januar 1950 pro Woche verdiente. Als Ausläufer ging ich mit Amexco-Checks unter dem Arm zu den anderen Banken. Paketweise verschob ich Checks und lief die Wall Street rauf und runter. Ich arbeitete sehr speditiv und war meist am frühen Nachmittag mit meiner Runde fertig. Das bot mir Gelegenheit, eine bessere Stelle zu finden. Nach vier Wochen bei American Express trat ich eine Stelle an im Commerical Credit Department der privaten, englischen J. Henry Schroder Banking Corporation. Hier lernte ich sehr viel, auch im Umgang mit hilfreichen, unkomplizierten amerikanischen Kollegen. Noch heute gehen viele meiner freundschaftlichen Beziehungen auf diese Zeit zurück.

      Und ich fühlte mich auf einmal zu Hause in New York – die Stadt war ein grosses Wunder. Ich stieg auf alle Wolkenkratzer, lief stundenlang durch die Hochhäuserschluchten. Am Mittag ass ich jeweils im «Automaten-Restaurant», einer neuen Erfindung. Man schob die Nickel rein, und aus dem Türchen kamen Kaffee oder Sandwiches.

      Nach dem ersten US-Jahr zog es mich nicht heimwärts. Ich hatte noch zu wenig erlebt und gesehen. Aber, so fragte ich mich, gibt es neben den Jobs in der amerikanischen Bankenwelt etwas in der Industrie für mich? Eine Kollegin auf der Bank half mir, ein Bewerbungsschreiben aufzusetzen, das ich verschiedenen Firmen in Manhattan vorlegte. Zur gleichen Zeit wurde ich von einem Vetter zweiten Grades meines Vaters, Karl Suter, damals Executive Vice President von Geigy in New York, zu ihm nach Hause eingeladen, zusammen mit einer Gruppe anderer junger Schweizer. «Nur die Banken, das ist nicht Amerika», meinte er. Ob ich im Personalbüro von Geigy vorsprechen

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