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zur Versorgung des Tumors angreifen, wäre es sogar möglich, einen Tumor auszutrocknen und so seine Rückbildung einzuleiten.46, 47

      Die Durchquerung der Wüste

      Von den etablierten Wissenschaftlern wollte sich niemand mit der »Klempner-Theorie« befassen, die ein Chirurg entwickelt hatte. Judah Folkman war in ihren Augen ein Handwerker, der mit Rohrsystemen arbeitete und wahrscheinlich keine Ahnung von Krebsforschung hatte. Allerdings war er Professor an der Harvard Medical School und Leiter der Chirurgie am renommierten Children’s Hospital. Daher erklärte sich das New England Journal of Medicine 1971 bereit, seine exzentrische Hypothese zu veröffentlichen.48

      Später berichtete Folkman von einem Gespräch, das er in dieser Zeit mit einem Kollegen im Krankenhauslabor führte, mit Professor John Ender, einem Nobelpreisträger für Medizin. Folkman befürchtete, er habe zu viel von seinen Ideen preisgegeben. Hatte er mit der Veröffentlichung seines Artikels womöglich so viel verraten, dass konkurrierende Labore nun seinen Ansatz kopieren würden? Ender sog an seiner Pfeife und meinte lächelnd: »Ihr geistiges Eigentum ist perfekt geschützt. Niemand wird Ihnen glauben!«

      Tatsächlich gab es auf Folkmans Artikel keinerlei Reaktionen. Schlimmer noch, seine Kollegen zeigten ihm ihre Missbilligung deutlich: Wenn er bei Konferenzen sprach, standen sie geräuschvoll auf und verließen den Saal. Man munkelte, er manipuliere seine Forschungsergebnisse, um seine Theorie zu stützen, und noch schlimmer für einen Arzt: Man nannte ihn einen Scharlatan. Nach einer brillanten Karriere als Chirurg sei er vom Weg abgekommen. Studenten, die für den Betrieb eines Forschungslabors unverzichtbar sind, mieden ihn. Sie wollten ihre Karriere nicht riskieren, indem sie mit ihm in Verbindung gebracht wurden. Ende der Siebzigerjahre verlor Folkman sogar seine Position als Leiter der Chirurgie.

      Trotz dieser Rückschläge blieb er von seiner These überzeugt. 20 Jahre später erklärte er dazu: »Ich wusste etwas, was niemand sonst wusste, und ich war im Operationssaal gewesen. Nicht die Chirurgen kritisierten mich, sondern die Grundlagenforscher, und ich wusste, dass viele von ihnen Krebs nur auf einer Trägerplatte gesehen hatten. Ich wusste, dass sie nicht die Erfahrungen hatten, die ich gemacht hatte. Die Tumoren, die dreidimensional wachsen und Blutgefäße brauchen – im Auge, im Bauchraum, in der Schilddrüse und an vielen anderen Stellen –, und das ganze Konzept der In-situ-Krebserkrankungen und der Tumoren im Ruhestadium – ich hatte das alles gesehen. Deshalb sagte ich mir immer wieder: ›Die Ideen sind schon richtig, es wird nur lange dauern, bis die Leute es begreifen.‹«49

      Mit immer neuen Experimenten belegte Judah Folkman die zentralen Aussagen seiner neuen Krebstheorie:

      1. Mikrotumoren können sich nicht zu gefährlichen Tumoren entwickeln, ohne ein neues Netz aus Blutgefäßen zu bilden, die sie versorgen.

      2. Zu diesem Zweck produzieren sie eine chemische Substanz, das »Angiogenin«, das die Gefäße zwingt, neue Verästelungen in ihrer Nähe zu bilden.

      3. Die neuen Tumorzellen, die sich im übrigen Körper ausbreiten, die Metastasen, sind nur gefährlich, wenn auch sie in der Lage sind, neue Blutgefäße auszubilden.

      4. Große Primärtumoren bilden Metastasen. Aber wie jede Kolonialmacht verhindern sie, dass die fernen Gebiete zu wichtig werden. Dazu produzieren sie eine chemische Substanz, die das Wachstum neuer Blutgefäße blockiert – das »Angiostatin«. (Das erklärt, warum Metastasen plötzlich wachsen, nachdem der Primärtumor chirurgisch entfernt wurde.)

      Doch Folkman konnte noch so viele Experimente durchführen, den meisten Wissenschaftlern erschien die Idee zu einfach und zu – ketzerisch. Vor allem konnte man, wie so oft in den Naturwissenschaften, das Konzept nicht ernst nehmen, solange der Mechanismus, mit dem die Tumoren die Kontrolle über die Blutgefäße erlangten, nicht geklärt war. Die Existenz von »Angiogenin« und »Angiostatin« musste bewiesen werden.

      Wie die Nadel im Heuhaufen

      Judah Folkman ließ sich von den Kritikern nicht unterkriegen. Er verlor auch nie das Vertrauen in die Fähigkeit seiner Kollegen, seine Theorie anzuerkennen, sobald sie genug Beweise gesehen hatten. Wahrscheinlich dachte er an den Ausspruch von Schopenhauer, wonach jede Wahrheit drei Stadien durchläuft: Zuerst wird sie verhöhnt, danach wird sie gewaltsam bekämpft, zuletzt wird sie als selbstverständlich akzeptiert. Und so machte er sich daran, die Existenz der Substanzen zu beweisen, die verhindern können, dass neue Blutgefäße wachsen.

      Aber wie sollte man sie unter den Tausenden von Proteinen erkennen, die das Krebsgewebe bildet? Das erinnerte an die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Nach vielen Jahren und zahlreichen Rückschlägen war Judah Folkman kurz davor aufzugeben. Aber dann hatte er doch noch Glück.

      Michael O’Reilly, ein junger Chirurg und Forscher, der seit Kurzem in Folkmans Labor arbeitete, hatte die Idee, im Urin von Mäusen, die resistent gegen Metastasen waren, nach Angiostatin zu suchen. Michael war so hartnäckig wie sein Chef. Zwei Jahre lang filtrierte er unzählige Proben mit Mäuseurin. (Eine ziemlich »anrüchige« Aufgabe, wie er später meinte). Schließlich fand er ein Protein, das die Bildung von Blutgefäßen blockierte, wenn man es bei einem Hühnerembryo anwandte (wo sich Blutgefäße normalerweise sehr schnell entwickeln). Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Dieses potenzielle Angiostatin konnten die Forscher nun an Labortieren testen und so herausfinden, ob es die Entwicklung von Krebs in einem lebenden Organismus verhinderte.

      O’Reilly nahm 20 Mäuse und transplantierte einen virulenten Krebs auf ihren Rücken, dessen Metastasen sich aggressiv verbreiten und nach der Entfernung des Primärtumors rasch in den Lungen heranwachsen. Direkt nach der Entfernung des Tumors injizierte er der Hälfte der Mäuse Angiostatin, bei der anderen Hälfte ließ er die Krankheit ihren Lauf nehmen. Einige Tage später zeigten einige Mäuse erste Krankheitserscheinungen. Nun musste sich die Theorie in der Praxis beweisen.

      Judah Folkman wusste, dass niemand ihm glauben würde, selbst wenn die Ergebnisse positiv ausfallen sollten. Daher lud er alle Forscher auf seinem Stockwerk ein, das Ergebnis zu begutachten. In Gegenwart der versammelten Zeugen öffnete O’Reilly den Brustkorb der ersten Maus, die nicht behandelt worden war. Die Lungen waren schwarz und von Metastasen zerfressen. Dann öffnete er die erste Maus, die Angiostatin erhalten hatte. Ihre Lungen waren perfekt rosa und zeigten keine Anzeichen von Krebs. Er wollte seinen Augen kaum trauen. Alle Mäuse, die kein Angiostatin injiziert bekommen hatten, waren vom Krebs befallen. Und alle, die Angiostatin erhalten hatten, waren völlig geheilt. Nach 20 Jahren der Schikanen und Rückschläge wurde das Ergebnis 1994 in der Fachzeitschrift Cell veröffentlicht.50 Von einem Tag auf den anderen wurde die Angiogenese zu einem der wichtigsten Forschungsthemen der Krebsforschung.

      Eine außergewöhnliche Entdeckung

      Später konnte Folkman zeigen, dass Angiostatin das Wachstum verschiedener Krebsarten aufhalten kann, darunter auch drei Krebsformen beim Menschen, die man auf Mäuse übertragen hatte. Zur allgemeinen Überraschung der Wissenschaftler und Mediziner konnte man sogar eine Rückbildung des Krebses bewirken, wenn man die Bildung neuer Blutgefäße verhinderte. Wie die Offensive der deutschen Wehrmacht nach Marschall Schukows Angriff auf ihre Nachschublinien fielen die Tumoren in sich zusammen, sobald sie von der Versorgung abgeschnitten waren. Auf eine mikroskopische Größe geschrumpft, waren sie völlig harmlos. Außerdem wurde gezeigt, dass Angiostatin schnell wachsende Blutgefäße angreift, bereits vorhandenen Gefäßen aber nicht im Geringsten schadet. Anders als bei herkömmlichen Behandlungsmethoden gegen Krebs (Chemotherapie und Bestrahlung) wurden die gesunden Zellen nicht angegriffen. Militärisch gesprochen gab es keine »Kollateralschäden«. Damit ist diese Behandlungsmethode deutlich sanfter als die Chemotherapie. In einem Artikel in der Zeitschrift Nature, in dem über die Forschungsergebnisse berichtet wurde, hieß es abschließend: »Eine Regression von Primärtumoren ohne toxische Folgen wurde zuvor noch nicht beschrieben.«51 Hinter diesem lakonischen Ton, der typisch für die Naturwissenschaften ist, verbirgt sich große Aufregung über eine außergewöhnliche Entdeckung.

      Mit diesen

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