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die beim Kontakt mit anderen Zellen deren Hülle zerstören. Wenn einer Maus S-180-Zellen injiziert werden, vermehren sich diese so schnell, dass sich die Tumormasse alle zehn Stunden verdoppelt. Sie dringen in das umliegende Gewebe ein und zerstören alles, was ihnen in die Quere kommt. In der Bauchhöhle blockiert ihr Wachstum schnell die Abflüsse des Lymphsystems. Wie in einer Badewanne mit verstopftem Abfluss sammelt sich Flüssigkeit in der Bauchhöhle, das sogenannte Bauchwasser oder Aszites. Die helle Flüssigkeit bietet für die S-180-Zellen ideale Wachstumsbedingungen, und sie vermehren sich in gefährlichem Maß weiter, bis ein lebenswichtiges Organ versagt oder ein Blutgefäß platzt und der Organismus stirbt.

      Die Maus, die resistent gegen Krebs ist

      Zheng Cui (sprich »Dschang Tsui«), Professor für Biologie an der Wake Forest University in North Carolina, untersuchte in seinem Labor nicht Krebs, sondern den Stoffwechsel von Fettsäuren. Für seine Experimente benötigte er Antikörper, und um diese zu bekommen, spritzte er Mäusen die berühmten S-180-Zellen. Die injizierten Zellen bewirkten die Ansammlung von Bauchwasser, dem man leicht Antikörper entnehmen konnte. Von den Mäusen, denen mehrere Tausend S-180-Zellen gespritzt wurden, lebte keine länger als einen Monat, daher erforderte dieses Verfahren eine ständige Erneuerung des Mäusebestands. Bis eines Tages etwas Merkwürdiges geschah.

      Tierschutz

      In diesem Buch und vor allem in diesem Kapitel ist von zahlreichen Versuchen die Rede, die an Labormäusen oder -ratten durch geführt wurden. Ich liebe Tiere und denke nicht gern daran, dass sie bei diesen Experimenten leiden müssen. Aber bislang haben weder Tierschutzorganisationen noch Wissenschaftler zufriedenstellende Alternativen für diese Experimente gefunden. Und dank der Experimente wird man viele Kinder, Männer und Frauen eines Tages effektiver und schonender behandeln können. Auch Tiere werden davon profitieren, da auch sie Krebs bekommen.

      Eine junge Forschungsassistentin, Dr. Liya Qin (sprich »Tschin«), hatte einer Mäusegruppe die übliche Dosis von 200.000 S-180-Zellen injiziert. Doch eine Maus, Maus Nr. 6, reagierte nicht auf die Injektion, der Bauch des Mäuserichs blieb flach. Liya Qin wiederholte die Injektion, wieder ohne Erfolg. Auf Anraten Zheng Cuis, der ihre Forschung überwachte, verdoppelte sie die Dosis, aber es zeigte sich nach wie vor keine Wirkung. Daraufhin injizierte sie die zehnfache Dosis, also zwei Millionen Zellen. Zu ihrer großen Verwunderung entwickelte die Maus immer noch keinen Krebs und hatte auch keine Flüssigkeitsansammlung in der Bauchhöhle. Zheng Cui begann an der Befähigung seiner Assistentin zu zweifeln und beschloss, der Maus selbst eine Spritze zu verabreichen. Sicherheitshalber injizierte er 20 Millionen Krebszellen und vergewisserte sich, dass die Flüssigkeit auch wirklich in die Bauchhöhle gelangte. Zwei Wochen später war immer noch nichts zu sehen! Er versuchte es mit 200 Millionen Zellen – das Tausendfache der üblichen Dosis –, aber es tat sich weiterhin nichts.

      Keine Maus im Labor hatte nach der Injektion von S-180-Zellen länger als zwei Monate gelebt. Maus Nr. 6 lebte nun bereits acht Monate, trotz der astronomisch hohen Dosen, die direkt in die Bauchhöhle gespritzt worden waren, weil sich die Krebszellen dort normalerweise am schnellsten vermehren. In Professor Zheng Cui keimte der Gedanke, ob er vielleicht das Unmögliche vor sich hatte – eine Maus, die resistent war gegen Krebs?

      In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurde in der medizinischen und naturwissenschaftlichen Literatur immer wieder von Patienten berichtet, deren Krebserkrankung sich plötzlich zurückbildete und schließlich ganz verschwand, obwohl sie als unheilbar diagnostiziert worden war.1–7 Doch solche Fälle sind extrem selten, und sie lassen sich nur schwer untersuchen, weil sie unvorhersehbar sind und nicht nach Belieben wiederholt werden können. Normalerweise erklärt man sie mit einer Fehldiagnose (»wahrscheinlich war es gar nicht Krebs«) oder mit einer verspäteten Reaktion auf eine frühere konventionelle Behandlung (»wahrscheinlich hat die Chemotherapie vom letzten Jahr doch noch gewirkt«).

      Ehrlicherweise muss man bei diesen ungeklärten Remissionen jedoch einräumen, dass hier Mechanismen am Werk sind, die wir zwar noch nicht verstehen, die aber dem Wachstum der Krebszellen entgegenwirken. In den letzten zehn Jahren wurde ein Teil dieser Mechanismen entdeckt und im Labor untersucht. Professor Zheng Cuis Maus Nr. 6 brachte einen Mechanismus ans Licht: die Kraft des Immunsystems, wenn es vollständig mobilisiert wird.

      Nachdem Zheng Cui überzeugt war, dass die berühmte Maus (mittlerweile bekannt als »Mighty Mouse« oder »Supermaus«) resistent gegen Krebs war, tauchte eine neue Sorge auf. Es gab nur eine Supermaus, und eine Maus wird höchstens zwei Jahre alt. Wenn aber die Maus starb, wie konnte man dann ihre außergewöhnlichen Eigenschaften untersuchen? Und was, wenn sie sich einen Virus oder eine Lungenentzündung zuzog? Zheng Cui dachte darüber nach, die DNA der Maus zu konservieren oder die Maus zu klonen, denn kurz zuvor waren die ersten Mäuse erfolgreich geklont worden. Dann fragte ein Kollege: »Hast du schon daran gedacht, mit der Maus zu züchten?«

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      Abbildung 1: die »Supermaus«, Maus Nr. 6, die resistent gegen Krebs ist. Mit freundlicher Genehmigung von Zheng Cui, Wake Forest University.

      Der geheimnisvolle Mechanismus

      Nun kam es, dass Professor Zheng Cui dem Labor aufgrund eines Forschungsurlaubs mehrere Monate lang fernbleiben musste. Als er nach seiner Rückkehr die Experimente mit den resistenten Mäusen wieder aufnahm, erwartete ihn eine herbe Enttäuschung. Zwei Wochen nach der normalen Injektion entwickelten alle Mäuse Bauchwasser und Tumore. Ausnahmslos alle. Was war passiert? Hatten sie während seiner Abwesenheit ihre Resistenz eingebüßt? Tagelang grübelte er über diesen Rückschlag und fragte sich, was er falsch gemacht hatte. Vielleicht war die »Entdeckung« auch einfach zu schön, um wahr zu sein, wie es ihm die meisten Kollegen prophezeit hatten. Er war so enttäuscht, dass er nicht mehr nach den Mäusen sah. Vier Wochen nach den Injektionen lagen sie wahrscheinlich alle im Sterben. Als er schließlich doch ins Labor zurückkehrte und schweren Herzens die Abdeckung eines Käfigs hob, blieb er wie erstarrt stehen: Die Mäuse waren eindeutig am Leben, und der Aszites war verschwunden.

      Mehrere Tage lang experimentierten die Wissenschaftler fieberhaft, dann zeichnete sich eine Erklärung ab. Von einem gewissen Alter an (sechs Monate bei Mäusen, was einem Alter von 50 Jahren bei Menschen entspricht) wird der Abwehrmechanismus schwächer. Bei den Labormäusen entwickelten sich zunächst Krebszellen, was den geschwollenen Bauch und die Flüssigkeitsansammlung erklärt. Doch etwa zwei Wochen später (ein oder zwei Jahre nach menschlichem Maßstab) aktivierte der vorhandene Tumor die Abwehrkräfte des Körpers. Der Tumor verkleinerte sich praktisch von einer Minute auf die andere und war nach weniger als 24 Stunden verschwunden (ein bis zwei Monate bei einem Menschen). Die Mäuse waren wieder so aktiv wie zuvor, auch in ihrem Sexualleben. Zum ersten Mal hatte die Wissenschaft ein Versuchsmodell für eine Spontanremission bei Krebs, das beliebig wiederholt werden konnte.8 Allerdings musste man noch die Mechanismen dieser mysteriösen Rückbildung erklären. Schließlich gelang es Mark S. Miller, einem Kollegen Zheng Cuis und Spezialisten für die das Geheimnis zu lüften.

      Mark Miller untersuchte unter dem Mikroskop Proben der S-180-Zellen, die aus der Bauchhöhle der Wundermäuse stammten, und entdeckte ein regelrechtes Schlachtfeld. Statt der üblichen Krebszellen – rund, mit haarähnlichen Zellfortsätzen und aggressiv – sah er glatte Zellen, deren Oberfläche eingedellt und voller Löcher war. Sie kämpften mit den weißen Blutkörperchen des Immunsystems, unter anderem auch mit den berühmten natürlichen Killerzellen,

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