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Ich starrte sie an, überrascht, dass man sie einfach ihrem Schicksal überlassen hatte. Sie bemerkte mich, und ich erkannte an ihrem Blick, dass sie keine Hilfe von mir erwartete. Nichts. Schließlich waren wir in New York, da muss jeder selbst sehen, wo er bleibt. Ich fühlte mich von einer überraschenden Kraft zu ihr hingezogen, die von meiner eigenen Lage als Patient herrührte. Es war kein Mitleid, sondern ein instinktives Gefühl der Brüderlichkeit. Ich fühlte mich der Frau nahe, die Hilfe brauchte, aber nicht darum bat, denn wir saßen im selben Boot. Ich hievte ihre Tasche in den Kofferraum, fuhr den Wagen für sie aus der Parklücke, stützte sie beim Einsteigen und Hinsetzen und schloss mit einem Lächeln die Tür. In diesen wenigen Minuten war sie nicht allein gewesen. Ich war froh, dass ich ihr diesen kleinen Dienst hatte erweisen können. Tatsächlich tat sie mir einen Gefallen, weil sie mich genau in dem Moment brauchte und mich so spüren ließ, dass wir als Menschen eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Wir machten uns gegenseitig ein Geschenk. Ich sehe immer noch ihre Augen vor mir, in die das Vertrauen zu ihren Mitmenschen zurückgekehrt war; ein Gefühl, dass man dem Leben vertrauen konnte, wenn es ihr – wie gerade eben – im richtigen Augenblick die Hilfe sandte, die sie brauchte. Wir hatten nur ein paar Worte gewechselt, aber ich bin mir sicher, dass sie wie ich dieses Gefühl der Verbundenheit empfand. Die Begegnung wärmte mir das Herz. Wir, die Verletzlichen, konnten einander helfen und lächeln. Ich ging in Frieden zu meiner Operation.

      Sein Leben retten, bis zum Schluss

      Wir alle wollen gebraucht werden. Dieses Gefühl ist unverzichtbar, es ist quasi Nahrung für die Seele. Wenn dieses Bedürfnis nicht gestillt wird, entsteht daraus Schmerz, der umso stärker wird, je näher man dem Tod ist. Ein Großteil dessen, was man als Angst vor dem Tod bezeichnet, rührt von der Befürchtung her, dass unser Leben keinen Sinn hat, dass wir umsonst gelebt haben, dass unsere Existenz bei niemandem Spuren hinterlassen hat.

      Eines Tages wurde ich zu Joe gerufen, einem jungen Mann mit zahlreichen Tätowierungen und einer langen Vorgeschichte voller Alkohol, Drogen und Gewalt. Nachdem er erfahren hatte, dass er an einem Gehirntumor litt, war er völlig außer Fassung geraten und hatte angefangen, sein Krankenzimmer zu demolieren. Die verschreckten Krankenschwestern wagten sich nicht in seine Nähe. Als ich mich ihm als Psychiater vorstellte, wirkte er wie ein Löwe im Käfig. Dennoch erklärte er sich bereit, mit mir zu reden. Ich setzte mich neben ihn und sagte: »Ich habe Ihre Diagnose gehört. Ich weiß, dass Sie sehr verstört sind. So etwas kann einem große Angst machen.« Er hob zu einer langen Schimpftirade an, doch nach 20 Minuten begann er zu weinen. Sein Vater war Alkoholiker, seine Mutter hatte sich in sich selbst zurückgezogen und war völlig teilnahmslos. Er hatte keine Freunde, und die Kumpels, die mit ihm in den Bars herumhingen, würden sich sicher von ihm abwenden. Er war verloren. Ich sagte: »Ich weiß nicht, was ich für Sie tun kann. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass ich mir jede Woche Zeit für Sie nehme, wenn Ihnen das hilft.« Er beruhigte sich und kam jede Woche zu mir, sechs Monate lang, bis er starb.

      Bei diesen Sitzungen musste ich nicht viel sagen, ich hörte hauptsächlich zu. Er hatte ein bisschen als Elektriker gearbeitet, jahrelang jedoch keine Arbeit gehabt und von Sozialhilfe gelebt. Mit seinen Eltern redete er nicht mehr. Er verbrachte den ganzen Tag vor dem Fernseher und war entsetzlich einsam. Schon bald wurde klar, dass ihm der Tod unerträglich erschien, weil er mit seinem Leben nichts angefangen hatte. Ich fragte ihn, ob er in der verbleibenden Zeit nicht etwas tun könne, womit er jemand anderem einen Dienst erwies. Darüber hatte er nie nachgedacht. Er überlegte eine Weile, dann antwortete er: »Bei mir in der Nachbarschaft gibt es eine Kirche. Ich glaube, ich könnte etwas für die Leute tun. Sie brauchen eine Klima anlage. Ich weiß, wie man das macht.« Ich ermunterte ihn, mit dem Pfarrer zu reden, der sich sehr über das Angebot freute.

      Joe stand nun jeden Morgen auf und ging zu seiner kleinen Baustelle, um auf dem Dach der Kirche eine Klimaanlage zu installieren. Die Arbeit kam nur langsam voran, weil er aufgrund seines großen Hirntumors Konzentrationsschwierigkeiten hatte. Aber es gab keinen Grund zur Eile. Die Gemeindemitglieder gewöhnten sich an seinen Anblick oben auf dem Dach. Sie grüßten ihn und brachten ihm mittags ein Sandwich und Kaffee. Er war den Tränen nahe, als er mir das erzählte. Zum ersten Mal in seinem Leben tat er etwas, das für andere wirklich wichtig war. Er veränderte sich, bekam nie wieder Wutausbrüche. Tatsächlich verbarg sich unter der rauen Schale ein großherziger Mensch.

      Eines Tages konnte Joe nicht mehr zur Arbeit gehen. Sein Onkologe rief an und sagte mir, er sei im Krankenhaus, das Ende sei nahe und er werde in ein Hospiz verlegt. Bei meinem Besuch war sein Zimmer sonnendurchflutet. Joe lag ganz ruhig da, fast schlafend. Sie hatten alle Schläuche und Geräte entfernt. Ich setzte mich an sein Bett, um mich zu verabschieden, und er öffnete die Augen. Er versuchte zu sprechen, hatte aber nicht die Kraft dazu. Mühsam hob er die Hand und winkte mich näher. Ich hielt mein Ohr an seinen Mund und hörte ihn murmeln: »Gott segne Sie, Sie haben mir das Leben gerettet.«

      Joe hat mir etwas beigebracht, das ich nie vergessen werde: Noch an der Schwelle zum Tod kann man sein Leben retten. Das gab mir Kraft für die Aufgabe, die ich vor mir hatte; auch ich wollte bereit sein, wenn meine Zeit kam. In gewisser Weise hat mir auch Joe das Leben gerettet.

      Seit 17 Jahren feiere ich nun den »Jahrestag« meiner Krebsdiagnose. An das genaue Datum der MRT-Aufnahmen mit Jonathan und Doug kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur noch, dass es um den 15. Oktober herum war. Die Zeit vom 15. bis zum 20. Oktober ist deshalb etwas Besonderes für mich, ein bisschen wie Yom Kippur oder die Karwoche oder das Fasten im Ramadan. Es ist ein privates Ritual. Ich nehme mir Zeit für mich allein. Manchmal mache ich eine private »Pilgerfahrt« zu einer Kirche, einer Synagoge, einer heiligen Stätte. Ich denke darüber nach, was mir passiert ist, denke an die Schmerzen, die Angst, die Krise. Ich bin dankbar, weil ich mich verändert habe, weil ich seit meiner zweiten Geburt ein viel glücklicherer Mensch bin.

      KAPITEL 4

      DIE SCHWÄCHEN DES KREBSES

      BEI EINER KREBSERKRANKUNG befindet sich der ganze Körper im Kriegszustand. Krebszellen verhalten sich wie bewaffnete Banden, sie kennen weder Recht noch Gesetz. Die Grenzen, die ein gesunder Körper respektiert, können sie nicht aufhalten. Mit ihren anomalen Genen entziehen sie sich den Mechanismen, die das normale, gesunde Gewebe kontrollieren. Anders als andere Zellen sterben sie beispielsweise nicht nach einer bestimmten Anzahl von Teilungen ab, sondern sie werden gewissermaßen »unsterblich«. Wenn das umliegende Gewebe aufgrund der »Überbevölkerung« Alarm schlägt und den Krebszellen mitteilt, sich nicht weiter zu vermehren, ignorieren sie diese Signale. Schlimmer noch, die Krebszellen scheiden bestimmte Substanzen aus und vergiften so das Gewebe. Das Gift verursacht eine lokale Entzündung, die zum Schaden des umliegenden Gewebes die Ausbreitung des Krebses weiter fördert. Schließlich nehmen die Krebszellen wie eine marschierende Armee auf der Suche nach Proviant nahe gelegene Blutgefäße in Beschlag. Sie zwingen sie, sich zu vermehren und den Sauerstoff und die Nährstoffe zu liefern, die für das Wachstums eines Tumors benötigt werden.

      Unter bestimmten Bedingungen werden die marodierenden Krebszellen gestört und verlieren ihre Virulenz: 1. wenn das Immunsystem gegen sie mobil macht; 2. wenn der Körper sich weigert, die Entzündung zu produzieren, ohne die sie weder wachsen noch in neue Gebiete vordringen können; oder 3. wenn die Blutgefäße sich nicht vermehren und nicht die Versorgung leisten, die ein Tumor zur Entwicklung braucht. Diese Mechanismen kann man unterstützen und so verhindern, dass sich die Krankheit im Körper einnistet. Wenn sich ein Tumor erst einmal gebildet hat, kann allerdings keiner dieser natürlichen Abwehrmechanismen eine Chemotherapie oder Bestrahlung ersetzen. In Verbindung mit konventionellen Behandlungsmethoden kann man jedoch mit Hilfe dieser Mechanismen die Widerstandskraft des Körpers gegen Krebs mobilisieren.

      Teil 1

      Die Wächter des Körpers: Starke Immunzellen

      Die verheerende Kraft der S-180-Zellen

      Von allen Krebszellkulturen, die in der Forschung verwendet werden, sind die S-180-Zellen (Sarkom 180) besonders virulent. Sie stammen ursprünglich von einer einzelnen Maus aus einem Schweizer Labor, werden aber heute in großer Zahl gezüchtet und weltweit zur Untersuchung von Krebs unter identischen

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