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schon seinem Vater, seinem Großvater, seinem Urgroßvater und seinem Ururgroßvater wird auch ihm das Recht verweigert, an unserer Demokratie teilzuhaben. Cottons Stammbaum erzählt die Geschichte mehrerer Generationen schwarzer Männer, die in den Vereinigten Staaten geboren wurden, denen jedoch die elementarste Freiheit, die die Demokratie verspricht, vorenthalten wurde – die Freiheit, jene zu wählen, die die Regeln aufstellen und die Gesetze machen und damit das Leben der Menschen bestimmen. Cottons Ururgroßvater durfte nicht wählen, weil er Sklave war. Sein Urgroßvater wurde vom Ku-Klux-Klan erschlagen, weil er versucht hatte, an einer Wahl teilzunehmen. Sein Großvater wurde durch Einschüchterungen des Klans am Wählen gehindert. Sein Vater wurde durch die Wahlsteuer und Lese- und Schreibtests von der Wahl ausgeschlossen. Und Jarvious Cotton selbst kann nicht wählen, weil er, wie viele Schwarze in den Vereinigten Staaten, als Straftäter gebrandmarkt und momentan auf Bewährung ist.1

      Auf Cottons Geschichte trifft in vielerlei Hinsicht das alte Sprichwort zu: »Je mehr sich die Dinge verändern, desto mehr bleiben sie, wie sie sind.« Jede Generation wendet neue Taktiken an, um dieselben Ziele wie die ihrer Vorfahren zu erreichen – die Ziele der Gründungsväter. Afroamerikanern die Bürgerrechte vorzuenthalten, galt als entscheidende Voraussetzung für die Bildung des ersten Staatenbunds. Heute, Hunderte Jahre später, ist Amerika immer noch keine egalitäre Demokratie. Die Argumente und Rationalisierungen, die aufgetischt werden, um die rassistische Exklusion und Diskriminierung in ihren verschiedenen Formen zu rechtfertigen, verändern sich und entwickeln sich weiter, aber das Resultat bleibt weitgehend dasselbe. In den Vereinigten Staaten wird heute einem außerordentlich hohen Prozentsatz schwarzer Männer wie während der gesamten amerikanischen Geschichte mit Billigung des Gesetzes das Wahlrecht verweigert. Und auch bei der Arbeits- und Wohnungssuche, in der Bildung, bei Sozialleistungen und bei der Besetzung von Geschworenenjurys werden sie genauso legal diskriminiert wie einst ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern.

      Was sich seit dem Zusammenbruch von Jim Crow verändert hat, hat weniger mit der grundlegenden Struktur unserer Gesellschaft zu tun als mit der Sprache, in der wir es rechtfertigen. In der Ära der »Farbenblindheit«, in der die Hautfarbe angeblich keine Rolle mehr spielt, ist es gesellschaftlich nicht mehr zulässig, Diskriminierung, Exklusion und soziale Missachtung explizit mit der Hautfarbe zu begründen. Also tun wir es nicht mehr. Stattdessen etikettieren wir People of Color mithilfe unseres Strafrechtssystems als »Kriminelle« und bedienen uns dann all der Methoden, die wir angeblich hinter uns gelassen haben. Heute ist es völlig legal, Kriminelle auf jede mögliche Art und Weise zu benachteiligen, wie es einst rechtens war, schwarze Amerikaner zu benachteiligen. Sobald jemand einmal als Verbrecher gilt, werden die alten Diskriminierungsformen – Benachteiligung in der Arbeitswelt und bei der Wohnungssuche, die Verweigerung des Wahlrechts und des Rechts auf Bildung, von Lebensmittelmarken und anderer Sozialleistungen sowie der Beteiligung an Geschworenengerichten – plötzlich legal. Ein verurteilter Straftäter hat kaum noch Rechte und genießt unter Umständen weniger Respekt als ein schwarzer Mann, der auf dem Höhepunkt von Jim Crow in Alabama lebte. Wir haben die auf Rasse beruhenden Kasten in Amerika nicht abgeschafft, wir haben sie lediglich umdefiniert.

      Die in diesem Buch dargelegten Schlussfolgerungen sind mir nicht leichtgefallen. Vor zehn Jahren hätte ich mich hartnäckig gegen die hier getroffene zentrale Aussage gewehrt – nämlich, dass es heute eine Art rassisches Kastensystem in den Vereinigten Staaten gibt. Wäre Barack Obama damals schon Präsident gewesen, hätte ich dem entgegengehalten, dass seine Wahl den Sieg des Landes über die rassisch definierte Kaste beweise und der letzte Sargnagel für Jim Crow sei. Meine Freude darüber wäre zwar durch den Gedanken gedämpft worden, dass wir noch eine große Strecke zurücklegen müssten, um das gelobte Land der Rassengleichheit in Amerika zu erreichen, aber meine Überzeugung, dass nichts auch nur annähernd Ähnliches wie Jim Crow mehr in diesem Land existiere, wäre unerschütterlich gewesen.

      Heute wird meine Begeisterung über Obamas Wahl durch eine viel größere Ernüchterung eingedämmt. Als Afroamerikanerin mit drei kleinen Kindern, die nie eine Welt kennenlernen werden, in der ein Schwarzer nicht Präsident der Vereinigten Staaten werden könnte, war ich am Wahlabend mehr als begeistert. Doch als ich die Feier zu diesem Anlass voller Hoffnung und Enthusiasmus verließ, wurde ich sofort mit der brutalen Realität des Neuen Jim Crow konfrontiert. Ein Schwarzer kniete im Rinnstein, die Hände hinter dem Rücken in Handschellen, während mehrere Polizisten um ihn herumstanden, sich unterhielten, Witze rissen und seine Menschenwürde in den Staub traten. Aus dem Gebäude strömten Leute, viele starrten einen Augenblick lang den Schwarzen an, der vor ihnen auf der Straße kauerte, wandten dann aber den Blick ab. Was bedeutete für ihn die Wahl Barack Obamas?

      Wie viele Bürgerrechtsanwälte wurde ich durch die in den 1950er und 1960er Jahren errungenen Siege angeregt, Jura zu studieren. Selbst angesichts des wachsenden sozialen und politischen Widerstands gegen Fördermaßnahmen wie die »Affirmative Action«, hielt ich an meinem Glauben fest, dass die Übel von Jim Crow hinter uns lagen, es aber noch ein weiter Weg zu einer egalitären, multiethnischen Demokratie war, wir bereits echte Fortschritte gemacht hatten und nun kämpfen mussten, um auf den Siegen der Vergangenheit aufbauen zu können. Ich hielt es für meine Aufgabe als Bürgerrechtsanwältin, mich mit den Verfechtern des Rassenfortschritts zu verbünden, um Angriffe auf die Affirmative Action abzuwehren und die Reste der Jim-Crow-Segregation zu beseitigen, vor allem unser immer noch segregiertes und ungerechtes Bildungssystem. Ich hatte begriffen, dass die Probleme, die die armen People of Color plagten – unter anderem auch die Kriminalität und die zunehmenden Inhaftierungsraten, die eine Folge von Armut und fehlendem Zugang zu einer guten Ausbildung waren –, eine Folge des Erbes von Sklaverei und Jim Crow sind. Keinen Augenblick habe ich damals ernsthaft die Möglichkeit erwogen, dass in diesem Land ein neues rassisches Kastensystem wirksam sein könnte. Das neue System war rasch entwickelt und umgesetzt worden, und es war weitgehend unsichtbar, selbst für Menschen wie mich, die den Großteil ihrer Zeit mit dem Kampf um Gerechtigkeit verbrachten.

      Dass es ein neues rassisches Kastensystem geben könnte, kam mir erstmals vor über zehn Jahren in den Sinn, als mir ein hellorangefarbener Zettel in die Augen fiel. Ich bemerkte ihn, als ich rannte, um meinen Bus zu erwischen. Er war an einem Telefonmasten befestigt, und darauf stand in großen schreienden Buchstaben: DER KRIEG GEGEN DIE DROGEN IST DAS NEUE JIM CROW. Ich blieb kurz stehen und überflog hastig den Text. Eine radikale Gruppe hielt ein Gemeindetreffen zum Thema Polizeibrutalität, das neue »Three Strikes«-Gesetz in Kalifornien und die Ausweitung des amerikanischen Gefängnissystems ab. Die Veranstaltung sollte in einer kleinen Kirche ein paar Häuserblocks entfernt stattfinden, in der es nur Platz für fünfzig Besucher gab. Ich seufzte und dachte: »Ja, das Strafjustizsystem ist in vielerlei Hinsicht rassistisch, aber es ist wirklich nicht hilfreich, einen so absurden Vergleich anzustellen. Die Leute werden doch denken, ihr seid verrückt.« Dann überquerte ich die Straße und sprang in den Bus. Ich fuhr zu meinem neuen Arbeitsplatz als Leiterin des Racial Justice Project of the American Civil Liberties Union (ACLU) in Nordkalifornien.

      Ich trat meine Arbeit bei der ACLU in der Annahme an, dass es in unserem Strafjustizsystem wie in allen größeren Institutionen unserer Gesellschaft bewusste wie unbewusste rassistische Vorurteile gab. Als Anwältin, die an zahlreichen Sammelklagen wegen Diskriminierung am Arbeitsplatz beteiligt gewesen war, kannte ich die vielen Formen, in denen Rassenklischees die subjektiven Entscheidungsfindungsprozesse auf allen Ebenen einer Organisation beeinflussen können und welche verheerenden Folgen das haben kann. Ich war vertraut mit den Herausforderungen bei der Reformierung von Institutionen, in denen rassisch bestimmte Hierarchien als normal galten – als die natürliche Folge unterschiedlicher Bildung, Kultur, Motivation und, wie manche immer noch glauben, angeborener Fähigkeiten. In meiner Zeit bei der ACLU konzentrierte ich mich statt auf die Diskriminierung am Arbeits platz mehr und mehr auf eine Strafjustizreform und arbeitete gemeinsam mit anderen daran, rassistische Vorurteile zu benennen und zu beseitigen, wann und wo immer sie ihr hässliches Gesicht zeigten.

      Als ich meinen Posten bei der ACLU aufgab, hatte ich den Verdacht, dass ich mich hinsichtich des Strafjustizsystems geirrt hatte. Es war nicht nur eine unter vielen mit Vorurteilen behafteten Institutionen, sondern eine völlig andere Geschichte. Die Aktivisten, die den Zettel an den Telefonmast geheftet hatten, waren nicht verrückt; ebenso wenig die vereinzelten Anwälte und Bürgerrechtsvertreter, die Verbindungen zwischen der Masseninhaftierung

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