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der Menschen, die nur wegen Drogendelikten hinter Schloss und Riegel gebracht werden, ist erschreckend und von etwa 50.000 im Jahr 1980 auf heute fast 500.000 gestiegen – das sind mehr, als in Westeuropa für alle Verbrechen zusammengenommen einsitzen. Über 90 Prozent der als »Kriminelle« oder »Verbrecher« Etikettierten erhalten keinen ordentlichen Prozess oder werden nicht angemessen vor einem Gericht vertreten; sie legen ohne Prozess ein Schuldbekenntnis ab, weil man ihnen damit droht, dass ihnen bei einer Verurteilung durch ein Geschworenengericht noch weit höhere Mindeststrafen drohen. Und Millionen Menschen werden, wenn sie dann ihre tatsächliche Haftstrafe abgesessen haben und aus der offiziellen Kontrolle durch unser sogenanntes »Rechtssystem« entlassen werden, in ein soziales Paralleluniversum gestoßen, in dem die elementaren Bürger- und Menschenrechte, die für andere selbstverständlich sind, nicht gelten. Es sind genau die Rechte, die ihnen durch die Bürgerrechtsbewegung zugestanden wurden, wie das Wahlrecht, das Recht, als Geschworener zu dienen und das Recht, in der Arbeitswelt, bei der Wohnungssuche, in der Bildung und bei den staatlichen Sozialleistungen – etwa in Form von Lebensmittelmarken und Sozialwohnungen – nicht diskriminiert zu werden. Selbst diejenigen, die sich nur geringfügiger Vergehen schuldig gemacht haben – beispielsweise weil sie mit kleinen Mengen Drogen erwischt wurden –, werden dauerhaft in eine niedrige Kaste am unteren Rand der Gesellschaft verwiesen. Dieses neue System nimmt vor allem afroamerikanische Männer ins Visier und erklärt sie zum Hauptfeind. In vielen amerikanischen Großstädten ist über die Hälfte der afroamerikanischen Männer im arbeitsfähigen Alter vorbestraft und wird für den Rest ihres Lebens mit gesetzlicher Billigung diskriminiert.

      Politiker rechtfertigen die diskriminierenden Praktiken und sprunghaft angestiegenen Inhaftierungszahlen mit den hohen Kriminalitätsraten in den armen Minderheitengemeinschaften. Dieses Buch zeigt hingegen, dass dieses System seinen Ursprung in unserer Rassengeschichte und unserer Rassenpolitik hat, die Ängste schürt, spaltet, Menschen zu Sündenböcken macht und soziale Kontrolle über sie ausübt.

      In Amerika ist ein neues System rassistischer Sozialkontrolle entstanden, das die Welt noch nicht zur Kenntnis genommen hat. Internationale Proteste trugen dazu bei, dass amerikanische Rechtswissenschaftler und Politiker das Jim-Crow-System der Rassentrennung nach dem Zweiten Weltkrieg einer Prüfung unterzogen. Deshalb hoffe ich, dass unser Land auch jetzt auf der Weltbühne angeprangert und der Schande und Scham preisgegeben wird, damit es sich dem zentralen Widerspruch der modernen amerikanischen Demokratie stellt: unserem System der Masseninhaftierung. Wie der Jurist und Bürgerrechtler Bryan Stevenson kürzlich ganz treffend bemerkte, prägt die Masseninhaftierung heute unser Land wie einst die Sklaverei. Ich hoffe, dass die Völker der Welt nicht länger schweigen werden, wenn sie mehr darüber erfahren, wie in unserem Land entgegen unserer Behauptungen die tatsächliche Praxis in Sachen Rasse, Gleichheit und Freiheit aussieht.

      Aber abgesehen davon, dass ich mir wünsche, Amerika möge endlich vor dem Gericht der internationalen Öffentlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden, hoffe ich auch inständig, dass dieses Buch einen Beitrag zu der sich ausweitenden Debatte über den globalen Krieg gegen die Drogen leistet. Seit die Vereinten Nationen das Einheitsabkommen über die Betäubungsmittel – ein internationales Abkommen zum Verbot der Produktion und Verbreitung bestimmter Narkotika – verabschiedet haben, sind mehr als fünfzig Jahre vergangen und mehr als vierzig Jahre, seit US-Präsident Nixon den »Krieg gegen die Drogen« im eigenen Land erklärte, der sich in rasantem Tempo zu einem weltweiten, brutalen und sinnlosen Krieg ausweitete. Obwohl Milliarden in den Bau von Gefängnissen, gesetzliche Verbote und die Militarisierung der Polizei gesteckt wurden, ist dieser Krieg jämmerlich gescheitert und hat keineswegs Drogenmissbrauch und Drogenabhängigkeit eingedämmt, geschweige denn beendet. Im Gegenteil, Drogen sind freier verfügbar und werden mehr konsumiert als vor Beginn des Kriegs gegen die Drogen. So stellte die Weltkommission für Drogenpolitik 2011 fest: »Der weltweite Krieg gegen die Drogen ist gescheitert, mit verheerenden Folgen für die Menschen und Gesellschaften rund um den Globus … Scheinbare Erfolge bei der Ausschaltung einer Quelle oder Dealerorganisation werden fast auf der Stelle durch das Aufkommen neuer Quellen und Dealer zunichtegemacht.«1

      Statt Drogenmissbrauch und -abhängigkeit als schwerwiegende Probleme der öffentlichen Gesundheit anzugehen und in großem Stil in die Behandlung und Prävention zu investieren, sind nur allzu viele Staaten den Vereinigten Staaten gefolgt, haben den eigenen Bürgern den Krieg erklärt und stellen Mittel vornehmlich für Strafmaßnahmen und andere Praktiken zur Verfügung, die zwangsläufig das Leid der Ärmsten und Schwächsten in den Gesellschaften erhöhen. In den letzten Jahrzehnten wurden Millionen Menschenleben durch hohe Gefängnisstrafen sinnlos zerstört, kamen Tausende durch die Gewalt im Drogenkrieg und die Militarisierung der Polizei um, vor allem in Ländern wie Mexiko, wo allein in den vergangenen zehn Jahren über 100.000 Menschen getötet wurden oder verschwanden. Die mexikanische Regierung gab kürzlich Daten frei, die zeigen, dass zwischen 2007 und 2014 – also in Jahren, die zu den blutigsten im Krieg des Landes gegen die Drogenkartelle gehören – über 164.000 Menschen ermordet wurden. Profiteure dieses Blutbads sind auch die Privatgefängnisse, die in den Vereinigten Staaten großzügig dafür bezahlt werden, dass sie die zahllosen Einwanderer hinter Gitter stecken, die vor der Gewalt des Drogenkriegs in Mexiko und Lateinamerika fliehen.

      Man möchte meinen, dass vierzig Jahre erfolgloser Krieg ausreichen würden, um die Antidrogenkrieger davon zu überzeugen, dass sie eine andere Richtung einschlagen müssen. Doch der katastrophale Krieg wird unvermindert fortgesetzt. Warum? Ein Grund dafür ist, dass der globale Krieg gegen Drogen kaum mit der Absicht geführt wird, die mit dem Drogenkonsum zusammenhängenden Probleme zu lösen. Der Krieg wird zwar mit dem Drogenmissbrauch gerechtfertigt, ist aber nicht dessen Hauptmotiv (und war es nie). In Amerika wurde den Drogen der Krieg wegen der Rassen- und Klassenzugehörigkeit derer erklärt, die als Feind etikettiert wurden. Die gegenwärtige Drogenpolitik und die Praxis im Kampf gegen den Drogenmissbrauch gehen in hohem Maß auf den Rassismus in der amerikanischen Politik und die politischen Nützlichkeit (und wirtschaftliche Profitabilität) eines nie endenden Kriegs zurück.

      Drogenabhängigkeit und -missbrauch stellen schwerwiegende Probleme mit manchmal tödlichen Folgen dar, denen unser aller Sorge gelten sollte und die sofortiges Handeln erfordern. Aber in den Vereinigten Staaten ist der Umgang mit diesen schwerwiegenden Problemen von einer durch Rassismus und Spaltung geprägten Politik bestimmt, die selten offen diskutiert wird, aber als mächtige Grundströmung alle Maßnahmen und Praktiken beeinflusst und in eine gefährliche Richtung lenkt, oft mit tödlichen Folgen. Es ist eine große Tragödie, dass unser rassistischer Krieg gegen Drogen exportiert wurde und überall auf der Welt zu viel überflüssigem Leid, zu Tod und Verzweiflung führt. Ethan Nadelmann, Gründer der Drug Policy Alliance, fasst diese Entwicklung so zusammen: »Auf die Vereinigten Staaten als Modell für die Eindämmung des Drogenkonsums zu schauen, ist so, als würde man sich das Südafrika der Apartheid zum Vorbild nehmen, um das Rassenproblem zu bewältigen.« Ich hoffe, dieses Buch regt Menschen in anderen Ländern an, zu prüfen, ob ihre Regierung nicht einen drastischen Kurswechsel vornehmen sollte.

      Schließlich hoffe ich zutiefst, dass dieses Buch zu einem internationalen Dialog darüber beiträgt, was ein Land, das eine egalitäre, multirassische, multiethnische Demokratie aufbauen will, wirklich tun muss. Oft blickt man in dieser Frage auf die Vereinigten Staaten, um dort Anregungen und Leitlinien zu bekommen, doch die zyklische Wiederauferstehung des auf Rasse basierenden Kastensystems in unserem Land sollte allen zu denken geben, bevor sie ihre Demokratie nach unserem Vorbild formen. Ich hoffe, dass andere Länder aus unserer Geschichte und unseren Erfahrungen Lehren ziehen und etwas Besseres schaffen als unser Politik- und Rechtssystem, statt es einfach zu übernehmen. Wir sind weit, sehr weit vom Aufbau einer inklusiven, egalitären Demokratie entfernt, in der »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« mehr als nur eine Floskel ist. Auf den folgenden Seiten wird deutlich, wie schwer es für ein Land und dessen Bewohner ist, Denk- und Lebensgewohnheiten aufzugeben – vor allem die Gewohnheit, den rassisch »Anderen« auszuschließen und zu unterdrücken. Die Länder mit den härtesten Strafgesetzen sind nachweislich jene mit einer stark gemischten Bevölkerung. Die Länder, in denen man Delinquenten mit dem meisten Mitgefühl und mit größter Milde behandelt, sind hingegen die homogensten. Es scheint geradezu ein Zug der menschlichen Natur zu sein, den »Anderen« gegenüber kein Erbarmen zu zeigen. Doch da die Länder der Welt immer stärker miteinander

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