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besteht die Herausforderung zunehmend darin, unsere Herzen und Köpfe für jene zu öffnen, die wir jetzt noch als »Andere« zu betrachten pflegen. Und wir werden unausweichlich dazu gezwungen werden, uns mit dem Erbe von Sklaverei, Unterdrückung und Kolonialismus auseinanderzusetzen, zu überlegen, wie wir den Schaden, den wir angerichtet haben, wiedergutmachen und Demokratien schaffen können, in denen jedes Leben, jede Stimme und jedes Votum wirklich zählen. Schließlich soll The New Jim Crow auch eine Warnung sein – dieses Buch berichtet darüber, wie Millionen armer People of Color in den Vereinigten Staaten an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, und das auch unter einem schwarzen Präsidenten. Es erinnert uns daran, wie wichtig es ist, dass wir uns mit aller Kraft der Politik der Angst, der Spaltung, Exklusion und Kontrolle widersetzen. Wir dürfen es nicht dabei belassen, uns eine andere Welt vorzustellen und von ihrer Verwirklichung zu träumen, vielmehr »müssen wir so handeln, als wäre es möglich, eine Revolution herbeizuführen und die Welt radikal zu verändern«, wie Angela Davis einmal sagte. Ich lege dieses Buch in der Hoffnung vor, dass es einen Beitrag zu einer gerechteren, alle sozialen Aspekte berücksichtigenden Justiz auf dieser Welt leistet.

      Michelle Alexander, Juni 2016

      * Anmerkung der Übersetzer: In der Übersetzung wird die englische Bezeichnung People of Color verwendet, da die Autorin diese im Original verwendet und es sich um eine selbstbestimmte Bezeichnung von und für Menschen handelt, die nicht weiß sind. Der Ausdruck ist im Englischen eine gängige Bezeichnung und wird auch in Deutschland in akademischen und politischen Publikationen vermehrt genutzt, da viele andere Bezeichnungen – etwa »Farbige« – eine koloniale und rassistische Dimension haben. Des weiteren wird im Text auch die Bezeichnung »schwarz« oder »braun« verwendet, um gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten die aus dem Konstrukt des Rassismus entstanden sind, zu benennen. Auf die Großschreibung dieser Begriffe, wie teils in der akademischen Literatur zum Thema üblich, wurde jedoch aufgrund der Lesbarkeit verzichtet.

       VORWORT

       von Cornel West

      Michelle Alexanders The New Jim Crow ist die säkulare Bibel für eine neue soziale Bewegung im Amerika zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wie mit C. Vann Woodwards The Strange Career of Jim Crow – dem Buch, das Martin Luther King als »die historische Bibel der Bürgerrechtsbewegung« bezeichnete – liegt uns hier ein kraftvoller, eindringlicher Text vor, zugleich eine einzigartige demokratische Erweckung, die die Aufmerksamkeit auf die Armen und Benachteiligten in der amerikanischen Gesellschaft richtet. The New Jim Crow ist schon jetzt ein Klassiker, weil das Buch den neuen Geist unseres Zeitalters erfasst. Schon viel zu lange warten wir darauf, dass sich die Massen gegen die vielfache Benachteiligung zur Wehr setzen, unter der arme und unter prekären Verhältnissen lebende Menschen trotz der aufopfernden Arbeit intellektueller Freiheitskämpfer wie Marian Wright Edelman, Angela Davis, Loïc Wacquant, Glenn Loury und Marc Mauer zu leiden haben. Doch langsam, aber sicher erwachen die Menschen aus dem Schlaf, und mehr und mehr Mitbürger erkennen, dass sie in einem Käfig gefangen sind – der für die Wohlhabenden vielleicht auch ein goldener sein mag. The New Jim Crow ist ein lautstarker Weckruf aus dem Schlummer der Gleichgültigkeit gegenüber den Armen und Schwachen. Diese Gleichgültigkeit fördert ein oberflächliches Erfolgsethos – Geld, Ruhm und Vergnügen –, das viel zu viele dazu bringt, sich mit der Ungerechtigkeit abzufinden. Kurz, im verwirrenden Zeitalter Obamas feiert der Geist Martin Luther Kings mit diesem Buch seine Wiederauferstehung.

      Während die Ära Obama historische Durchbrüche auf der Ebene der symbolischen Rassengleichheit und politischer Sichtbarkeit gebracht hat, führt uns Michelle Alexanders meisterhaftes Werk den systembedingten Zusammenbruch schwarzer und armer Gemeinden vor Augen, die durch Massenarbeitslosigkeit, soziale Vernachlässigung, Abwanderung von Betrieben und intensive Polizeiüberwachung verwüstet sind. Die Autorin lenkt mit ihrer tiefgreifenden Analyse unsere Aufmerksamkeit vom Symbol des Fortschritts in der Rassenfrage auf Amerikas größten Schandfleck: den massiven Missbrauch staatlicher Macht zum Zweck der Inhaftierung Hunderttausender wertvoller armer, schwarzer, männlicher (und zunehmend auch weiblicher) junger Menschen im Namen eines heuchlerischen »Kriegs gegen die Drogen«. Michelle Alexanders differenzierte Analyse der skrupellosen Behandlung und der brutalen Überwachung Schwarzer im Lauf der amerikanischen Geschichte – in Form der Sklaverei, von Jim Crow und der Masseninhaftierung – gewährt uns einen Blick unter die politische Oberfläche und legt die Strukturen eines reibungslos funktionierenden auf Rasse basierenden Kastensystems im Zeitalter der Farbenblindheit bloß. Gerade die Ideologie der Farbenblindheit, propagiert von Neokonservativen und Neoliberalen mit dem Ziel, die Ausmaße des Leidens Schwarzer in den 1980er und 1990er Jahren zu banalisieren und zu verschleiern, hat Amerika die Augen vor dem Neuen Jim Crow verschlossen. Es ist einfach traurig, dass sich diese Blindheit unter jeder Regierung erhalten hat und bis heute im öffentlichen Diskurs unseres Landes kaum thematisiert oder in Frage gestellt wird.

      The New Jim Crow durchbricht dieses Schweigen. Wer das Buch liest, kann nicht mehr gleichgültig bleiben. Er wird nicht mehr wie ein Schlafwandler an der dunklen und hässlichen Realität vorbeigehen können, die seit Jahrzehnten existiert und nahtlos an den seit der Zeit der Sklaverei in Amerika bestehenden Rassismus anknüpft. Zweifellos würde der nationale Notstand ausgerufen, wenn weiße Jugendliche in derselben Zahl inhaftiert würden wie junge Schwarze. Wahr ist aber auch: Würden junge Schwarze aus der Mittel- und Oberschicht im selben Maße inhaftiert wie junge arme Schwarze, würden die schwarzen Anführer der Bürgerrechtsbewegung dem gefängnisindustriellen Komplex mehr Aufmerksamkeit widmen. Michelle Alexander deckt ihre Voreingenommenheit genauso auf wie die rassistischen Vorurteile der politischen Führung Amerikas, für die Arme und Benachteiligte jeder Hautfarbe ganz unten auf der Tagesordnung stehen. Die Autorin bringt dies in ihrem mutigen letzten Kapitel, in dem sie sich auf den großen James Baldwin beruft, deutlich zum Ausdruck, indem sie schreibt: »Die Gleichgültigkeit, die Weigerung, Menschen über alle Grenzen der Hautfarbe hinweg Mitgefühl entgegenzubringen, bildet den Kern des heutigen Kontrollsystems und jedes anderen rassische Kastensystems in den Vereinigten Staaten oder anderswo auf der Welt.«

      Martin Luther King hat uns dazu aufgefordert, einander zu lieben, nicht dazu, einander farbenblind gegenüberzutreten. Einander zu lieben aber heißt, sich um alle zu kümmern, allen tiefes Mitgefühl entgegenzubringen und Anteil an allen zu nehmen, auch an den Armen und Schwachen. Die soziale Bewegung, die das vorliegende historische Werk anfachen und speisen wird, wird einer demokratischen Erweckungsbewegung gleichkommen, die zeigt, dass wir nicht gleichgültig sind, dass das rassische Kastensystem abgeschafft werden muss, dass wir eine Revolution unserer falschen Prioritätenliste brauchen, einen Machtwechsel von den Oligarchen zum Volk – und dass wir bereit sind, dafür zu leben und zu sterben!

       VORBEMERKUNG

      Dieses Buch ist nicht für jeden gedacht. Ich habe eine spezielle Leserschaft vor Augen – Menschen, die zutiefst um Rassengerechtigkeit besorgt sind, die aber aus vielerlei Gründen noch nicht die Ausmaße der Katastrophe erkannt haben, die aufgrund der Masseninhaftierung über die People of Color hereingebrochen ist. Mit anderen Worten, ich habe dieses Buch für Menschen wie mich geschrieben – für Menschen, die so denken wie ich vor zehn Jahren. Aber ich habe auch noch eine andere Leserschaft im Sinn, nämlich all diejenigen, die sich große Mühe geben, ihre Freunde, Nachbarn, Verwandten, Lehrer, Arbeitskollegen oder politische Repräsentanten davon zu überzeugen, dass unser Strafjustizsystem etwas seltsam Vertrautes hat, etwas, das sehr stark an eine Ära erinnert, die wir angeblich hinter uns gelassen haben, die aber nicht über die Fakten und Daten verfügen, mit denen sie diese Behauptung untermauern könnten. Ich hoffe inständig, dass dieses Buch all diesen Menschen die Kraft verleiht und das Material an die Hand gibt, mit mehr Überzeugung, Glaubwürdigkeit und Mut die Wahrheit auszusprechen. Und schließlich, aber bestimmt nicht an letzter Stelle, habe ich dieses Buch für alle geschrieben, die in Amerikas neuestem Kastensystem gefangen sind. Ihr sitzt vielleicht hinter Gittern oder seid aus der Gesellschaft ausgeschlossen, aber ihr seid nicht vergessen.

      

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