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den Bedingungen des Ersten Weltkriegs zweiundzwanzig Monate, bis er ein Schiff bekam, mit dem er seine Männer auf Elephant Island endlich erlösen konnte. Als er mit einem kleinen Schlepper vor Elephant Island auftauchte, zählte er sie noch vom Schiff aus mit dem Fernglas vor Augen. Sie waren vollzählig da.

      1921 fuhr er noch einmal zu einer Expedition in die Antarktis, starb aber auf South Georgia an einer Herzschwäche. Bestattet wurde er in der Walstation Grytviken, wo man heute sein Grab besichtigen kann. Wie Stromness Bay wurde Grytviken schon vor vielen Jahren stillgelegt.

      Diese aufgegebenen Walfangstationen sind Mahnmale des Kriegs der Menschen gegen die Natur. In alten Berichten ist die Rede davon, das Wasser der Stromness Bay sei an manchen Tagen rot gewesen vom Blut der Wale, die hier hereingeschleppt wurden, um zerlegt zu werden. Jetzt lagen auf dem Gebiet der ehemals geschäftigen, von Menschen wimmelnden Station zerfallende Schiffe, rostende Maschinen, vor allem riesige Winden, die die schweren Wale an Land gezogen hatten. Große Bretterschuppen mit flachen Anbauten, deren weiße Farbe längst vergilbt und rissig geworden war, standen verlassen herum, in einem kleineren Schuppen gab es noch Fässer, in die das Walfett, der Tran, gefüllt worden war. An den Decken der Schuppen hingen verrostete Haken und Ketten. Es herrschte tiefe Stille, nur manchmal von den plötzlich einsetzenden Schreien der Möwen unterbrochen.

      Der Verfall, vor allem der Rost, wurde von der trockenen Kälte so sehr verlangsamt, dass bei vielen der Werkzeuge und Maschinen noch erkennbar war, wozu sie einmal gedient hatten. Nichts war wirklich zerstört, alle Teile der Maschinen und Winden waren noch da, sie schienen nur erstarrt, als hätte ein plötzlicher Fluch sie gelähmt. Eine kleine Schienenstrecke zog sich vom Hafen hinauf zu den Hallen, in denen die Wale verarbeitet wurden. Ein paar Waggons mit niedrigen Ladeklappen, deren große Eisenräder unbeweglich geworden waren, standen dort herum, als warteten sie darauf, noch einmal beladen zu werden. Der vorherrschende Farbton war das Rotbraun des Rosts, das in das im Sonnenlicht strahlende Weiß des Schnees einsickerte. Überall zwischen den Häusern und Maschinen, den Schuppen und Hallen lagen die gewaltigen schwarzgrauen Leiber von schlafenden See-Elefanten, von dunkelbraunen Robben, Seehunden und Seebären, die sich die Station zurückerobert hatten. Sie kümmerten sich wenig um uns, die See-Elefanten öffneten vielleicht ein Auge, um uns zu betrachten, rührten sich aber nicht, auch wenn man dicht vor ihnen stand. In den alten Schuppen hatten sich die gewaltigen Männchen, die sich gerade häuteten, buchstäblich breit gemacht, in dem Dämmerlicht leuchteten die Scheidenschnäbel auf, weiß wie Gespenster, Vögel, die zwischen ihnen und auch auf ihnen herumliefen. Pinguine watschelten furchtlos auf den alten Straßen herum, einer begleitete meine Frau ein ganzes Stück des Weges, ging ruhig und aufmerksam neben ihr her, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Es sah aus, als unterhielten sie sich.

      So würde die industrielle Welt sehr bald aussehen, dachte ich, wenn die Menschen aus irgendeinem Grund von der Erde verschwänden. Rost und Verfall, die langsame Rückkehr der Vegetation, die Tiere, die es sich in den leeren Höhlen der Menschen bequem machten, der Schrei der Möwen von gebrochenen Masten. Mehrere Schiffe mit geborstenen Planken, die nie wieder Wasser unter dem Kiel haben würden, ruhten hier für immer auf der Seite liegend im flachen Wasser vor dem Strand, und ihre Aufbauten und Masten waren von Wind und Wetter zerfressen, vor dem Hintergrund der schneebedeckten Berge ragten sie auf wie Zeugen einer gescheiterten Vergangenheit. Ein großes Walfangschiff war halb auf den Strand gezogen worden, die Harpune am Bug ragte schräg nach oben, als zielte sie auf den Himmel. Seebären – eine Robbenart, die vor hundert Jahren wegen ihres Fells fast ausgerottet war, sich nun aber erholt hat – bevölkerten die Decks der für immer gestrandeten Schiffe. Eine große Stille lag über dem kolossalen Wrack dieser alten Walfangstation, nur ab und zu hörte man ein klatschendes Aufschlagen vom Hafen her, wenn sich eine der Robben ins Wasser warf.

      Ich hatte gehofft, auf dem Kreuzfahrtschiff, mit dem meine Frau und ich in die Antarktis fuhren, ein paar Vogelbeobachter zu finden, mit denen ich abends zusammensitzen und meine Beobachtungen vergleichen konnte. Aber unter den Passagieren schien es niemanden zu geben, der sich für die Vogelwelt interessierte. Zweifellos für die eindrucksvollen Landschaften aus Schnee und Eis, für das Meer und die Wale. Aber nicht für die Vögel. Vielleicht wäre es besser gewesen, dachte ich, wenn wir mit einem amerikanischen oder englischen Schiff gefahren wären, denn das Birdwatching ist in England und den USA ungleich populärer und verbreiteter als in Deutschland.

      Einer der Passagiere war ein höflicher und netter junger Mann, der mit seinem Vater unterwegs war, und mit ihm verbindet sich eine Beobachtung, die dazu beitrug, dass ich diese Dinge zu Papier gebracht habe. Der Vater hatte die Angewohnheit, mit entschlossenem Gesicht in der Lounge, im Restaurant oder in der Bibliothek aufzutauchen, als müsse er sofort mit irgendjemandem ernste Dinge besprechen. Mit konzentriertem Blick unter heruntergezogenen Augenbrauen stürzte er herein, verlor aber nach nur wenigen Sekunden seine Zielstrebigkeit, blieb stehen und sah sich hilflos um. Manchmal kam dann sein Sohn auf ihn zu und führte ihn an seinen Tisch, wo sie sich mit einer dritten Person unterhielten. Der Sohn hatte eine sehr gewandte Art, sich mit aufmerksamem Gesicht während des Gesprächs mal seinem Vater, mal der anderen Person zuzuwenden. Er saß immer sehr aufrecht da. Wie gesagt, er war ein durch und durch netter Mensch.

      Dieser junge Mann saß eines Tages an einem Tisch auf dem Deck des Schiffes und trank mit einer Bekannten Champagner. Der Tag war klar und voller Sonne, der Himmel in einem hellen Blau, und ich saß, wie immer mit dem Fernglas in den Händen, in der Nähe. Über uns waren Heizstrahler angebracht, sodass man es hier trotz der Kälte aushalten konnte. Vor uns lag ein Eisberg im Wasser, der in seiner Form dem Matterhorn ähnelte. Die Sonne stand tief hinter ihm, und durch die Lichtstreuung erschien er tatsächlich grün – nicht smaragdgrün, wie Coleridge in seinem Gedicht sagt, aber er schimmerte in einem schönen Blassgrün, das sich in den Falten und Einkerbungen verdunkelte.

      Wir waren dicht unter einer strahlend weißen Küste an einer Insel entlanggefahren, um den Gletscher genauer sehen zu können, der mit zerklüfteter Stirn steil zum Meer abfiel, und jetzt drehte das Schiff ab und ließ die Insel hinter sich. Die im hellsten Weiß gleißende Küste fiel hinter der schäumenden Spur des Kielwassers langsam zurück und öffnete sich in einem weiten Halbrund, sodass man bei zunehmender Entfernung sehen konnte, dass wir uns in einer Bucht befunden hatten. Die bläulich schimmernden Berge wichen zurück, die am weitesten entfernten sanken unter den Horizont. Das Panorama, das sich hinter dem Heck weitete, war fantastisch. Die Kontraste stießen im Sonnenlicht hart aufeinander: das blendende Weiß des Eises unter dem Blau des Himmels, die Falten und Kanten der Gletscher mit ihren scharfen dunklen Schatten, das schwach violette Licht in den Spalten und Kavernen, das Grün und Blau des Wassers, das sich an den kantigen Abrissen des Landes mit schwarzen, feucht glänzenden Felsen brach, die aufstrahlenden Schaumkronen und die schneebedeckten Kuppen und Hänge der Berge dahinter.

      Wie fast alle Passagiere hatte der junge Mann eine Kamera mit einem langen Teleobjektiv. Das Fotografieren hatte sich verändert, die meisten nutzten motorgetriebene Mehrfachaufnahmen, sodass bei jedem auftauchenden Wal, jeder Robbenoder Pinguingruppe, die in die Nähe des Schiffes kamen, ein sirrendes Dauergeräusch entstand, das sich wie ein Zittern in der Luft hielt. Der junge Mann warf einen Blick zurück auf das Panorama hinter uns, nahm die Kamera, die auf dem Tisch lag, ließ den Apparat losrattern, legte ihn dann zufrieden lächelnd zurück, griff nach seinem Glas und wandte sich wieder seiner Gesprächspartnerin zu. Er dachte offenbar, er »hätte« es – aber was hatte er? Er hatte gar nichts.

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