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mit der gleichmäßigen, endlosen Dünung des Südatlantiks nach Südosten, auf die South-Sandwich-Inseln zu. Wir befanden uns in den Breiten der »Roaring Forties«, die für ihre furchterregenden Stürme bekannt sind. In der Zeit des Segels wurden hier viele Schiffe, die immer wieder versuchten, gegen den vorherrschenden Westwind um das Kap Hoorn herumzukommen, nach Osten verschlagen. Wochenlang kreuzten sie, bis der Wind umschlug, oder sie wurden zurückgetrieben und scheiterten im Sturm. Ein »Kap Hoorner« zu sein galt als Ehrenzeichen unter den Seeleuten der damaligen Zeit. Diese kalten Gewässer mit ihren gewaltigen, stets nach Südosten laufenden Wogen müssen viele Schiffer, die in den Weiten des Südatlantiks herumirrten, zur Verzweiflung gebracht haben.

      Der Albatros glitt aus der Himmelsrichtung, in der wir South Georgia hinter uns gelassen hatten, aus Nordwesten, auf das Schiff zu – die langen, schmalen Schwingen regungslos, in etwa fünf Metern Höhe über dem Meer. Auf diesen Augenblick hatte ich gewartet. Durch das Glas konnte ich erkennen, dass es ein junger Wanderalbatros war, das Gefieder noch nicht makellos weiß wie beim ausgewachsenen Wanderalbatros, sondern gefleckt, mit dunkelbraunen Streifen an den Armflügeln, mit dichtem Schwarz an den Flügelspitzen, das, zunehmend weiß gesprenkelt, bis zur Hälfte der Flügellänge reichte. Die helle Tüpfelung der Schwingen nahm mit der Nähe zum Körper deutlich zu und ging dann in ein strahlendes Weiß über, das nur von einem einzigen dunkelbraunen Streifen unterbrochen wurde. Der rundliche, kräftige Körper selbst war ganz weiß, nur der Schwanz trug eine schwarze Endbinde, die von schmalen weißen Längsstreifen durchbrochen war. Die Endbinde ist das letzte Merkmal, das der junge Wanderalbatros verliert, ehe er als erwachsener Vogel ganz weiß wird. Nur ein schmaler dunkelbrauner Rand, der sich zur Flügelspitze hin verbreitert, zieht sich dann noch auf der Unterseite an der hinteren Kante des Flügels entlang. Das Auge war ein dunkler Punkt mit einem kleinen schwarzen Dreieck am hinteren Augenwinkel, die hellgrauen Kopffedern bildeten über ihm eine schräg nach oben gerichtete Strichelung. Von vorne gesehen trug dieser junge Wanderalbatros noch eine braune Binde um den kräftigen Hals, die bis in die Brust hineinreichte. Der große Schnabel war ein blasses Pink, die beigefarbenen Beine ragten im Flug hinter dem kurzen Schwanz heraus.

      Er hatte keine Mühe, das Schiff einzuholen, obwohl er seinen Flug mit keinem Flügelschlag unterstützte. Er schwebte ruhig herein, wie von einer unsichtbaren Hand geschoben. Die Schnelligkeit, mit der er das Schiff, das ja nicht langsam war, erreichte, war erstaunlich. Und ihn herangleiten zu sehen war ein unvergesslicher Augenblick.

      Ich kannte das Dahinschweben der Möwen an der Ostseeküste, wo ich aufgewachsen bin. Schon als Kind habe ich bewundert, wie sie – oft auch gegen den Wind – ohne einen Flügelschlag über mir dahinzogen. Ich kannte das Kreisen der Seeadler am hohen blauen Himmel über der Uckermark. Auch das Schweben des Mäusebussards über den Kiefernwipfeln von Brandenburg zusammen mit seinem wilden Schrei ist eindrucksvoll. Ich habe in Afrika Adler und Geier beobachtet, und in den Bergen Feuerlands habe ich den Kondor dahingleiten sehen. Der Albatros aber kam auf mich zugeschwebt, als trüge er eine Botschaft aus dem Herzen der Natur.

      Dieses schwerelose Schweben ist Teil des evolutionären Wunders des Vogelflugs, der schon immer das Staunen und die Sehnsucht des Menschen geweckt hat. Ob es nun die kleinen Finken sind, die zwischen schnellen Flügelschlägen mit angelegten Schwingen dahinschießen, oder die unfassbar schnellen Schwalben und Mauersegler, die eleganten Raubvögel wie Milane oder Weihen oder die großen Segler wie die Geier und Adler in Afrika, der Kondor in Südamerika und der Albatros in den südlichen Breiten des Atlantik und Pazifik – der Vogelflug ist etwas, was die Dichter und Erzähler, aber auch die bloßen Beobachter immer schon inspiriert hat. Zu fliegen wie ein Vogel ist ein Menschheitstraum, der sich nie erfüllt hat.

      Wenn man an der Nordsee im dünner werdenden Abendlicht auf einem Deich im Gras liegt und die Möwen und Limikolen über sich hinwegstreichen sieht und ihre Rufe hört, das Gefieder hell vor dem sich verdunkelnden Blau des Abendhimmels, dann spürt man etwas von dieser Sehnsucht. So möchte man auch dahintreiben, frei und leicht, nicht gekettet an die Erdenschwere. Vielleicht hat sogar der Impuls, Vögel zu beobachten, seinen tiefsten Grund in diesem Traum, diesem Wunsch, sie nachzuahmen und irgendwohin zu fliegen. Was für ein Gefühl muss es sein, die Erde unter sich zu sehen, die Wälder, die Seen, die Flüsse. Und wie grenzenlos ist die Freiheit der Vögel, sich zu bewegen, neue Routen zu fliegen und in fremden Landschaften zu landen. Denn die Vögel fliegen überallhin. Wenn man ihre Flugrouten betrachtet, ergeben sich ganz neue geografische Verbindungen, nicht nur große Entfernungen, die sie mit immer noch rätselhaftem Orientierungssinn überwinden, sondern auch seltsame, fast spielerische Umwege – Schleifen und Ausflüge, die der Logik und der Ökonomie der Kräfte zu widersprechen scheinen. So fliegt unsere Küstenseeschwalbe, um ein extremes Beispiel zu nennen, in den äußersten Süden der Erde (ich habe sie selbst in der Antarktis gesehen), um ausgerechnet dort, wo es am kältesten ist, zu »überwintern«. Damit nicht genug, fliegt sie die afrikanische Ostküste hinunter und wechselt dann nach Südamerika über, wo sie über Feuerland die Antarktis erreicht. Es gibt Ornithologen, die ernsthaft die These vertreten, das uralte Gedächtnis dieser Vögel habe eine Zeit gespeichert, in der die beiden Kontinente noch zusammenhingen oder zumindest dichter beieinanderlagen. Und die Surfbirds, die ich im Norden Kanadas, am Polarkreis beobachten konnte, fliegen die ganze nordamerikanische Pazifikküste hinunter, weiter an der südamerikanischen Küstenlinie hinab, um dann nach Westen abzubiegen und ein paar Inseln in den Weiten des Pazifik aufzusuchen. Wie sollte man sie nicht beneiden, nicht der träumerischen Sehnsucht nachgeben, so zu sein wie sie?

      Der Vogelflug hat auch den Glauben der alten Völker an göttliche oder übersinnliche Zeichen und Botschaften angeregt. Vor großen Entscheidungen suchten die Auguren dieser Zeit Hinweise auf den Willen der Götter und das Schicksal der Menschen im Flug der Vögel. Die langen Ketten der ziehenden Vögel am Horizont wirken wie rätselhafte Schriftzeichen, wie eine Kalligrafie der Natur. Ich habe an klaren Abenden vor allem an der Ostküste der USA endlose und kaum einmal unterbrochene Reihen von fernen Vögeln gesehen, etwa auf Martha’s Vineyard oder auf den Outer Banks von North Carolina, nur Tupfer vor dem lichtgrauen Himmel – unendlich viele, die auf dem Weg nach Süden waren, ein Anblick, der selbst wirkte wie ein Traum. Aus der Ferne erscheinen sie wie eine Schrift der Natur, die niemand entziffern kann. Aber ihr Anblick ist Anlass genug, die Botschaften der Natur aufzunehmen, Botschaften, die uns aufrufen, sie zu schützen und zu erhalten.

      Wenn man eine Landschaft liebt, sie immer wieder aufsucht – das Land am Meer, die Berge, die Seen der Uckermark –, verbinden sich mit ihr nicht nur der optische Eindruck, sondern auch die Laute, die man wahrnimmt, vor allem die Rufe der Vögel, die dort häufig vorkommen und die zum Symbol dieser Landschaften werden. Die Lachmöwe an der Ostsee etwa, der Schrei der Silbermöwe oder der Ruf des Austernfischers an der Nordsee, der Anblick des Seeadlers am hohen blauen Himmel über den Seen der Uckermark. Wie tief diese Verbindung geht, merkt man, wenn man etwa in einem Film den meckernden Ruf der Lachmöwe hört – die Assoziationen stellen sich fast sofort ein. Man glaubt, dort zu sein. Diese Rufe lösen nicht einfach nur Erinnerungen aus, sie versetzen einen zurück, ganz unwillkürlich, und sie sind immer auf schwer fassbare Weise mit Sehnsucht verbunden. Es ist etwas Zeitloses in den Rufen der Vögel. Stammesgeschichtlich sind sie sehr alt – sie stammen von den Reptilien ab. Wenn man den klagenden Ruf der Silbermöwe hört, weiß man, dass dieser Laut über dem Watt der Nordsee schon ertönte, als es noch keine Menschen gab. Dieses Gefühl der Zeitlosigkeit gehört auch zu der Empfindung, die man, wahrscheinlich unbewusst, in sich spürt, wenn man abends an der Nordsee am Watt entlanggeht. »Einsames Vogelrufen, so war es immer schon«, heißt es bei Storm in einem seiner schönsten Gedichte.1

      Der Albatros ist der Vogel der Weite des Meeres, der endlosen Freiheit, der Eintönigkeit der dahingleitenden Wellen, der Gewalt der Stürme, die sich hier ungehindert entfalten können. In den vierziger, fünfziger und sechziger Breiten der Meere befindet sich sein Lebensraum, und der zieht sich um den gesamten Globus. Bis zu tausend Kilometer an einem Tag kann der Wanderalbatros zurücklegen, mit sehr geringem Energieaufwand. Offenbar ist es ihm möglich, die Flügelgelenke in Ellenbogen und Schulter (wenn man es beim Vogel so nennen darf) zu arretieren, sodass er keinerlei Energie verliert. Nach neueren Beobachtungen steigen die großen Vögel dann und wann in größere Höhen auf – bis zu zehn oder fünfzehn Meter –, woraus sie sich mit einer steilen Flugkurve und hinterher im allmählichen

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