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zu messen, und sie stellten fest, dass er beim dahingleitenden Albatros fast dem Ruhepuls entspricht. Das ist nicht weiter überraschend, wenn man weiß, dass der Albatros im Flug schläft.

      Land betreten die Albatrosse nur, um sich fortzupflanzen. Wenn sie ein Junges haben – meist ist es nur eines –, wird es von den Alten so reichlich mit Nahrung vollgestopft, dass es schließlich schwerer ist als ein Elternvogel. Ist das Junge groß genug, um allein gelassen zu werden, gehen beide Eltern auf Nahrungssuche und kehren nur noch in Intervallen zum Nest zurück. Früher hat man gedacht, sie überließen das Junge ganz seinem Schicksal, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Jedenfalls ist das Fett, welches das Junge angesammelt hat, überlebenswichtig, denn bei den seltener werdenden Besuchen der Eltern muss das Junge davon leben, bis es lernt, zu fliegen und selbst für seine Nahrung zu sorgen. Keine geringe Aufgabe für einen Jungvogel. Hat der Albatros kein Junges – und die Vögel ziehen höchstens alle zwei Jahre ein Küken auf –, lebt er ausschließlich in der Luft und auf dem Wasser. Und wenn die Elternvögel ein Junges großgezogen haben, lassen sie bis zu vier Brutperioden aus, um sich zu erholen. Sie schließen eine Partnerschaft fürs Leben, und sollte der Partner sterben, braucht der oder die Hinterbliebene sehr lange, bis er oder sie eine neue Verbindung eingeht. Es ist kein Wunder, dass sich Ornithologen, die den Albatros studieren, Sorgen um die Zukunft des gewaltigen Seglers machen. Die neuesten Zählungen zeigen nach einer gewissen Erholung in den Achtziger- und Neunzigerjahren wieder starke Rückgänge bei fast allen Albatrosarten, und man kann nur hoffen, dass dies eine vorübergehende Erscheinung ist. Liebt man die Welt der Vögel, muss man sich, so scheint es, immer Sorgen machen.

      Die Kälte hier in der Antarktis hatte nichts Passives, sie fiel einen an wie eine Naturgewalt. Aber ich spürte sie nicht mehr, hatte auch jedes Gefühl dafür verloren, wo ich mich befand. Ich verschwand in dem magischen Gleiten des großen Vogels, der da langsam auf mich zukam. In der Beobachtung wurde ich für lange Minuten Teil seines Fluges, Teil dieser Leichtigkeit und Schönheit. Es war ein Jetzt, ein Augenblick, der sich tief einprägt – eine Senkrechte in der Zeit. Es war das, was man beim Vogelbeobachten unbewusst sucht, das Erleben eines Fluges oder der Anblick eines Vogels, auf den man lange gewartet hat. Man kennt das alles aus Bildern und Filmen, aber der reale Anblick, das Erleben, übersteigt immer jede Erwartung.

      Der Anblick ist wie ein Stoß, und die Erfahrung geht durch den ganzen Körper – es ist offensichtlich kein nur zerebrales Ereignis, sondern wird sinnlich wahrgenommen, es erfüllt einen ganz und gar. Und die Aufgabe, die sich stellt, wenn man es erlebt, liegt darin, dieses Gefühl des sinnlichen Anstoßes möglichst zu verlängern, es für sich auf lange Zeit, vielleicht für das Leben fruchtbar zu machen. Man kann den Anblick eines Vogels nicht allein theoretisch vermitteln, indem man sagt, ich habe ihn gesehen, da und dort, und er sieht so und so aus. Das geht an der Unmittelbarkeit eines solchen Erlebnisses vorbei. Wenn man den Albatros sieht, ist man ganz bei dem Albatros und zugleich ganz bei sich. Da gibt es eine schwer zu erklärende Identität zwischen dem Sehenden und dem, was er sieht. Und von diesem Augenblick, diesem kostbaren Jetzt, geht eine große Ruhe aus.

      Der Albatros zog an dem Schiff vorbei, flog in einem weiten Bogen um uns herum und ließ sich auf dem Wasser nieder. Offenbar hatte er mit seinem scharfen Auge irgendetwas Essbares auf dem Wasser gesehen und nahm es nun auf. Jetzt konnte ich den Kopf in Ruhe studieren und das Friedliche, Ruhige, das von seinem Gesichtsausdruck ausging, bewundern. Und nun sah ich auch den leichten Rosaton des Schnabels, von dem ich gelesen hatte. Lange trieb er in den Wellen so dahin, bis er schließlich mit einer gewaltigen Anstrengung den Körper aus dem Wasser hob und mit langem, platschendem Anlauf der breiten Füße wieder in sein eigentliches Element, die Luft, aufstieg. Sobald er eine gewisse Höhe, etwa zehn Meter, erreicht hatte, ging er in sein ruhiges Schweben über, flog mit regungslosen Flügeln ein paar Kurven und strich dann davon. Ich verfolgte ihn mit dem Glas, bis ich ihn im Dunstgrau des Horizonts verlor.

      Es war nicht der erste Albatros, den ich sah. Neben einigen Schwarzbrauenalbatrossen, die ich in Südafrika von der Küste nördlich des Kaps der Guten Hoffnung aus beobachtete, habe ich zwei Albatrosse an einem sehr unwahrscheinlichen Ort gesehen – auf der Nordseeinsel Sylt. Ich war dort in der Nähe eines bekannten Restaurants am Strand entlanggegangen, um mich herum andere Spaziergänger, und ich war in Gesellschaft zweier Bekannter. Es war Ende April, kalt, und der starke Südwestwind trieb dicke Kumuluswolken weiß und grau schattiert über den blauen Himmel in Richtung Festland. Zwei ungewöhnlich große Vögel kamen von Südwesten her auf uns zugeflogen. Ich habe immer mein Fernglas bei mir, und ich blieb stehen und sah sie mir an, während sie noch auf den Strand zusteuerten. Dann drehten sie in einer einzigen, eleganten Bewegung ab und flogen nach Nordwesten wieder aufs Meer hinaus. Sie waren bis etwa siebzig Meter, so glaubte ich, an den Strand herangekommen. Ich erkannte sie sofort. Mollymauks, rief ich einem der Bekannten zu, während eine große Welle den Strand hinauflief und mir die Stiefel durchnässte. Mollymauk ist der ältere Name für den Schwarzbrauenalbatros. Die Engländer nennen alle mittleren Albatrosse »Mollymawks«, und diese Bezeichnung haben die Deutschen eine Zeit lang für den Schwarzbrauenalbatros übernommen. Ich hielt dem Bekannten das Fernglas hin und bat ihn aufgeregt, sich die Vögel anzusehen. Ich brauchte einen Zeugen, wenn ich die sensationelle Sichtung melden wollte, aber mein Bekannter war kein geübter Vogelbeobachter, kein »Birder«, und während er noch versuchte, mit dem Glas zurechtzukommen, waren die beiden großen Vögel schon zu weit weg, als dass man noch etwas hätte erkennen können.

      Zu Hause, in der Wohnung, die wir gemietet hatten, begann ich zu telefonieren. Zuerst rief ich einen alten Bekannten auf Amrum an, den Buchhändler Quedens, der ein Kenner der Vogelwelt an der Nordsee war. »Sie haben Basstölpel gesehen«, sagte er mit großer Bestimmtheit. Ich war ein paar Monate zuvor in Irland gewesen und hatte vor der Westküste von Donegal Basstölpel beobachtet. Ich hatte sie sogar mehrmals gezeichnet. »Das waren keine Basstölpel«, sagte ich, »ich weiß, wie Basstölpel aussehen.« – »Sie haben Basstölpel gesehen«, sagte der alte Quedens mit norddeutscher Sturheit. Da war nichts zu machen. Auf einem DIN-A-4-Bogen begann ich dann, Telefonnummern aufzuschreiben: Beobachtungsstationen an der schleswig-holsteinischen Nordseeküste, Bekannte, die dort wohnten und Vögel beobachteten. Ich besorgte mir sogar die Nummern von zwei Schiffen, die weit vor der Küste kreuzten, um die Bedingungen für Windparks zu untersuchen. Drei Tage verbrachte ich mit diesen Versuchen, jemanden aufzuspüren, der die Albatrosse gesehen hatte. Es waren etwa vierzig Gespräche. Den Bogen mit den Nummern und Adressen habe ich immer noch. Niemand hatte sie gesehen, und aus jeder Antwort ging die tiefe Skepsis hervor, die zuerst der alte Quedens so deutlich zu erkennen gegeben hatte. Schließlich gab ich auf.

      Erst jetzt, im Jahre 2017, auch im April, las ich, dass im Rantumbecken auf Sylt und auf Helgoland ein Albatros gesichtet worden war – von so vielen Vogelbeobachtern, dass kein Zweifel mehr möglich war. Ein Schwarzbrauenalbatros. Meine Sichtung der beiden »Mollymauks« lag da schon zwölf Jahre zurück.

      Ich sage nichts Neues, wenn ich behaupte, dass jede Beobachtung eines Vogels zu einer gesteigerten Wahrnehmung der Natur beiträgt. Jeder Vogelbeobachter wird bestätigen, dass der Anblick eines unbekannten oder seltenen Vogels die Zeit dehnt, die man in der Anschauung verbringt. Ich habe mal in einem Vogelbuch gelesen, dass der Verfasser, der, wie er selbst sagte, ansonsten nur ein mittelmäßiges Gedächtnis besaß, sich sofort an einen Ort erinnern konnte, wenn seine Frau ihm sagte, welchen Vogel er dort gesehen hatte. Ich bezweifle das nicht im Mindesten. Ich glaube, ich erinnere mich an jeden Ort, wo ich einen Eisvogel gesehen habe, dieses fliegende Juwel aus schimmernden Grün- und Blautönen. Der Anblick oder besser das Erlebnis, einen Albatros auf sich zufliegen zu sehen, prägt sich so tief ein, dass man ihn noch nach Jahren wieder aufrufen kann.

      Die Vogelbeobachtung stärkt etwas in uns, was man das visuelle Gedächtnis nennen kann, aber nicht nur das – auch die Umgebung, in der man dieses Erlebnis gehabt hat, prägt sich ein, sodass auch kleine und scheinbar unbedeutende Dinge in der Erinnerung haften bleiben. Es ist ein schwer zu schilderndes Erleben, weil man es oft nicht bewusst registriert, sondern in ihm verschwindet, und wenn man nach einiger Zeit »erwacht« – meist, weil der Vogel weg ist –, findet man sich nur schwer zurecht. Es ist, als müsste man einen Traum abschütteln.

      Die Begegnung mit der Welt des Eises war atemberaubend – eine Welt der Stille und des Sturms und ganz und gar unberührt vom Menschen. Dies

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