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den uns ein über viele Jahrzehnte florierender Pluralismus bescherte. Auch um des weiteren Gemeinwohls willen sollten wir deshalb jene Regeln besser zu verstehen und redlicher anzuwenden versuchen, die „im Westen“ aus eigensüchtigen Einzelmenschen und selbstgerecht konkurrierenden Gruppen so oft eine am Gemeinwesen aktiven Anteil nehmende Bürgergesellschaft gemacht haben.

      3. Unabdingbare Regeln einer Bürgergesellschaft

      Wie hält man also eine Gesellschaft und ihren Staat dahingehend lernfähig, dass man sich auf neue Herausforderungen im Inneren oder von außen einzustellen vermag und auf diese Weise Mal um Mal das Gemeinwohl verwirklichen kann? Die bestmögliche Antwort scheint zu sein: Solange kein Notstand droht, der unverzügliches Handeln gebietet, muss man unvermachtete Diskurse über – echte oder eingebildete – Probleme herbeiführen, ergebnisoffene Debatten über Verursachungszusammenhänge von Problemen organisieren, gesellschaftlichen Streit über Problemlösungsmöglichkeiten zulassen. Erst am Ende all dessen sollten Entscheidungen darüber stehen, was nun zu unternehmen wäre. Diese wiederum gestaltet man am besten als Mehrheitsentscheidungen aus, weil genau auf diese Weise Druck auf eine möglichst breite Meinungs- und Interessenberücksichtigung entsteht. Natürlich gehört zum so begründeten Mehrheitsprinzip immer auch der Schutz von Minderheiten. Und getragen werden muss dieser Politikansatz von einer Grundhaltung dahingehend, dass man sich stets neu aufs Lernen einzulassen hat.

      Der Name eines nach solchen Regeln arbeitenden politischen Systems ist pluralistische Demokratie. Zu deren Kennzeichen gehören: die bereitwillige Hinnahme, möglichst sogar Wertschätzung, von Verschiedenheit – und zwar nicht nur der Hautfarbe, sondern auch politischer Meinungen; die Selbstverständlichkeit des Rechtes eines jeden, seine Interessen eigenständig und eigenverantwortlich zu definieren – und zwar gerade solche Interessen, die man selbst ablehnt; die Legitimität von Streit – und zwar auch dann, wenn man das Risiko trägt, im Streit zu unterliegen. Wichtig für pluralistische Demokratie ist ferner, dass der Bereich dessen, worüber gestritten werden darf, ohne als Streitpartei ins Risiko sozialer Ächtung zu geraten, sehr groß gehalten wird. Hingegen muss der Bereich dessen, was dem Streit entzogen ist, so klein wie möglich ausfallen. Tatsächlich kennzeichnen sich diktatorische Regime und ihre Untertanengesellschaften gerade durch die Minimierung des Bereichs des Strittigen und durch die große Ausweitung des Bereichs dessen, worüber eben nicht gestritten werden darf. Das reicht dann von der führenden Rolle einer Partei bis hin zur unmittelbaren Prägung der Politik durch Gottes Gesetz.

      Der Name für den streitfrei gestellten Bereich einer pluralistischen Demokratie ist „Minimalkonsens“. Der besteht aus drei Teilkonsensen. Da ist der Wertekonsens. Zu ihm gehört vor allem Konsens darüber, dass jeder die gleichen Menschenrechte besitzt, darunter insbesondere das Recht darauf, von anderen verschieden zu sein: nach dem Aussehen, der sexuellen Orientierung, der Religion, der politischen Einstellung etc. Da ist der Verfahrenskonsens. Er umschließt Gewaltfreiheit, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz. Die Gewaltfreiheit ist dabei besonders wichtig. Gewalt – und im Vorgriff auf ihre Anwendung: die Einschüchterung durch Gewaltandrohung – verringert nämlich die Vielfalt dessen, was aus freien Stücken an Sichtweisen und Interessen in den Streit eingebracht wird. Eben das aber reduziert die Chancen, im Streit und durch den Streit zu lernen, was einer pluralistischen Demokratie ihren zentralen Vorteil entzieht. Und schließlich ist da der Ordnungskonsens, beispielsweise Konsens darüber, dass auf der Straße demonstriert, dann aber in den Parlamenten oder durch Gerichte entschieden wird. Ein Staatswesen gerade so auszugestalten, dass über so viel wie möglich gestritten werden kann und dadurch die Lernfähigkeit von Politik und Gesellschaft optimiert wird, ist das „wirkungsmächtige Geheimnis“ pluralistischer Demokratie und der große Vorteil einer funktionierenden Bürgergesellschaft.

      Ein weiterer, sehr besonderer Wert dieser Art von Gesellschaft besteht darin, dass sie Kritik an den herrschenden bzw. bestehenden Verhältnissen ermöglicht und gerade nicht die Affirmation des Bestehenden verlangt, also dessen Rechtfertigung, Unterstützung oder Verteidigung. Vielmehr gehört zur pluralistischen Demokratie – außerhalb des minimalen Werte-, Verfahrens- und Ordnungskonsenses – eine allzeit kritische Grundhaltung der Bürgerschaft gegenüber sämtlichen Ansprüchen, jemand habe recht, oder etwas sei richtig, weil man es „immer schon“ so gehalten habe. Allerdings meint „Kritik“ viel mehr als bloß gefühlsgeleitetes Schimpfen. Zu ihr gehört nämlich auch der Aufweis von Beurteilungsmaßstäben mitsamt deren vernunftgeleiteter Begründung, und desgleichen die mit Anspruch auf logische Richtigkeit geleistete Beurteilung des Bestehenden anhand jener Maßstäbe. Anders formuliert: Pluralistische Demokratie wird durch rationale Kritik gestärkt, nicht durch eine gefühlsbetonende Verteidigung bestehender Zustände.

      Diese Spielregeln pluralistischer Demokratie beruhen auf Erfahrungen aus Versuch und Irrtum bei der Ausgestaltung politischer Systeme und der sie tragenden Gesellschaften. Letztlich bauen sie der politischen Praxis den „Algorithmus der Evolution“ ein. Der aber ist nach allem, was wir über die Evolution komplexer Systeme wissen, und zwar von der Biologie über die Kultur bis hinein in die Welt von Institutionen, die wirklich bestmögliche Weise, für die Lernfähigkeit und für eine leistungsfähige Verkopplung von Systemen mit ihrer Umwelt zu sorgen. Der Vierschritt dieses Evolutionsalgorithmus umfasst Variation, Selektion, Retention sowie differenzielle Reproduktion und sieht in Gesellschaft bzw. Politik so aus: Es entsteht die für eine Lösung neuer Probleme erforderliche Variation von Sichtweisen, Prioritäten, Lösungsvorschlägen und Handlungsselbstverständlichkeiten durch das praktisch genutzte Recht auf Verschiedenheit sowie durch eine angstfreie Artikulation von Meinungen bzw. Interessen in ununterbrochen ablaufenden streitigen Diskursen. Sodann kommt es zur internen Selektion aus der so angebotenen Vielfalt, d. h. dazu, dass beiseite geschoben wird, was nicht zum bestehenden System pluralistischer Demokratie, nicht zu dessen bewährten Funktionsroutinen oder nicht in die aktuellen Diskursgefüge passt. Eine solche interne Selektion geschieht in vernünftiger Weise allein entlang eines Minimalkonsenses über Menschenrechte, Gewaltfreiheit, Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz und bewährte Ordnungsstrukturen. Es folgt die externe Selektion dergestalt, dass sich nicht all jene politischen Maßnahmen in der politischen Praxis bewähren, auf die man sich – mit oder ohne Mehrheitsentscheidung – im pluralistischen Diskurs verständigt hat. Tatsächlich führt gerade in der Politik, die ja meist ein Handeln unter den Bedingungen von Ungewissheit ist, der zu beschreitende Weg so gut wie nie am Lernen aus allenfalls „gut gemeinten“ Versuchen, aus unvermeidlichen Irrtümern und aus Politikkorrekturen vorbei. Retention meint sodann die Beibehaltung dessen, was sich – einstweilen und oft auch nur „bis auf Weiteres“ – bewährt hat. Dieses kann später zum Teil jener internen Selektionsfaktoren werden, die vorfiltern, was überhaupt in der Praxis versucht wird.

      Im Umgang mit den internen Selektionsfaktoren spielen sich meist zwei politische Grundhaltungen ein. Konservative versuchen, sich vom bereits Bewährten leiten zu lassen, und Progressiven liegt daran, zumal unter neuen Bedingungen, Neues auszuprobieren. Es ist wirklich beides erforderlich, wenn politische Strukturen nachhaltig stabil sein und sich bei Veränderung der sie umbettenden Zusammenhänge aufrechterhalten lassen sollen. Misslingt Letzteres, so droht das Abgleiten in fragile Staatlichkeit, im schlimmsten Fall in den Zustand von Bürgerkrieg und Anomie. Gelingt es aber, grundsätzlich Bewährtes durch Reformen aufrechtzuerhalten, so können sich solche Strukturen auch weiter ausbreiten, können also – beispielsweise – Institutionen wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und periodische Wahlen ihre autoritären Alternativen in immer mehr Ländern ablösen. Eben das ist mit „differenzieller Reproduktion“ als abschließendem Schritt im Evolutionsalgorithmus gemeint. Offenkundig liegt eben solche differenzielle Reproduktion jener weltweiten Ausbreitung demokratischer Systemelemente zugrunde, die sich während mehrerer „Demokratisierungswellen“ vollzogen hat.

      Weil sich die Umstände politischen Handelns also immer wieder ändern und es Mal um Mal die Bewältigung neuer Herausforderungen braucht, muss man vernünftigerweise danach trachten, gerade im Staat und in der ihn tragenden Bürgergesellschaft diesen „Algorithmus der Evolution“ nicht lahmzulegen. Eben das geschieht allerdings, wenn man bestehende Selbstverständlichkeiten oder Strukturen – durch subtile Androhung von Gewalt oder durch

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