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»zu halten und weiter zu steigern gilt«.54 So klafft die Schere zwischen dem Wissen um Bakterien und falsch verstandener Hygiene immer weiter auseinander. Der Einsatz von Desinfektionsmitteln im Haushalt ist völlig überflüssig.55 Hygienisch ist nicht die Beseitigung der Bakterien aus einem Lebensraum. Hygienisch ist die passende Bakterienvielfalt und -mischung mit ihrer gesunden Aktivität und Kommunikation am jeweiligen Ort.

      Mittlerweile wird der Begriff »antimikrobiell« derart grob verallgemeinert, dass schier alles damit gemeint ist, was irgendwie die Bakterienzusammensetzung irgendwo in einem Lebensraum verändert. Als sei dies von besonderem Wert, heißt es nun im Zusammenhang mit allem Möglichen stolz, es wirke auch »antimikrobiell«. Küchengewürze, Gartenpflanzen, Edelsteine, Öle, Textilfasern, Schlafanzüge,Schmuck – oft sind es sogar Naturprodukte, die jetzt durch solch eine Brille fokussiert werden. Mit Buchtiteln wie Antibiotika aus der Natur wird unterstellt, in der Natur gäbe es einen Kampf gegen das Leben. Was für ein Unfug angesichts der Tatsache, dass Leben immer aus seinem lebenspendenden Ursprung heraus und im Miteinander lebt! Oft genug findet man in solchen Büchern bloß Auflistungen von allerlei Heilmitteln aus der Natur. Als sei, was heilt, automatisch »keimtötend«, ein Begriff, der dabei meist völlig aus der Luft gegriffen und gänzlich unwissenschaftlich verwendet wird. Vollkommen unbedacht wird dabei der Natur im aktuellen 21. Jahrhundert noch einmal neu das aus der Entfremdung von der Natur im 19. Jahrhundert entstandene Denkkonstrukt übergestülpt.

      Vor den Hintergrund, dass in der Natur alles miteinander lebt, kooperiert und es dabei Kommunikation und Regulation gibt, muten solche Bezeichnungen geradezu grotesk an. Nicht jede Fähigkeit eines Stoffes, zu wirken, selbst wenn sie eine Bakterienbesiedelung beeinflusst, ist mit einer »Bekämpfung« gleichzusetzen. Jede Veränderung eines Milieus bringt veränderte Lebensbedingungen mit sich, denen eine gewandelte Bakterienzusammensetzung folgt. Das ist Lebensgesetz. Wenn eine Pfütze austrocknet und da, wo vorher Wasserläufer und Mückenlarven lebten, Gras wächst, auf dem Marienkäfer krabbeln, würde ja auch niemand behaupten, die Marienkäfer hätten die Mückenlarven bekämpft. Oder wenn ein ausgetrockneter Gartenteich, in dem sich Ameisen und Spinnen tummeln, wieder mit Wasser gefüllt wird und sich dann Kaulquappen und Fische darin finden, käme auch niemand auf die Idee zu sagen, die Kaulquappen hätten die Spinnen bekämpft.

      Genauso wenig »kämpfen« Heilmittel. Die Verwendung von Heilpflanzen und Heilsteinen unterscheidet sich grundlegend vom Einsatz der »Antibiotika«. Erstere beeinträchtigen die natürliche Bakterienbesiedelung nicht, während sie das Milieu regulieren. Das jedoch ist bei Letzteren in schwerwiegender Weise der Fall.

      Nimmt ein Mensch ein Antibiotikum, verändern sich in seinem ganzen Körper Bakterienzusammensetzung und -aktivität. Es kommt zu einem individuell unterschiedlich stark ausgeprägten Mikrobiomschock. Diese Veränderung ist unwiderruflich. Wissenschaftliche Studien zur Veränderung des Darmmikrobioms nach Antibiotikagabezeigen übereinstimmend, dass direkt nach der Einnahme des Mittels, egal ob örtlich aufgetragen, eingenommen oder intravenös gespritzt, die Anzahl der Bakterien abnimmt, und zwar im gesamten Körper. Nutzt man also an Zähnen ein Antibiotikum, kann dies die Vaginalflora verändern. Antibiotische Vaginalzäpfchen können die Mundflora verändern. Auch die Zahl der verschiedenen Bakterienarten nimmt dabei ab, zum Beispiel um 50 Prozent im Darm.56

      Dabei wird die Zusammensetzung der Bakterienarten im Mikrobiom verschoben, und einige Stämme verschwinden. Sie werden vielleicht durch andere ersetzt. Die Verhältnisse der verschiedenen Arten untereinander ändern sich grundlegend. Neu zu finden sind resistenzaktivierte Stämme. Lässt man per Computerbild die als Punkte in einer Tabelle aufgeführten Veränderungsdaten direkt optisch aufeinanderfolgen, zeigt sich ein wilder Zickzackkurs, bis sich das Mikrobiom allmählich mit einer neuen Zusammensetzung woanders stabilisiert als zuvor.57

      Folgt auf eine kurze Antibiotika-Einnahme eine Erholungszeit, kann sich in einem gesunden Milieu die Bakterienmenge aus den verbliebenen Bakterien wieder vermehren, und die Funktionsfähigkeit des Mikrobioms wird so gut wie möglich wiederhergestellt. Die verbliebenen Bakterienstämme können ersatzweise Aufgaben der verschwundenen Stämme übernehmen, womöglich aber nicht in der gleichen Aktivität. Abhängig von den persönlichen Lebensumständen, kann nach einigen Wochen oder Monaten ein zwar verändertes, aber funktionsfähiges Mikrobiom wiederhergestellt sein.

      In Studien wurde die Zusammensetzung der Darmbakterien bis zu vier Jahren nach einer antibiotischen Therapie beobachtet. Eine vollständige Rückkehr zum ursprünglichen Mikrobiom gibt es dabei nie.58

      Nimmt man allerdings in der Erholungsphase, beispielsweise binnen eines halben oder eines Jahres, erneut ein Antibiotikum, kommt es zu keiner Wiederherstellung mehr. Die Verschiebung der Arten sowie die Verminderung in Vielfalt und Fülle bleiben in größerem Maße bestehen und können langfristig Störungen der Gesundheit in allen Organen mit sich bringen, da sie auf die Zusammenarbeit mit den Bakterien angewiesen sind. Bekanntlich folgen daraus Durchfälle und Unverträglichkeiten und schließlich chronische Reizdarmsymptome. Weniger bekannt sind Stoffwechselstörungen wie Übergewicht oder Diabetes. Es kann auch zu einer allgemeinen Infektanfälligkeit, Unverträglichkeiten und zu psychischen Störungen kommen. Typischerweise wiederholen sich Infektionen von da an immer wieder.

      Es gibt weltweit mittlerweile achtzig Antibiotikaklassen. Viele weitere sind in Entwicklung.59 Daraus waren im Jahr 2014 beim Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte 2429 verkehrsfähige Antibiotika zugelassen. Geschätzte 650 Tonnen Antibiotika wurden im Jahr 2011 in Deutschland von Menschen aufgenommen. 1706 Tonnen gebrauchte man in der Tierhaltung, wovon über Lebensmittel immer wieder Spuren auch beim Menschen landen. Vierzig Millionen Antibiotika-Verordnungen wurden im Jahr 2013 bei Krankenkassen abgerechnet, gut ein Drittel der Versicherten erhielt mindestens eine Antibiotika-Behandlung im Jahr, bei den vier- bis sechsjährigen Kindern sind es 41 Prozent, bei den über neunzigjährigen Menschen etwa jeder zweite.60 Dabei ist bei Kindern ein stabiles Mikrobiom für eine gesunde Entwicklung unerlässlich, und alte Menschen haben ohnehin bereits eine verringerte Bakterienvielfalt im Körper, was sie anfälliger sein lässt (siehe Seite 96ff.).61 Ein zusätzlicher Mikrobiomstress bringt im Alter ein geschwächtes Zusammenwirken zwischen Einzellern und Körperzellen womöglich völlig zum Erliegen, mit unter Umständen schwersten Folgen. Gerade dann ist eine mikrobiologische Therapie oft heilsamer, um das Wohlbefinden wiederherzustellen.

      Die persönliche Verminderung von Vielfalt und Fülle im Mikrobiom der einzelnen Menschen summiert sich in den von dieser Entwicklung betroffenen Gesellschaften auf einen allgemeinen Bakterienmangel, der inzwischen dahin geführt hat, dass Menschen in industrialisierten Ländern erheblich weniger Bakterienarten im Körper haben als in naturnah lebenden Kulturen. Forscher verglichen die »zivilisierte« Bakterienbesiedelung mit jeweils der von Hadza-Jägern im Inneren von Tansania,62 von Ureinwohnern in Papua-Neuguinea63 und in Burkina Faso64 und von erst im Jahr 2009 kontaktierten Dorfeinwohnern des Jäger-und-Sammler-Volksstammes der Yanomami im Urwald von Venezuela.65 Letzterer lebt seit 11 000 Jahren dort, ohne von der antimikrobiellen Zivilisation berührt worden zu sein. Bei allen ermittelte man in Stuhlproben, Nasenabstrichen und Haut ein viel größeres Bakterienspektrum als bei uns. Bei den Yanomami fand man die höchste je bei Menschen gemessene Artenvielfalt überhaupt, um 40 Prozent mehr als beim durchschnittlichen US-Amerikaner. Fast ungläubig äußern die Forscher in den Studien die Vermutung, die größere Vielfalt und Fülle als bei uns hänge wohl mit dem von der Natur entfremdeten Lebensstil der Menschen in Industrienationen zusammen, der sie ihrer ursprünglichen Bakterienbesiedelung beraubt habe. Schon werden Überlegungen angestellt, ob diese Vielfalt bakterienreicher Völker nicht zu therapeutischen Zwecken für die Menschen in der westlich zivilisiertenWelt genutzt werden könne. Derweil schickt die Regierung Venezuelas fürsorglich zweimal jährlich per Helikopter medizinische Versorgung zu den Yanomami und behandelt sie – unter anderem mit: Antibiotika!

      Wir leiden also aufgrund unserer desinfektiösen Lebensweise in unserer Zivilisation an persönlichem Bakterienchaos im Körper und an kollektivem Mikrobenmangel im ganzen Volk. Und wo die natürliche Vielfalt in einer großen Gemeinschaft verloren ist, kann sie selbst bei innigstem Körperkontakt nicht

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