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änderten,90 im gewünschten Lebensmittel nicht ausreichend überlebten, es nicht möglich war, sie präzise zu identifizieren und zu benennen. Außerdem wusste man nicht, welche Wirkung sie im Körper überhaupt entfalteten.

      Der Kopenhagener Milchforscher Sigurd Orla-Jensen (1870–1949) versuchte 1912, den traditionellen Lactobacillus bulgaricus bei der Joghurtherstellung durch Lactobacillus acidophilus zu ersetzen, weil er ihn wegen seines Vorkommens im Menschen für diesen für verträglicher hielt. Man suchte nämlich Stämme, die angeblich besser die »Magen-Dünndarm-Passage« überlebten, mit dem Wunsch, bestimmte Bakterien im Dickdarm anzusiedeln. Daraus entstand die sogenannte »Azidophilus-Milch« und 1934 ein »Reformjoghurt«,91 der auf die Arbeiten von Gärungsforscher Wilhelm Henneberg (1871–1936) in Kiel zurückging. Da damit jedoch keine gewinnbringende Herstellung mehr gelang, begnügte man sich schließlich damit, ihn den beiden üblichen Joghurt-Stämmen Lactobacillus bulgaricus und Streptococcus thermophilus hinzuzugeben.

      Die europäische mikrobiologische Forschungswelle zu gesundheitsfördernden Mikrobenkulturen hatte weltweit Interesse ausgelöst. In Japan isolierte im Jahr 1930 Minoru Shirota (1899–1982) Lactobazillen aus dem Darm eines Kindes und brachte sie 1935 als gezuckerten Azidophilus-Joghurt-Drink in hübschen handlichen Fläschchen als »Yacult« in den Handel. 1974 stellte sich zwar heraus, dass andere Lactobazillen darin waren als deklariert, nämlich Lactobacillus casei. Das Produkt gelangte dennoch, künstlich vitaminisiert, gezuckert, aromatisiert oder mit Süßstoff versetzt, nach Europa und wurde 1995 auch in Deutschland eingeführt.

      Der Zweite Weltkrieg verschob die Perspektive der Bakteriologen in Richtung Antibiotika, sodass der Gedanke an Ernährung und Medizin mit heilenden Bakterien weitgehend verdrängt wurde.

      Einige Ärzte, die früh vor dem Gebrauch und den Folgen der Antibiotika warnten, widmeten sich dennoch dem praktischen Einsatz von Bakterien für die Heilung. Ihr Arbeiten war nicht immer leicht. Arthur Becker (1893–1952), Facharzt für innere Medizin und Bakteriologie, war der damalige Pionier der Heilanwendung von Bakterien. Er arbeiteteals Arzt, derweil er über mikrobiologische Therapie forschte, war aber Repressionen ausgesetzt und musste in den dreißiger Jahren mehrfach in die Schweiz flüchten, weil man ihm ein Berufsverbot auferlegte und die jeweiligen Forschungslabore schloss. Erst nachdem wieder Frieden eingekehrt war und sich die Lebensbedingungen nach 1945 wieder normalisierten, konnte er weiterforschen. Mit ihm arbeiteten Kollegen zusammen, sie trafen sich, tauschten ihre guten Erfahrungen mit der Bakterientherapie untereinander aus, entwickelten sie weiter und begründeten im Jahr 1954 in Hessen den »Arbeitskreis Mikrobiologische Therapie«, den es seither gibt (siehe Seite 190).

      In dieser Zeit trennte sich die Entwicklung probiotischer Medikamente und der Lebensmittelprobiotika, obwohl die Bakterien dabei an sich natürlich die gleichen sind.

      Der Begriff »Probiotikum« wurde anscheinend erstmals im Jahr 1953 verwendet, und zwar von Werner Kollath (1892–1970), der etwas gänzlich anderes damit meinte. Er bezeichnete damit nämlich Nahrungsbestandteile, die dem Leben förderlich seien, im Gegensatz zu schädlichen »Antibiotika«. Damit begann geradezu eine Laufbahn des Begriffs: 1965 verstand man unter Probiotika Substanzen, die von Bakterien abgegeben wurden, um das Wachstum anderer Mikroben zu fördern, als Gegensatz zu den sie hemmenden »Antibiotika«.92 Später waren es Organismen oder Stoffe, die das Bakteriengleichgewicht im Darm förderten,93 dann meinte man damit lebende Mikroorganismen, die als Zusätze zur Gesundheitsförderung der Nahrung oder dem Tierfutter zugegeben wurden,94 noch später lebende Mikroben, die zu Gesundheitszwecken verzehrt wurden. Diese vergeblichen Versuche, »Probiotika« genau zu definieren, mündeten in die heutigen Begriffsfassung der WHO aus dem Jahr 2001, nach der Probiotika lebende Mikroorganismen sind, »die, wenn in ausreichender Menge verabreicht, dem Wirtsorganismus einen gesundheitlichen Nutzen bringen«. Nimmt man diese Definition beim Wort, zählten folgerichtig auch Bier und Champagner, Rohmilchkäse sowie der Salat aus dem Garten zu »Probiotika«, da auch sie mikrobenreich sind und dem Menschen einen gesundheitlichen Nutzen bringen. Kurzum: Alles Essen mit Bakterien ist probiotisch. Essen ohne Bakterien gibt es allerdings nicht. Gleichzeitig gelten auch äußerlich angewendete Mikroben, also Vaginalzäpfchen mit Bakterien oder Hautcremes, als Probiotikum. DieVerwirrung besteht jetzt darin, dass man nun gar nicht mehr weiß, was ein Probiotikum eigentlich Besonderes sei und was es von einem Lebensmittel oder Medikament unterscheidet.

      Im Oktober 2013 fand sich daher eine Gruppe von Spezialisten zu einer Tagung zusammen und fragte sich, ob wegen der neuen Mikrobiom-Erkenntnisse die derzeitige Definition denn noch gültig sei. Man fand ja, schloss aber neu diejenigen Mikrobenstämme darein, die in kontrollierten wissenschaftlichen Studien bestimmte Gesundheitswirkungen gezeigt haben. Hingegen sollten Mikrobenstämme, für die es entweder keine Studien gibt, die zu fermentierten Lebensmitteln gehören oder die als Stuhltransplantationen verwendet werden, gar nicht mehr als »Probiotika« gelten. Übrig blieben dann nur die industriell hergestellten Mittel unter Verwendung isolierter Stämme, die vom Menschen künstlich kultiviert in eine streng kontrollierte Form gebracht wurden.95

      Damit wird die Verwirrung leider noch vergrößert, abgesehen davon, dass darin obendrein ein weiterer Versuch liegt, die grenzenlose Fülle und Vielfalt der Kleinstlebewesen in ein menschengemachtes Korsett zu zwängen. Der freie Fluss unseres Lebensursprungs, der durch die Mikroben unentwegt im Lebendigen vermittelt wird, würde damit fortgesetzt blockiert.

      Der Begriff »Probiotika« bezeichnet daher eigentlich etwas, was Nahrung und Heilmittel zugleich ist: nämlich eine bakterienhaltige Ernährung. Denkt man diese Bedeutung der definierten »Probiotika« zu Ende, implizieren sie, dass sie Medizin überflüssig machen könnten, wenn man sich nur gut genug ernährt. Kein Wunder also, dass Probiotika aus mancher Sicht eher unerwünscht sein mussten.

      Jetzt, wo die Mikrobiomforschung die große Bedeutung der Bakterien bewiesen hat, gelten sie aber doch auf einmal wieder als Medizin der Zukunft. Daher ist es umso wichtiger, tatsächlich umzudenkenund ein wahres Bild von Mikroben und Mensch zu entwickeln, um nicht dem nächsten Irrtum in der Medizin anheimzufallen.

      Vor fast hundert Jahren gab es also eine Weichenstellung in der akademischen Medizin: Entweder man behandelte mithilfe der Bakterien, oder man ging gegen sie an. Vielleicht gefördert durch das Denken in Kriegszeiten, wählte man den Umweg des Bekämpfens. Wir haben die Möglichkeit, die Wege jetzt wieder zusammenzuführen und an den Pfad eines friedlichen Umgangs mit Bakterien anzuknüpfen.

      Es gibt noch einen Grund, der den Ruf der Probiotika minderte: Die Forscher, die die Wechselwirkungen zwischen Mikroben und Mensch erforschten, taten dies im Labor. Sie führten dort objektivierbare Studien durch, deren Ergebnisse erst auf den Tierversuch, dann auf den Menschen übertragen wurden. Solange man dabei auf ein bestimmtes Symptom blickte, zum Beispiel auf Durchfall, ließ sich ein Prozentsatz derer ermitteln, bei denen es verschwand. Das ist bei den Antibiotika leicht möglich. Bei einem Probiotikum, das ja definitionsgemäß direkt im Menschen wirkt, sind Laborversuche für die Ergebnisse hingegen wenig aussagekräftig und die Wirkungen im Lebendigen kaum objektivierbar, weil jeder Mensch natürlich anders ist als der nächste. Da die Wirkung nicht immer nachweisbar ist, ist der Begriff »probiotisch« seit Dezember 2012 mit gesundheitsbezogenen Aussagen bei Lebensmitteln in Europa verboten.96

      Die diversen Menschenbilder der Ärzte entwickelten somit unterschiedliche therapeutische Richtungen. Probiotika galten als »alternativ«. Sie wurden in der Erfahrungsheilkunde eingesetzt,

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