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der Frage, ob die Stadt in baldiger Zukunft den unverheirateten Männern ein offizielles Bordell zur Verfügung stellen sollte, flammte kurz ein Streit zwischen Veit Sendlinger und Melchior Pütrich auf. Die Sendlinger und die Pütrichs zählten zu den ältesten, einflussreichsten und grundsätzlich gegensätzliche Meinungen vertretenden Münchner Familien. Es war in den vergangenen Monaten wiederholt zu Übergriffen auf junge Mägde und zu Vergewaltigungen gekommen. Der greise, verschrumpelte Veit Sendlinger hatte zeitlebens wie ein Asket gelebt, was ihn nicht vor der Gicht bewahrt hatte. Dicht eingemummelt in Pelze, deren Wärme seine Krankheit lindern halfen, sah er hinfälliger aus, als er tatsächlich war. Ein fanatischer Betbruder vor dem Herrn, der überall Unzucht und Sodomie witterte. In Sachen Betbruder konnte es nur noch der Fenggenmuck mit ihm aufnehmen, doch der war geradezu liberal, was die Ansichten über Zwischengeschlechtliches anging. Die gichtigen Hände des Sendlinger schienen eh immer ineinander zum Gebet verknotet. Er forderte lautstark, dass die unverheirateten Männer sich gefälligst in keuscher Enthaltsamkeit üben sollten, das sei ja wohl nicht zu viel verlangt – hier überging er geflissentlich das nicht sonderlich unterdrückte Gelächter der anderen Herren. Und wer nicht hören wolle, dem solle man zur Strafe sein »Ding da« abhacken. Melchior Pütrich verwies darauf, dass der Mensch nun einmal von Geburt an sündhaft sei – daran sei bekanntlich das Weib an sich schuld, also das Urweib, die Eva, damals mit dem Apfel –, und betonte, dass das Bordell, das der Scharfrichter momentan in der Nähe seines Hauses betrieb, ohnehin unter schärfster städtischer Kontrolle stehe. Daher sei es nur ein kleiner Schritt, dieses »Frauenhaus« offiziell zu machen und dem Henker, der ohnehin von der Stadt bezahlt wurde, die Aufsicht über das liederliche Weibsvolk zu übertragen. Man sollte, warf da der Rat Lorentz Tulbeck ein, zu diesem delikaten Thema auch die Kirche anhören, speziell den Fürstbischof von Freising. Der Sendlinger nickte beifällig, mehrere andere, darunter Tassilo Stubenruß, verdrehten genervt die Augen. Was der Fürstbischof zu dem Thema sagen würde, sofern man ihn mal von seiner Geliebten runterbekam, war eh klar. Also könnte man das auch gleich lassen. Die Abstimmung wurde vertagt.

      Die Sache mit dem kleinwüchsigen Taschendieb, den Tassilo am östlichen Brückenkopf hatte festnehmen lassen, behandelte der Rat zuletzt. Diesmal mischte sich der Oberrichter Fenggen ein. Man ließ den Dieb aus dem Kerker holen. Er beteuerte seine Unschuld und bettelte um Vergebung. Tassilo berichtete, was er beobachtet hatte. Es dauerte keine fünf Minuten, da waren sich Stadtrat und Oberrichter einig, dass man den frechen Kerl am nächsten Morgen beim ersten Hahnenschrei vor das Sendlinger Tor führen sollte. Dort bestrafte man kleinere Vergehen durch Auspeitschen, Brandmarken oder Gliedmaßen abhacken. Kurz stand im Raum, dass man dem Verbrecher beide Hände abhacken sollte. Doch der Oberrichter legte aufgrund der recht geringen gestohlenen Summe fest, dass man sich mit der rechten begnügen würde. Danach würde man den Delinquenten durch richterliche Schergen mit Knüppeln aus dem Stadtgebiet rausprügeln lassen, das er im Übrigen für mindestens zwölf Monate nicht mehr betreten dürfe. Wie alle Städte endete München nicht an seinen Mauern. Es gehörte immer noch Umland zum Stadtgebiet, das man Burgfrieden nannte. Vom Sendlinger Tor aus hatte der Verurteilte gute Chancen, die Grenze zu Sendling nahe der Brudermühle zu erreichen, wenn er den Verlust seiner Hand sofort ausblendete und schnell genug vor den Bütteln mit ihren Prügeln davonrannte. Das Übliche eben. Alle waren zufrieden, lobten die Milde des Richters als gottgefällig, und selbst der Verurteile wimmerte »Danke, die Herrn, danke«, als man ihn zurück in die Zelle brachte.

      Als sich der Rat auflöste, die Herren in ihre hochhackigen Holztrippen schlüpften und deren Lederriemen festzurrten, um sich draußen im Matsch nicht die feinen Schuhe zu versauen, und Tassilo seine Sachen zusammenpackte, traten die beiden Bürgermeister an ihn heran. »Mit Verlaub, Herr Tassilo«, sagte Seitz Hundertpfundt. »Wir hätten Euch gerne noch etwas gezeigt. Und etwas mit Euch besprochen.«

      Tassilo Stubenruß zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Mehr als »So?« fiel ihm nicht ein. Er sah von Hundertpfundt zu Wilprecht und von Wilprecht zu Hundertpfundt. Dann noch zum Oberrichter Fenggenbartel, denn der war zu seiner größten Verwunderung ebenfalls geblieben. Ebenso dessen Bruder, der Fenggenmuck. Sollte es mit seiner Bewerbung für die Meistersinger zu tun haben? Waren den hochnäsigen Stadtratskollegen die Meistersinger zu vulgär, weil sie sich nur aus Handwerkern und Zunftmeistern zusammensetzten?

      »Hört, meine Herren …«, begann Tassilo, kam aber nicht weiter.

      »Folgt uns bitte, mein Herr«, sagte Fenggenbartel. Es ging im Fackelschein hinab in den Kerker unter dem Rathaus, vorbei an den Zellen, vor denen sich drei städtische Wachmänner langweilten und in denen nur zwei Landstreicher, zwei Huren und ein Dieb hockten. Bis auf den Dieb würden morgen alle anderen zum Frondienst an der Stadtmauer geführt werden. Man ließ sich von einem Büttel die schwere, eisenbeschlagene Tür zu dem Raum aufschließen, in dem normalerweise nur die »peinlichen Verhöre« stattfanden, also mehr oder weniger raffinierte Verfahren der Schmerzbereitung zur Wahrheitsfindung eingesetzt wurden. In einer Ecke kauerte eine junge Magd, die in ihre Schürze heulte. In der Mitte des Raums stand ein niedriger Tisch, darauf lag etwas Großes, Massiges unter einem groben Leinentuch. Erbärmlicher Verwesungsgestank füllte das Kellerloch und grub sich in die Mägen der Anwesenden.

      »Ihr Herren, werte Meister«, wimmerte die Magd und stand auf. »Habt Mitleid. Lasst mich endlich gehen. Ich bin doch unschuldig.«

      Richter Fenggenbartel wedelte in ihre Richtung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Er trat zum Tisch und zog schwungvoll das Leinen weg. Eine Armada an fetten schwarzen Schmeißfliegen erhob sich und verbarg für einen Moment den Blick auf das, woran sich die Fliegen gelabt hatten. Alle Anwesenden taumelten und hielten sich die Hände vor die Gesichter. Sicher, man hatte genug Hinrichtungen mit dem Schwert beigewohnt, war oft beim Rädern und Hängen gewesen und hatte den Metzgern beim Schlachten und Ausnehmen von Viechern zugeschaut. Und wenn man nach Pasing oder weiter nach Augsburg reiste, kam man stets am Galgenberg vorbei. Dort blieben die Gehenkten so lange hängen, bis sie von selbst abfielen. Erst dann beerdigte man sie. Also waren die Herren einiges gewöhnt. Doch dieser Anblick traf selbst Hartgesottene ins Mark. Brechreiz wogte durch Tassilos Körper und ließ sogar seine Haarwurzeln bizzeln. Nur mit äußerster Beherrschung gelang es ihm, sich nicht sofort zu übergeben.

      »Du hättest uns vorwarnen können!«, rief der Fenggenmuck seinem Bruder angewidert zu. »Das ist ja entsetzlich! Heiligemuttergottesstehunsbei!«

      »Was …«, stammelte Tassilo, saure Galle hinunterschluckend. »Warum … warum zeigt Ihr mir das?«

      »Das ist der Koberbauer aus Taufkirchen. Beziehungsweise was von ihm übrig ist«, sagte der Oberrichter. Der Fliegenschwarm ließ sich langsam wieder auf der Leiche nieder. Vorher war alles schwarz-rot, nun schwarz-schillernd.

      »Ich verstehe«, sagte Tassilo langsam, seine Mundhöhle fühlte sich öde und trocken an. Er riss sich zusammen. Mensch oder Sau, aufgeschlitzt gab es keinen so großen Unterschied. Was ihm tatsächlich zu schaffen machte, war weniger der Anblick als der Gestank. Und die nervtötenden Fliegen. »Also gut. Das da ist sein Kopf, oder? Und, nun ja, die Gliedmaßen sitzen noch einigermaßen an den Stellen …« Er würgte. »… wo es sich geziemt. Aber was hat man mit seinen Innereien gemacht? Das ist ja …«

      »Nicht wahr?«, mischte sich nun Bürgermeister Hundertpfundt ein. »Welche Bestie ist zu so etwas fähig? War das sein Darm?« Schmeißfliegen stoben auseinander. »Warum hat man ihn … also, das ist doch obszön, den Darm eines Mannes so … Also wirklich. «

      »Es muss ein Bär gewesen sein«, sagte Bürgermeister Wilprecht. »Oder ein riesiger Wolf.«

      »Meint Ihr?« Tassilo schürzte die Lippen. »Dann aber nur ein monströser Wolf mit einem Schwert oder einer Lanze. Seht Ihr nicht, meine Herren? Die Schnittkanten sind überall gerade. Ein Bär oder eine andere Bestie würde keine sauberen Schnitte hinterlassen. Dann wäre alles zerfetzt. Also, ich meine, noch stärker zerfetzt.«

      »Verblüffend, Ihr habt recht, Herr Tassilo!« Bürgermeister Hundertpfundt beugte sich neugierig über den offenen Torso. Fliegen umtanzten ihn. »Und hier, ich bin kein Medicus, aber das sieht aus wie eine Niere. Sollte da nicht noch eine sein?

      »Da ist noch eine«, sagte eine dunkle Stimme. Tassilo zuckte zusammen. Ein großer Mann,

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