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schon, wie oft man sich im Laufe eines Tages umziehen musste.

      »Wenn der Herr kommt, lacht die Sonne!«, rief Stoffel fröhlich.

      »So gehört es sich auch«, antwortete Tassilo ebenso fröhlich. Er mochte den jungen Burschen, seit der vor siebzehn Jahren als ein kaum einige Tage altes Findelkind nachts vor die Tür der Stubenrußens gelegt worden war. Man hatte sich des Kindes mildtätig angenommen und im Haus aufgezogen. So wuchs der Bub gleichsam natürlich in seine Rolle als persönlicher Diener für Tassilo hinein. Für Tassilo war Stoffel fast wie ein jüngerer Bruder oder kleiner Neffe, aber nur fast, denn das Schicksal hatte ihnen völlig unterschiedliche Plätze in diesem Spiel namens Leben zugewiesen.

      Es gab dann doch immer wieder diesen Moment, in dem Tassilo den Landsitz auf dem Hochufer der Isar liebte. Wenn er wie jetzt auf seinem Pferd saß, über das weite Flusstal blickte und dort unten seine Stadt liegen sah. Von Westen schob lichtes Blau die Regenwolken hinweg. Münchens Kirchtürme und einige Hausdächer glitzerten im Sonnenlicht. Wie gewöhnlich ritt er nicht sofort über den gewundenen Weg den Hang hinunter ins Tal, sondern so lange als möglich oben an der Hangkante Richtung Norden, um den Blick zu genießen. Unten am Flussufer lag das Fischerdorf namens Au. Ein Ort, der in den letzten Jahren erheblichen Zuzug erlebt hatte, weil viele Menschen in der nahen Stadt Arbeit fanden, sich aber das teure Bürgerrecht nicht leisten konnten. Also wucherten die erbärmlichen Siedlungen der einfachen Lohnarbeiter an den Rändern der Dörfer rings um München. Auch damit müsste sich bald der Stadtrat beschäftigen, wusste Tassilo, mit diesen geschwürartig wachsenden Elendsquartieren.

      Die Isar führte schlieriges Hochwasser und mäanderte in vielen Seitenarmen durch das breite Tal. Flöße ritten gekonnt auf dem wilden Wasser zielstrebig auf die große Lände links und rechts der Brücke zu. Kräftige Knechte und bullige Zugpferde warteten auf das Anlanden und Entladen der Flöße. Eben kollidierten zwei Flöße beim Versuch, an Land zu kommen. Schon herrschte Gebrüll, die Schlägerei würde nicht lange auf sich warten lassen. Ein weiteres ewiges Thema im Rat: Die Flößerei an sich und im Speziellen die Halunken und Huren, die die beiden stetig wachsenden Häfen Münchens magisch anzogen.

      Schließlich gabelte sich der Weg kurz vor der Leprosenanstalt auf dem Gasteigberg. Vor dem Anstaltstor konnte man zwei Aussätzige hocken sehen, die hohen spitzen Hüte und die weiten schwarzen Mäntel, die sie tragen mussten, machten sie weithin sichtbar. Sie bettelten vorbeikommende Fuhrwerke an. Tassilo und sein Diener ritten links die engen Serpentinen des steilen Hügels hinunter zur Brücke am östlichen Isarufer. Ein paar halbwüchsige Burschen lungerten herum. Bäuerinnen warteten darauf, über die Brücke in die Stadt gelassen zu werden. Die drei Torwachen beschäftigten sich, den Weg blockierend, mit zwei Salzfuhrwerken, deren Lenkern und bewaffnetem Begleitschutz. Man diskutierte laut, die Fuhrleute schienen mehr als unglücklich und verängstigt, regelrecht in Panik.

      »He«, rief Stoffel laut. »Macht Platz für den Herrn!« Die Bäuerinnen stoben auseinander.

      »He, Burschen«, rief Stubenruß, nachdem sich die Wachen nicht bequemten, den Weg frei zu machen. »Was erlaubt ihr euch? Lasst uns gefälligst passieren. Und ihr Wachen lasst die Fuhrleute in Ruhe.«

      »Verzeiht, Herr«, antwortete einer der Wachen, ein Rothaariger mit nur noch zwei Zähnen im schiefen Maul. »Wir lassen die Fuhrleute doch in Ruhe …«

      »Das sieht mir nicht danach aus. Sind sie bleich und zittrig, oder nicht? Sie sehen verängstigt aus. Warum sollten sie das sein, wenn ihr Halunken sie nicht bedroht habt? Ich werde euch …«

      »Nein, Herr, so hört doch.« Der Rothaarige katzbuckelte.

      »Für wen fahrt ihr?«, fragte Tassilo die Kutscher und überhörte die Wache einfach.

      »Für den Fenggen, Herr«, antwortete der Fuhrknecht, der nicht ganz so verschreckt dreinblickte.

      »Den Nepomuk oder den Bartel?« Immerhin gab es zwei Fenggens, um die in München niemand herumkam. Nepomuk und Bartholomäus Fenggen. Brüder, dennoch oder gerade deshalb aufs Bitterste verfeindet. Die zanken sich wie die Fenggens, war in München bereits ein geflügeltes Wort geworden.

      »Den Fenggenmuck.«

      »Nun, Bursche«, Tassilo drehte sich wieder zum rothaarigen Wachmann. »Das könnte böse für dich enden, wenn du die Wagen des ehrenwerten Stadtrats Fenggen …«

      »So hört doch, Herr«, keuchte die Wache. »Die Fuhrleute sind nicht wegen uns so in Aufruhr. Sie haben berichtet, dass sie heute früh …«, er schluckte, »den Bilwis haben tanzen sehen!«

      »Den Bilwis?«, echote Tassilo. Erst die Gurkenhemma, nun die Fuhrleute. Sollte also doch etwas dran sein, dass der Getreidedämon die Felder heimsuchte? Die Halbwüchsigen und die wartenden Bäuerinnen drängten neugierig näher heran. »Ich habs dir doch gesagt«, raunte eine der anderen zu.

      »Oh nein, nicht der Bilwis«, meldete sich einer der Fuhrmänner mit kratziger Stimme zu Wort. Er bibberte wie ein Häschen vor dem Fuchs und war kreidebleich. »Das war mehr! Das war …«, er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und brüllte dann wie von Sinnen: »… der Gottstehunsbei selbst!« Er bekreuzigte sich dreifach. Zwei der Bäuerinnen gaben spitze Kiekser von sich. Alle wichen einen Schritt zurück. Alle zogen scharf die Luft ein oder hielten selbige an und bekreuzigten sich, denn wenn man den Namen des Teufels zu oft aussprach und nicht sofort ein klares Bekenntnis zu Christus nachschob, konnte der Leibhaftige sich herbeigerufen fühlen. Alle machten es so, außer Tassilo. Es gehörte ein wenig mehr dazu, einen Stubenruß aus der Ruhe zu bringen.

      »Der Leibhaftige?« Wieder schrie eine der Frauen laut auf und murmelte Stoßgebete. Eine begann sich im Kreis zu drehen und zu einem Rhythmus, den nur sie hören konnte, mit den Füßen zu stampfen.

      Tassilo musste lachen. »Sag, wie heißt du?«

      »Dietz, Herr.« Der Fuhrmann ballte ängstlich die Fäuste vor seinem Mund und biss auf die Fingerknöchel.

      »Der Leibhaftige selbst soll dir begegnet sein, Dietz? Und du lebst noch? Ihr alle lebt noch? Wem wollt ihr diese Ammenmärchen weismachen? Der Herrgott ist gnädig, aber nicht der Leibhaftige. Der hätte euch verschlungen, so wie ihr da steht. Wo soll das denn gewesen sein?«

      »Wir kommen aus Rosenheim, Herr. Mit Salz aus dem tirolischen Hall. Wir sind heute beim ersten Morgengrauen in Taufkirchen aufgebrochen, weil wir vor dem Mittagsläuten in München sein müssen. Und kaum waren wir aus dem Ort raus, also vielleicht auf halbem Weg nach Unterhaching, da sah ich ihn! Den Gottstehunsbei mitten auf einem Feld. Riesig war er. Getanzt hat er und Feuer gespuckt. Gegraust hats mir! Jessasmariaundjosef. Ich hab sofort zum heiligen Achatius von Armenien gebetet, dass er mir in meiner Todesangst hilft …«

      »Und du?« Tassilo wandte sich an den anderen Fuhrmann.

      »Ich weiß nicht«, antwortete der langsam und zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Ich habe nicht wirklich was gesehen. Der Dietz hat so rumgeschrien und dann gebetet. Weiß nicht. Es war noch so dunkel, und es gab Sprühregen und Nebel. Wenn, dann war es höchstens der Bilwis, aber nicht der Leibhaftige. Würde ich meinen. Ich kenne mich da aber nicht so aus.«

      »Würdest du meinen. So o. Obwohl du ja gar nichts gesehen hast.«

      »Wahrscheinlich hat mein Gebet zum heiligen Achatius den Gottstehunsbei so schnell vertrieben, dass der Franz«, der Dietz deutete auf seinen Kollegen, »ihn gar nicht mehr sehen konnte.«

      »Vielleicht.« Tassilo wandte sich an die Bewaffneten, grobschlächtige Kerle, die nicht nur auf den ersten Blick nicht sehr hell wirkten. »Und ihr? Habt ihr den Gottstehunsbei gesehen? Oder den Bilwis?«

      Der eine deutete auf seinen Mund und öffnete ihn kurz. Er hatte keine Zunge. »Oha, herausgeschnitten«, kommentierte eine der Bäuerinnen überflüssigerweise.

      »Na ja«, sagte der andere Bewaffnete gedehnt. »Da war schon was, Herr. So ein großes Ding mit Hörnern oder eher mit einem Geweih.«

      »Genau!«, rief der Dietz. »Mit Geweih. Mir schauderts jetzt noch!«

      »Ein Hirsch wird es gewesen sein!«,

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