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Herr Dassl.« Sie nannte ihn gerne immer noch Dassl. Als kleiner Bub hatte Tassilo seinen Namen nicht richtig aussprechen können und stets Dassl gesagt. Genauso sagte sie weiterhin »junger Herr«, obwohl Tassilos Vater seit rund zehn Jahren tot war. »Es war der heilige Onesimus. Und ja, es sieht wohl nach einem Bohnenwinter aus!«

      »Ist auch sehr schwer vorherzusagen, wenn die Ernte im Regen verfault.«

      »Junger Herr Dassl«, die Gurkenhemma wurde streng. »Die Ernte geht kaputt, weil der Bilwis sein Unwesen treibt!« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, knallte ein Vogel außen gegen das Fenster und taumelte benommen im Sinkflug davon.

      »Ah, mein Herz!«, kreischte die Gurkenhemma. »Da selbst die Vögel …«

      »Der Bilwis«, unterbrach Tassilo betont laut seufzend, damit nicht auch noch ein unglückliches Vöglein als böses Omen herhalten musste. Bilwis! Jetzt kam die Alte mit diesem absurden Aberglauben vom Getreidedämon Bilwis an, der die Felder verwüstet. »Gerade waren es noch die Ziganischen.«

      »Ja, der Bilwis. Den hat das ägyptische Volk wiedererweckt. Die Mauerbichlerin hat ihn gesehen! An Peter und Paul. Da ist der Bilwis mit seiner Sichel über die Felder getanzt und hat alles platt getreten.«

      »Die Mauerbichlerin wird ihren vermaledeiten Mann herumtanzen gesehen haben. Der ist ein Säufer vor dem Herrn und hat sein eigenes Feld verwüstet. Der Bilwis! Jetzt ist gut, Hemma.«

      »Das ist das große Problem mit den jungen Leuten von heute! Da schickt man sie zur Schule, und was kommt dabei raus? Alles wollen sie besser wissen. Es fehlt ihnen der Glaube …«

      »Jetzt ist gut, Hemma!«, wiederholte Tassilo scharf. »Geh und sag Christoffel Bescheid, dass wir in einer halben Stunde aufbrechen. Und wartet nicht auf meine Rückkehr heute. Es wird sicher spät, und ich übernachte in der Stadt beim Mathes.«

      »Beim Fenggenmathes?«

      »Kenne ich noch einen anderen Mathes?«

      »Was weiß denn ich, junger Herr. Aber ich finde, der Fenggenmathes ist kein Umgang für Euch. Reichtum allein macht noch keinen Herrn. Und er ist … seltsam. Ach, die Stadt!« Die Gurkenhemma seufzte und kreuzte die Arme vor der Brust. »Seht Ihr auf der Baustelle nach, wie weit sie sind? Ach, was schwätze ich dummes Weib, natürlich seht Ihr nach. Ich möchte endlich wieder in die Stadt zurück. Dieses Landleben hier … das ist doch kein Leben! Wer möchte schon freiwillig auf dem Land leben? Also ich gewiss nicht.«

      »Du vermisst doch nur den Tratsch deiner Freundinnen«, triezte Tassilo seine Amme, um sich von seinen Gedanken abzulenken, denn auch er hasste dieses Landleben. Gut, in heißen Sommern war es sehr angenehm, dem Stadthaus sowie den engen, überhitzten, bestialisch stinkenden Stadtgassen zu entfliehen und sich im Sommersitz der Familie, der Burg Untergiesing hoch oben über dem Tal der Isar, den frischen Wind durch die Haare wehen zu lassen. Für ein paar sonnige Wochen war das famos. Ein wenig an Blumen schnuppern und bunte Insekten beobachten – ein amüsanter Zeitvertreib, dessen man jedoch bald überdrüssig werden konnte. Und nur möglich, wenn die Sonne schien.

      Doch wenn es dauernd regnete? Und abgesehen davon, welcher ernsthafte Dichter konnte sich schon auf dem Land inspirieren lassen? Und wovon? Von Bauern und Misthaufen? Von Säuen und Hühnern? Von Schwachsinnigen und Aussätzigen? Kein Wunder, dass die Gurkenhemma mit ihren Vergissmeinnicht ankam. Das Land verblendete die Sinne. Gut, er musste zugeben, dass er vor zwei Jahren an einem herrlichen Sommertag auf einer Wiese am Waldrand kämpfende Hirschkäfer beobachtet hatte und davon inspiriert eine vielfach bewunderte Ode an den Hirschkäfer geschrieben hatte.

      Tassilo Stubenruß sehnte sich nach dem Leben in der Stadt zurück, da roch es zwar meist erheblich schlechter, aber da gab es pulsierendes Leben, Kunst, Kultur, die Meistersinger, Weinstuben und natürlich Frauen. Tassilo sah sich so sehr als Stadtmensch, dass er gelegentlich mit dem Gedanken spielte, in eine richtig große Stadt zu ziehen. Nach Augsburg zum Beispiel. Das war beinahe doppelt so groß wie München, und jedes Mal, wenn er dort zu Besuch weilte, erfasste ihn dieser Rausch der echten Urbanität. Und wenn der weit gereiste Honlin Eßwurm von seinen Besuchen in die Metropolen dieser Welt berichtete – als einer der führenden Tuchhändler Münchens kam er nach Gent, Antwerpen und sogar Paris –, dann hing Tassilo fasziniert an seinen Lippen. Paris! Ein wenig zu träumen, erlaubte er sich. Doch von Paris aus wäre der Weg zu seinen Ländereien viel zu weit.

      Bei jedem Besuch unten in München drängte er die Arbeiter, sich mit seinem Neubau in der Prandasgasse zu beeilen, damit sie noch vor dem Winter fertig wurden. Aber ganz München glich einer einzigen Großbaustelle. Die neue Stadtmauer mit ihren Wehranlagen und Türmen war noch nicht überall fertiggestellt, und der große Stadtbrand im Vorjahr hatte für viele weitere Baustellen gesorgt. Das Feuer hatte das Stubenrußsche Anwesen vernichtet, doch sie waren bei Weitem nicht die einzigen Abgebrannten. Der verheerende Brand hatte ausgerechnet das Kreuzviertel zerfressen, in dem vor allem die Wohlhabenden residierten. Nun hockten die reichen Münchner Familien in umliegenden Dörfern auf ihren Landsitzen und versuchten verbiestert, sich gegenseitig auszustechen, wer als Schnellster wieder sein Stadtpalais beziehen konnte. Die Preise und Löhne stiegen und stiegen. Gute Baumeister ließen sich ihre Dienste vergolden. Wer es sich leisten konnte, holte Baumeister aus dem Ausland, aus dem Fränkischen, aus Tirol oder Italien. Alles kein Thema für Tassilo Stubenruß, zum einen verdiente er prächtig an der allgemeinen Bautätigkeit, zum anderen war er ohnehin nicht nur wohlhabend, sondern – wie bereits erwähnt – richtig reich. So reich, dass sein neues Stadthaus als eines der ersten fertiggestellt sein würde. So reich, dass es der Abt des Augustinerklosters einmal »obszön« genannt hatte, weshalb besagtes Kloster seitdem ohne Zuwendungen der Stubenruß’ auskommen musste. So reich, dass selbst die Herzöge gelegentlich anklopften, wenn sie schnell ein wenig Geld zur Überbrückung benötigten.

      Der Reichtum war den Stubenruß eher zufällig in den Schoß gefallen. Recht wohlhabend waren sie schon seit einigen Generationen, dank geschickter Landkäufe und -verkäufe im Münchner Umland. Hier ein Bauernhof, da ein kleines Gut mit mäßig ertragreichem Ackerland. Doch dann kam ihnen der Umstand zu Hilfe, dass es rings um München keinerlei Natursteinvorkommen gab. Die komplette Stadt bestand aus Holz- und Fachwerkbauten mit Wänden aus Stroh und gestampfter Erde, selbst die Stadtmauer. Jeder kleine Brand geriet zum Fiasko. Man entdeckte zu Großvater Stubenruß’ Zeiten – womöglich war es zu Urgroßvaters Zeiten, das wusste Tassilo nicht so genau –, dass die Familie auf einer Goldgrube saß. Unter ihren weitläufigen, einst für einen Apfel und ein Ei vom Kloster Scheyern abgekauften Feldern bei dem kleinen Dorf Haidhausen im Münchner Osten fand man hochwertigen Lehm, aus dem sich feinste Ziegel brennen ließen. Zunächst flache Ziegel, um Dächer zu decken, damit der Funkenflug unterbrochen wurde, und schließlich Backsteine, aus denen sich halbwegs feuerresistente Häuser bauen ließen. Die Stubenrußens betrieben selbst zehn Ziegelbrennöfen und pachteten dann dazu noch Ziegelgrund, den die Stadt erworben hatte, um jedem Bürger zu ermöglichen, zum Selbstkostenpreis günstiges Baumaterial zu erstehen. Alles, was sie über den Stadtbedarf hinaus produzierten, konnten die Stubenrußens frei verkaufen. Nun zählten sie zu den wichtigsten und einflussreichsten Familien Münchens. Was einen Sitz im Inneren Rat der Stadt mit sich brachte.

      Und diese Mitgliedschaft im Stadtrat erforderte, dass Tassilo Stubenruß mindestens einmal die Woche nach München zu einer Sitzung musste. So wie heute. Daher die dezente Kleidung. Genau in dem Moment, als er das Haus verließ, hörte der Regen auf. Tassilo nahm den eingefetteten Umhang aus gewalkter Wolle von den Schultern, er war sich sicher, hätte er keinen Umhang umgelegt, hätte es nicht aufgehört zu regnen. Dank seiner hölzernen Trippen beschmutzte er seine Lederschuhe nicht, während er sich mühte, würdevoll durch den rutschigen Matsch im Hof zu schreiten und dabei den sich suhlenden Schweinen auszuweichen.

      »Habt Ihr Euer Christophorus-Amulett dabei?«, rief ihm die Gurkenhemma nach.

      »Aber ich reite nur nach München, Hemma!«

      »Auch auf einem kurzen Weg lauern Gefahren, junger Herr. Ich zünde zur Sicherheit noch eine geweihte Kerze an, damit …« Was sie beim Zurückgehen ins Haus noch brummelte, hörte Tassilo nicht mehr. Vor dem Hoftor wartete sein Diener Christoffel mit dem gesattelten Pferd. Christoffel, von allen nur Stoffel genannt, saß bereits

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