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Das waren die harmlosen Strafen. Wenn er besonders auffällig war, kam er für einen halben Tag in den Karzer. Nach dem dritten Mal Karzer wurde die Strafe verschärft und er wurde für einen ganzen Tag nackt in den Dunkelkarzer gesperrt – ein ein Quadratmeter großes eiskaltes Kellerverlies, in dem man nur stehen und sich nicht einmal anlehnen konnte, weil die Wände so kalt waren. Natürlich gaben irgendwann die Beine nach und wenn die Strafzeit abgelaufen war, musste jeweils ein Klassenkamerad die blaugefrorenen Elendshaufen, die sich mit ihren Exkrementen besudelt hatten, heiß abduschen und mit einer Wurzelbürste schrubben. Selbstverständlich war diese Form der Bestrafung auch damals bereits verboten, doch welche Eltern glaubte schon einem nervenden Querulanten und frechen Zappelphilipp, wenn doch das Wort der heiligen Brüder dagegen stand oder ewiges Seelenheil als Lohn für die Qualen winkte. Herbert änderte immerhin sein Verhalten so, dass er nicht mehr in den Dunkelkarzer musste. Doch oft genug musste er die Hände mit den Innenflächen nach außen ausstrecken und die Schläge mit dem Rohrstock erdulden. Oder sich den Mund dreimal hintereinander mit Seifenlauge auswaschen lassen, weil er im Unterricht unumstößliche kirchliche Doktrinen wie zum Beispiel die Jungfräulichkeit Mariens angezweifelt hatte. Die Zeit, die der Knabe alleine oder mit anderen »straffällig« gewordenen Schülern auf Knien in der Kirche Rosenkranz beten musste, ließ sich beim besten Willen nicht zählen.

      »Wissen Sie, was Spießrutenlaufen ist?«, fragte Koziol den Kriminalrat. »Der Begriff kommt ursprünglich aus der Armeesprache. Bei uns gab es auch so etwas.« Im Schlafsaal standen zwanzig Betten, zehn an der dem Fenster zugewandten Seite, zehn an der fensterlosen Wand gegenüber. Der Durchgang zwischen den Bettreihen war gerade so breit, dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Zum Spießrutenlaufen mussten sich die Knaben in Reih und Glied vor ihren Betten aufstellen, jeder bekam eine Weidenrute in die Hand. Zehn Jungs auf der einen Seite, neun gegenüber. Der Delinquent musste sich ausziehen und nackt zwischen den Klassenkameraden, die mit ihren Ruten zuschlugen, hindurchlaufen. In die Versuchung, den Delinquenten zu schonen, indem man schwach zuschlug, wurde den Knaben schnell ausgetrieben, denn wenn der aufsichthabende Mönch fand, einer schlug zu lax oder nicht oft genug, musste derjenige selbst anschließend spießrutenlaufen.

      »Herbert hat es zweimal erwischt. Er lag anschließend jedes Mal ein paar Tage auf der Krankenstation. Natürlich hat er es irgendwann aufgegeben, sich bei seinen Eltern zu beschweren. Das brachte nichts. Denn all diese Erziehungsmaßnahmen hatten ja nur den einen Sinn: aus ihm einen gottgefälligen Menschen machen.« Koziol nuckelte an seiner Zigarre. »Doch diesem Gott, der ihn so strafte, wollte Herbert nicht gefallen. Wozu auch. Einen Gott, der Hass und brutale Gewalt braucht, der deinen Geist brechen will, damit du ihm gefällst, wollte Herbert nicht. Ich tat mich da sehr viel schwerer. Ich versuchte gottgefällig zu sein. In deren Sinn gottgefällig. Eingeschüchtert und dumm gehalten. Bedroht von einem absurden Vater-Gott, der sich der Lehre nach völlig unlogisch und gemeingefährlich verhielt. Der dich heute lieben und morgen foltern konnte. Der einerseits einzig und gleichzeitig dreieinig war. Der zwar allmächtig war, aber gleichzeitig so schwach, dass er einen Teufel zulassen musste. Der alles wusste, und dem man dann dennoch beichten sollte. Der alles sah, aber nur, wenn wir etwas taten. Das was die Lehrer machten, sah er offenbar nicht. Mehr als einmal bin ich schier an meinen Zweifeln zerbrochen, ich stand schon mit dem Strick in der Hand da und Herbert hat mich gerettet. Dafür bin ich ihm bis zum heutigen Tag dankbar. Herbert war nicht dumm. Er hat sich letztlich angepasst, so weit es ihm möglich war. Wie bei vielen Hyperaktiven legte sich bei ihm das Zappelphilipp-Syndrom, als er in die Pubertät kam. Er wurde ruhig. Seine schulischen Leitungen waren passabel. Besser als meine. Ich folgte seinem Beispiel und verhielt mich wie gewünscht. Nicht, dass ich je so auffällig gewesen wäre wie er oder auch nur annähernd so oft bestraft worden wäre. Ich habe sogar nach dem Abitur einige Semester Theologie studiert, weil der Druck meiner Familie so groß war. Herbert hingegen ist gleich in die Medienbranche gewechselt. Hat als Aufnahmeleiter beim Bayerischen Fernsehen gearbeitet, dann als Produktionsleiter und Redakteur beim ZDF-Studio in Unterföhring. Und vor zwanzig Jahren, als das Privatfernsehen Deutschland eroberte, hat seine Stunde geschlagen. Er hat sich mit einer Produktionsfirma selbstständig gemacht und mich als Partner in sein Boot geholt.«

      »Und er hat sich vermutlich einen Spaß daraus gemacht, die Kirche mit gar nicht gottgefälligen Formaten zu triezen, wo es nur ging«, sagte Max Pfeffer.

      »Darauf, werter Herr Kriminalrat, und verzeihen Sie nun meine rüde Ausdrucksform, darauf können Sie ruhig einen lassen!«

      »Sie sind sicher damit einverstanden, dass ich mich beherrsche.« Pfeffer lachte und der Dicke schwabbelte beim Kichern.

      »Wenn Sie mir nicht glauben sollten, oder mehr über Schladern und unsere Schulzeit erfahren wollen, dann wenden Sie sich an den derzeitigen Abt von Schladern, Ludwig Kästner. Ludwig war nämlich ein Klassenkamerad von uns.«

      »Danke für den Tipp, aber ich denke, dass mir Ihre Schilderung reicht. Wir haben uns übrigens mit den Drohbriefen beschäftigt«, fuhr Pfeffer fort und zog die schriftliche Zusammenfassung hervor, die ihm Annabella Scholz gemacht hatte. Dabei fiel ein gelber Notizzettel aus seiner Tasche. Pfeffer bückte sich verwundert und hob den Zettel auf. »StW wg. Beförd.« stand darauf. Das hatte er fast völlig vergessen! Er musste in den nächsten Tagen mit seiner Chefin, der Leitenden Direktorin Jutta Staubwasser, über die möglichen Beförderungen seiner Leute sprechen. Die Direktorin hatte schon zweimal nachgehakt, weil sie Planstellen zu besetzen hatte, und Pfeffer hatte sie jedes Mal vertröstet. Spätestens kommende Woche sollte er sich mit ihr zusammensetzen und alles besprechen. Eigentlich standen momentan nur einige kleine Routinebeförderungen von Kollegen an, die einfach alters- oder dienstzeitbegründet waren. Einzig mit Freudensprung verhielt es sich anders. Pfeffer würde ihn gerne zum Ersten Leitenden Hauptkommissar machen mit Aussicht auf mehr, weil er sich einen guten Stellvertreter heranziehen wollte. Er müsste seiner Chefin nur noch eine entsprechende Planstelle abschwatzen und vor allem endlich mal mit Freudensprung darüber reden.

      Pfeffer steckte den gelben Zettel in seine Jackettasche und widmete sich wieder der Zusammenfassung über die Drohbriefe. Meist ließen sich die Schreiber gar nicht über Formate aus, die Veicht-Productions produzierte. Die Schreiber verwechselten munter die unterschiedlichen Serien, in denen Frauen, Kinder oder Männer für eine Woche getauscht wurden; sie brachten die Formate durcheinander, in denen völlig unbekannte Menschen, die dennoch als prominent bezeichnet wurden, tagelang zum Überlebenskampf in Dschungelcamps oder auf Almen oder Burgen eingesperrt waren, und sie ließen sich über jede Art von Heimwerker-Dokusoap aus.

      Koziol zuckte mit den Schultern. »Sicher, für die Zuschauer sieht eins wie das andere aus. Und wenn wir ehrlich sind, ist eins wie das andere.«

      »Es war keiner dabei, der explizit damit drohte, Ihnen oder Ihrem Kompagnon den Kopf abzuschlagen.«

      »Nein, das gab es nie. Wenn man uns allerdings auch alles mögliche andere abschneiden wollte.«

      »Uns ist bei der Korrespondenz mit kirchlichen Stellen aufgefallen, dass sie vor zwei Jahren plötzlich abgebrochen ist. Zumindest der Dialog mit der katholischen Kirche.«

      »Gut beobachtet, Herr Kriminalrat. Der Dialog mit der evangelischen Kirche läuft seit jeher stärker auf Gesprächsebene. Da gab es auch nie so starke Reibereien. Bei den Katholen sah es anders aus. Wir hatten ständig mit Beschwerden zu tun, gelegentlich echauffierte sich sogar der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz persönlich. Meist blieb es aber bei kleingeistigem Gezänk mit dem Erzbistum von München und Freising. Ab und an gab es einen sehr scharf formulierten, aber natürlich rechtlich einwandfreien Brief vom Erzbistum. Mehr nicht. Vor zwei Jahren dann hatten wir einen überraschenden Quotenhit mit Speed Sperm. Es lief nur eine Folge und die war der Aufreger schlechthin.«

      Pfeffer erinnerte sich dunkel. In der Sendung ging es um die Zeugungsfähigkeit verschiedener Männer. Wer die schnellsten Spermien absonderte, konnte einen hohen Geldpreis gewinnen.

      »Damals ist über uns eine Woge der Empörung zusammengeschlagen. Was haben die sich nicht alle aufgeregt! Dabei war das eigentlich nur ein Gag von uns. Ein totaler Fake und alle sind drauf eingestiegen. Und seit damals hat sich auch der Vatikan bei uns gemeldet, in Form von Kardinal Ansgar Radlkofer. Ein Hardliner der unangenehmsten Sorte, mit dem ich nichts zu tun haben möchte. Herbert hat sich von

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