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      Meines Erachtens gibt es eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Todes für das Kind und der Aufmerksamkeit, die dem Tod in der Kindesentwicklung durch Wissenschaftler gegeben wird. Die relevante Literatur ist dünn, und wenn man sie mit der umfangreichen Literatur über andere Fragen der Kindesentwicklung vergleicht, scheint sie bestenfalls oberflächlich zu sein. Empirische Studien über den Todesbegriff beim Kind sind besonders selten; psychoanalytisch orientierte Kliniker haben gelegentlich versucht, die Frage zu untersuchen, aber, wie wir sehen werden, mit einer Voreingenommenheit, die die Genauigkeit der Beobachtung oft untergräbt. Darüber hinaus ist viel einschlägiges Material in alten Veröffentlichungen zu finden und oft außerhalb der Hauptströmung der Literatur über die Kindesentwicklung oder die Kinderpsychiatrie. Vieles verdanken wir Sylvia Anthony, die die Forschung und die beschreibende Literatur in ihrer Monografie The Discovery of Death in Childhood and After1 so kundig durcharbeitete und analysierte.

      Sowohl meine klinische Arbeit als auch die Durchsicht der Arbeiten von anderen lässt mich zu verschiedenen Schlussfolgerungen kommen:

      1. Wenn Verhaltensforscher sich entschlossen, die Frage gründlich zu untersuchen, entdeckten sie übereinstimmend, dass Kinder außerordentlich stark mit dem Tod beschäft igt sind. Sorgen der Kinder über den Tod sind durchgängig vorhanden und üben weitreichenden Einfl uss auf ihre Erfahrungswelt aus. Der Tod ist für sie ein großes Rätsel, und eine ihrer größten Entwicklungsaufgaben besteht darin, mit der Furcht vor Hilfl osigkeit und Vernichtung umzugehen, während sexuelle Angelegenheiten sekundär und davon abgeleitet sind.2

      2. Kinder sind nicht nur gründlich mit dem Tod beschäftigt, sondern diese Beschäftigung beginnt in einem früheren Alter als gemeinhin angenommen.

      3. Kinder durchlaufen regelmäßige Entwicklungsstufen in ihrer Bewusstheit des Todes und in den Methoden, die sie verwenden, um mit ihrer Todesfurcht umzugehen.

      4. Die kindlichen Bewältigungsstrategien beruhen unweigerlich auf Verleugnung: Es scheint, dass wir nicht in Toleranz gegenüber den nackten Tatsachen von Leben und Tod aufwachsen, vielleicht nicht aufwachsen können.

      Freud glaubte, dass die heimlichen sexuellen Erkundungen, die Beschäftigung mit der Frage ›Woher?‹ ein vorherrschendes Interesse von Kindern sei, und begründete damit die Generationenkluft, die zwischen Kind und Erwachsenen besteht. Es gibt jedoch genügend Beweise, dass die Frage ›Wohin?‹ unseren Geist auch als Kind intensiv beschäftigt und uns ständig während unseres gesamten Lebens in den Ohren summt: Man kann sich ihr stellen, kann sie fürchten, ignorieren, unterdrücken, aber man kann nicht frei von ihr sein.

      Nur wenige Eltern oder Beobachter junger Kinder waren nicht erstaunt über das Auftauchen plötzlicher, unerwarteter Fragen eines Kindes über den Tod. Als mein fünfjähriger Sohn und ich einmal still am Strand entlang spazierten, wandte er plötzlich sein Gesicht zu mir hoch und sagte: »Weißt du, meine beiden Großväter starben, bevor ich sie je gesehen habe.« Es erschien mir wie eine Bemerkung, die die Spitze eines Eisbergs andeutete. Ich war sicher, dass er lange im Stillen über die Frage nachgesonnen hatte. Ich fragte ihn, so sanft ich konnte, wie oft er über solche Dinge wie den Tod nachdachte, und ich war verblüfft, als er in einer seltsam erwachsenen Stimme antwortete: »Ich denke ständig darüber nach.«

      Ein anderes Mal bemerkte er unschuldig, aus Anlass der Abreise seines Bruders ins College: »Jetzt sind nur noch drei von uns zu Hause, du und ich und Mami. Ich bin gespannt, wer zuerst sterben wird.«

      Ein viereinhalbjähriges Kind sagte plötzlich zu seinem Vater, »Ich fürchte mich jeden Tag vor dem Sterben; ich wünschte, ich würde niemals alt werden, denn dann würde ich niemals sterben.«3 Ein dreieinhalbjähriges Mädchen bat darum, dass man einen Stein auf seinen Kopf lege, so dass es aufhören würde zu wachsen und nicht alt werden und sterben müsste.4 Ein kleines vierjähriges Mädchen weinte vierundzwanzig Stunden lang, als es erfuhr, dass alle lebendigen Dinge sterben. Seine Mutter war nicht anders in der Lage, es zu beruhigen, als dass sie ihm versprach, dass es niemals sterben würde.5 Ein paar Tage nach dem Tod seiner Großmutter väterlicherseits kam ein vierjähriges Kind in die Küche der Wohnung seiner Familie und sah auf dem Tisch eine tote Gans, deren blutiger Kopf bewegungslos vom langen Hals herunterhing. Das Kind, das vom Tod seiner Großmutter gehört hatte, aber keine besondere Reaktion gezeigt hatte, schaute nun kurze Zeit ängstlich auf die Gans und sagte zu seiner Mutter: »Ist das, was du tot nennst?«6

      Erik Erikson berichtet von dem Fall eines vierjährigen Kindes, dessen Großmutter starb, und das in der Nacht, nachdem es ihren Sarg gesehen hatte, einen epileptiformen Anfall hatte. Einen Monat später fand es einen toten Maulwurf, fragte nach dem Tod und hatte wieder Krämpfe. Zwei Monate später hatte es eine dritte Serie von Krämpfen, nachdem es versehentlich einen Schmetterling in seiner Hand zerdrückt hatte.7

      Die unschuldige Art der Kinderfragen kann uns den Atem verschlagen. Das junge Kind fragt direkt: »Wann wirst du sterben?« »Wie alt bist du?« »Wie alt sind Menschen, wenn sie sterben?« Das Kind behauptet, »Ich will so lange leben, bis ich tausend Jahre alt bin. Ich will so lange leben, bis ich der älteste Mensch auf der Erde bin.« Dies sind Gedanken in einem Alter der Unschuld, und sie können durch einen Tod ausgelöst sein – den Tod eines Großelternteils, eines Tieres, vielleicht sogar einer Blume oder eines Blattes; aber oft tauchen sie unvermittelt, ohne irgendeinen äußeren Anreiz, auf: Das Kind reagiert nur die inneren Sorgen, über die es lange meditiert hat, ab. Später, wenn das Kind lernt, »des Kaisers neue Kleider« zu sehen, wird es auch dazu übergehen zu glauben, dass der Tod eine Angelegenheit ohne große Bedeutung ist.

      Anthony hat uns einen objektiven Maßstab für die Todesbesorgnis von Kindern geliefert, indem sie bei neunundachtzig Kindern im Alter von fünf bis zehn Jahren einen Geschichten-Vervollständigungs-Test durchführte.8 Die Geschichten hatten ein offenes Ende und nahmen nicht ausdrücklich Bezug auf den Tod. (Beispiel: »Als der Junge abends ins Bett ging, worüber dachte er nach?« oder »Ein Junge ging zur Schule; in der großen Pause spielte er nicht mit den anderen, sondern blieb ganz allein in einer Ecke. Warum?«) Bei der Vervollständigung der Geschichten bekundeten die Kinder ein beachtliches Maß an Auseinandersetzung mit dem Tod oder der Vernichtung. Ungefähr 50 Prozent der Kinder bezogen sich in ihrer Vervollständigung der Geschichte auf den Tod, auf Beerdigungen, Tötungen oder Geister. Wenn etwas indirekte Antworten auch eingeschlossen wurden (»Er wurde überfahren« oder »Sie verlor eines ihrer Kinder«), stieg der Anteil auf über 60 Prozent. Zum Beispiel gaben die Kinder auf die Frage, »Als der Junge abends ins Bett ging, worüber dachte er nach?«, Antworten wie »Jemand kam in sein Zimmer und tötete ihn« oder »Schneewittchen, ich habe sie nicht gesehen, aber ich habe sie tot in einem Bilderbuch gesehen« oder »Jemand kam in sein Haus, sein Vater starb, und dann starb er auch.« Eine Geschichte erzählte von einer magischen Fee, die das Kind fragte, ob es erwachsen sein wollte oder ein Leben lang jung bleiben wollte, vielleicht für immer. Im Gegensatz zu dem verbreiteten Glauben, dass das Kind begierig ist, zu wachsen und stark und einflussreich zu werden, drückten 35 Prozent der Kinder in ihren Vervollständigungs-Geschichten eine Vorliebe dafür aus, jung zu bleiben, da sie Altwerden mit dem Tod in Verbindung brachten.

      Auf der Grundlage umfassender Belege für die Beschäftigung von Kindern mit dem Tod werde ich nun die Ontogenese des Todesbegriffs betrachten. Viele Forscher haben bemerkt, dass die Gedanken und Ängste der Kinder über den Tod und ihre Methoden, mit ihrer Furcht umzugehen, für bestimmte Entwicklungsstufen spezifisch sind.

      Hindernisse bei der Erkundung dessen, was ein Kind über den Tod weiß

      Unserem Wissen über das, was das sehr junge Kind über den Tod weiß, steht viel im Wege; deshalb gibt es in diesem Bereich auch viele Kontroversen.

      Das Fehlen der Sprache und der Fähigkeit für abstrakte Gedanken. Das Fehlen der Sprache bei sehr kleinen Kindern ist ein gewaltiges Hindernis

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