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relevant sind, bewusst, dass diese Dualität unhaltbar war, und er trat für einen anderen Dualismus ein: einen grundlegenden Dualismus, der im Leben selbst begründet ist – zwischen Leben und Tod, Eros und Thanatos. Die Freudsche Metapsychologie und Psychotherapie ist jedoch auf der ersten dualistischen Instinkttheorie gegründet; weder Freud noch seine Studenten (mit der einzigen Ausnahme von Norman O. Brown110) formulierten sein Werk auf der Grundlage der Dualität von Leben und Tod neu; und die meisten seiner Nachfolger verwarfen die zweite Instinkttheorie, weil sie zu einer Position großen therapeutischen Pessimismus’ führte. Entweder sie blieben bei der ersten Erhaltungsdialektik von Libido und Ich, oder sie schweiften zum Jungianischen Instinkt-Monismus ab – einer Position, die die Theorie der Verdrängung unterminiert.

       Der Tod ist noch nicht; es ist ein Ereignis, das sein wird, ein Ereignis, das in der Zukunft liegt. Sich den Tod vorzustellen und sich darüber Sorgen zu machen, erfordert eine komplexe geistige Aktivität – die Planung und Projektion des Selbst in die Zukunft. In Freuds deterministischem Schema sind die unbewussten Kräfte, die aufeinanderprallen und deren Vektor unser Verhalten bestimmt, tief und instinkthaft. Es gibt dort keinen Platz in der psychischen Kraftzelle für komplexe geistige Vorgänge, bei denen man sich die Zukunft vorstellt und sich vor ihr fürchtet. Freud steht der Ansicht Nietzsches nahe, der bewusste Überlegung für vollständig überflüssig hält, um Verhalten hervorzubringen. Verhalten ist, nach Nietzsche, determiniert durch unbewusste mechanische Kräfte: bewusste Überlegung folgt dem Verhalten, statt dass es ihm vorangeht; das Empfinden, dass wir unser Verhalten steuern, ist eine völlige Illusion. Man stellt sich nur vor, man würde sich Verhaltensweisen frei wählen, um den Willen zur Macht zu befriedigen, sein Bedürfnis, sich selbst als autonomes, entscheidungsfähiges Wesen zu begreifen.

      Der Tod kann daher keine Rolle in Freuds formaler dynamischer Theorie spielen. Da er ein zukünftiges Ereignis ist, das man nie erfahren hat und das man sich nicht realistisch vorstellen kann, kann es nicht im Unbewussten existieren und daher das Verhalten auch nicht beeinflussen. Er hat keinen Platz in einer Sichtweise des Verhaltens, das auf den Gegensatz zweier opponierender Urinstinkte reduzierbar ist. Freud wurde ein Gefangener seines eigenen deterministischen Systems und konnte die Rolle, die der Tod im Erzeugen von Angst und in der Sicht des Menschen vom Leben spielt, nur auf zwei Arten diskutieren: Er konnte außerhalb seines formalen Systems arbeiten (in Fußnoten oder in Essays, die »außerhalb des Protokolls« waren, wie »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«111 und »Das Motiv der Kästchenwahl«112), oder er konnte den Tod nur in sein System zwängen, indem er die Todesfurcht entweder unter irgendeine ursprüngliche (Kastrations-) Angst subsumierte, oder indem er den Willen zum Sterben als einen der zwei grundlegenden Triebe betrachtete, die allem Verhalten zugrunde liegen. Den Tod als grundlegenden Trieb auszurufen, löst das Problem nicht: Man versäumt dabei, den Tod als ein zukünftiges Ereignis zu betrachten, und übersieht die Bedeutung des Todes im Leben als Leuchtturm, als Bestimmung, als Endpunkt, der entweder die Macht hat, das Leben all seiner Bedeutung zu berauben oder uns in eine authentische Form des Seins zu locken.

      Freuds Unaufmerksamkeit gegenüber dem Tod: Persönliche Gründe

      Um zu erkunden, weshalb Freud an einem theoretischen System dauerhaft festhielt, das seinen hochfliegenden Intellekt behinderte und ihn zu verzerrten Positionen zwang, muss ich mich einem kurzen Studium von Freud, dem Menschen, zuwenden. Das Werk von Künstlern, Mathematikern, Genetikern oder Romanschriftstellern spricht für sich selbst; es ist ein Luxus – oft ein unterhaltsamer, interessanter Luxus, gelegentlich auch ein intellektuell erhellender –, das persönliche Leben und die Motivationen der Künstler und Wissenschaftler zu studieren. Aber wenn man eine Theorie betrachtet, die behauptet, die tiefsten Schichten menschlichen Verhaltens und menschlicher Motivationen offenzulegen, und wenn die Daten, die diese Theorie unterstützen, zu einem großen Teil aus der Selbstanalyse eines Menschen stammen, dann wird es nicht zu einem Luxus, sondern zu einer Notwendigkeit, den Menschen so tief wie möglich zu erforschen. Glücklicherweise mangelt es nicht an Daten: Über Freud als Person ist wahrscheinlich mehr bekannt als über irgendeine andere moderne historische Persönlichkeit (mit der möglichen Ausnahme von Woody Allen).

      Tatsächlich gibt es so viel biografisches Material über Freud – das von Ernest Jones’ umfangreichem, dreibändigem Das Leben und Werk von Sigmund Freud113 über Laienbiografien114, veröffentlichten Erinnerungen von früheren Patienten115 bis zu Band über Band an veröffentlichter Korrespondenz116 reicht –, dass man jede beliebige Zahl an wilden Hypothesen über seine Charakterstruktur vertreten kann, wenn man sorgfältig auswählt. Deshalb caveat emptor.

      Ich glaube, dass viel dafür spricht, dass im Kern von Freuds verzehrender Entschlossenheit seine unstillbare Leidenschaft steckte, Größe zu erlangen. Jones’ Biografie konzentriert sich auf dieses Thema. Freud wurde in einer unversehrten Fruchtwasserblase geboren – ein Ereignis, das nach dem Volksmund immer Ruhm ankündigt. Seine Familie glaubte, dass ihm Ruhm bestimmt war: Seine Mutter, die niemals daran zweifelte, nannte ihn »mein goldener Sigi, Sigi, mein Gold« und zog ihn allen ihren anderen Kindern vor. Später schrieb er: »Ein Mensch, der der unbestrittene Favorit seiner Mutter war, behält sein Leben lang das Gefühl eines Eroberers, jenes Vertrauen in den Erfolg, das oft wirklichen Erfolg initiiert.«117 Der Glaube wurde durch frühe Prophezeiungen angefacht: Eines Tages informierte ein älterer Fremder Freuds Mutter, dass sie einen großen Mann in die Welt gesetzt habe; ein Bänkelsänger in einem Vergnügungspark wählte Freud aus den anderen Kindern aus und sagte voraus, dass er eines Tages ein Regierungsminister werden würde. Auch Freuds offensichtliche intellektuelle Begabung verstärkte den Glauben; er stand immer an der Spitze seiner Klasse im Gymnasium – tatsächlich belegte er nach Jones solch einen privilegierten Platz, dass er kaum je in Frage gestellt wurde.118

      Es dauerte nicht lange, bis Freud aufhörte, sein Schicksal infrage zu stellen. In seiner Adoleszenz schrieb er an einen Jugendfreund, dass er eine Auszeichnung für einen Aufsatz erhalten hatte, und fuhr fort: »Du wusstest nicht, dass du Briefe mit einem deutschen Stilisten ausgetauscht hast. Du bewahrst sie besser sorgfältig auf – man weiß nie.«119 Die interessanteste Aussage in dieser Hinsicht kann in einem Brief an seine Verlobte gefunden werden, den er schrieb, als er achtundzwanzig Jahre alt war (und er hatte das Gebiet der Psychiatrie noch nicht betreten!):

      Ein Vorhaben habe ich allerdings fast ausgeführt, welches eine Reihe von noch nicht geborenen, aber zum Unglück geborenen Leuten schwer empfinden wird. Da du doch nicht erraten wirst, was für Leute ich meine, so verrate ich dir’s gleich: es sind meine Biographen. Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit 14 Jahren u. Briefe, wissenschaftliche Excerpte u. Manuskripte meiner Arbeiten vernichtet. Von Briefen sind nur die Familienbriefe verschont geblieben. Deine ›Liebchen‹ waren nie in Gefahr. Alle alten Freundschaften und Beziehungen haben sich dabei mir nochmals präsentiert und stumm den Todesstreich empfangen … alle meine Gedanken und Gefühle über die Welt im Allgemeinen und soweit sie mich betraf, im Besonderen sind für unwert erklärt worden, fortzubestehen. Sie müssen jetzt nochmals gedacht werden, und ich hatte viel zusammengeschrieben. Aber das Zeug legt sich um einen herum, wie der Flugsand um die Sphynx, bald wären nur mehr meine Nasenlöcher aus dem vielen Papier herausgeragt; ich kann nicht reifen und nicht sterben ohne die Sorge, wer mir in die alten Papiere kommt. Überdies alles, was hinter dem großen Einschnitt in meinem Leben zu liegen fällt, hinter unserer Liebe und meiner Berufswahl, ist lang todt u. soll ihm ein ehrliches Begräbnis nicht vorenthalten sein. Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ›Entwicklung des Helden‹ Recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden.120

      In seinem Streben nach Größe sucht Freud nach der großen Entdeckung. Seine frühen Briefe beschreiben eine Fülle verwirrender Ideen, die er aufgriff und wieder verwarf. Nach Jones verpasste er Größe knapp dadurch, dass er seine frühe neurohistologische Arbeit nicht bis zu ihrer logischen Schlussfolgerung weiter verfolgte: das Aufstellen einer Neuronentheorie. Er verpasste sie noch einmal in seiner Arbeit mit Kokain. Freud beschrieb dieses Ereignis in einem Brief, der so beginnt: »Ich möchte hier ein wenig zurückgehen und erklären, warum es der Fehler meiner Verlobten war, dass ich nicht bereits in frühem Alter berühmt war.«121

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