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eine vollständige Vitalität ausstrahlt und damit Gott selbst versinnbildlicht: Gott als vir ist Ursprung aller Lebenskraft (vis) und jeglicher Grünkraft (viriditas), aus ihm kommt alles Leben (vita) und er gibt jene Kräfte (virtutes) in Fülle, die den Sieg des Guten vollbringen.23 Hildegard macht also deutlich, dass der Friede letztlich nicht unser Werk ist, sondern eine Frucht, die von Gott her wächst. Diese Frucht des Friedens kann aber nur wachsen und reifen, wenn der Mensch mitwirkt. Auf die Konversation folgt also die dritte Kommunikationsform: die Kooperation.

      Eine Kooperation zwischen Gott und Mensch ist möglich. Das ist eine großartige Botschaft Hildegards. Einerseits ist diese Kooperation möglich aufgrund der rationalitas des Menschen, weil diese ihn „gottfähig“ macht. Andererseits ist diese Kooperation möglich, weil der Mensch durch seinen Leib in der Welt Gottes Schöpfungswerk weiterführen kann.24 In seiner vernunftbegabten und leibhaftigen Existenz entspricht der Mensch der wirkenden Schöpferkraft Gottes, seiner viriditas. So kann der Mensch Gottes Frieden wortwörtlich zur Welt bringen.

      In Hildegards Visionsbild erscheint der Friede mit leuchtendem Gesicht.25 Mit diesem Bild drückt Hildegard die vollendete Form eines kommunizierten Friedens aus: „Im allerhöchsten Gott leuchtet der Mensch auf und Gott im Menschen.“26

      Mit dieser Aussage erfasst Hildegard die Größe des Menschen: Gott leuchtet im Menschen auf. Damit mündet der Wachstumsprozess des Friedens in die vollendete Form der Kommunikation: Das ist die communio, eine wahre Gemeinschaft

      – der Mensch in Gott und Gott im Menschen. Der Frieden, der durch einen langen Lernprozess gewachsen und gereift ist, macht auch das Miteinander der Menschen möglich. Er stiftet eine wahre Gemeinschaft, die stärkt: Im lateinischen Wort communio ist das Wort munire (stärken) enthalten. Auf dieses kommunizierende und kommunizierte Friedensverständnis kommt es an.

      Ausblick: Ein neuer Name für den Frieden

      Wie sich dieser Lernprozess des Friedens konkret vollzieht, können wir an der Geschichte Europas in den letzten Jahrzehnten beobachten. Erinnern wir uns an die anfangs zitierten Worte Hildegards: „Der Mensch gewinnt das höchste Wissen unter der Last der Härte, die von dem kommt, was schädlich ist, und so erkennt er, was Gut und Böse ist.“ Der europäische Integrationsprozess hat angesichts der Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg damit begonnen, dass Politiker bereit waren, aus der Tragödie zu lernen und umzudenken, eine conversatio zu vollziehen.27 Zum gemeinsamen Ziel der Verhinderung eines weiteren Krieges wurden die Europäischen Gemeinschaften (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Europäische Atomgemeinschaft) ins Leben gerufen. Diese auf Realitätssinn basierten Maßnahmen gingen der Gründung der Europäischen Union voraus. Ihnen verdanken wir jene welthistorisch nicht genug hochzuschätzende Tatsache, dass wir heute in Europa die bislang längste Friedensperiode erleben.

      Wir erleben aber nicht nur die andauernste Friedensperiode unserer europäischen Geschichte, sondern auch die ausgedehnteste prosperierende Periode. Dennoch begegnen wir in unserer Gesellschaft einem hohen Maß an Sinnverlust, weltanschaulicher Orientierungslosigkeit, innerer Verwahrlosung.28 So ist das Gebot der Stunde ein Prozess, der die horizontalen Formen der Kommunikation – gesellschaftliche Diskurse und politische Debatten – in eine gelebte Spiritualität als vertikale Form der Kommunikation einbettet. Das erfordert die Verbindung von Realitätssinn und Wahrhaftigkeit mit der Sensibilisierung für spirituelle Werte, um den Frieden zu bewahren und zu fördern.

      Vor 50 Jahren hat Papst Paul VI. formuliert: Der neue Name für Frieden ist die Entwicklung.29 Auch heute hat dieser Entwicklungsgedanke, der soziale, kulturelle, sittliche und religiöse Dimensionen umfasst, nichts an Bedeutung verloren. Umso mehr haben wir die Aufgabe, für die Entwicklung im Europa des 21. Jahrhunderts einen konkreten Akzent zu setzen. Dazu kann das von Hildegard inspirierte und hier dargelegte Friedensverständnis einen Beitrag leisten: Entwicklung wird heute in Europa gelingen, wenn wir sie als spirituellen Wachstumsprozess realisieren.

      1 Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Referats, das am 11. Mai 2018 bei einer Podiumsveranstaltung des 101. Deutschen Katholikentags in Münster gehalten wurde.

      2 J. Vanier, In Gemeinschaft leben. Meine Erfahrungen. Freiburg i. Br. u.a. 1993, 314.

      3 B. Hume, Gott suchen. Einsiedeln 1979, 79.

      4 Zu einer zusammenfassenden Einführung in Hildegards Leben, Denken und Werk siehe M. Zátonyi, Hildegard von Bingen (Zugänge zum Denken des Mittelalters, Bd. 8). Münster 2017.

      5 Siehe Hildegard von Bingen, Prophetisches Vermächtnis – Testamentum propheticum. Übers. u. eingel. v. M. Zátonyi. Beuron 2016, 75.

      6 Vgl. ebd., 82.

      7 Hildegard von Bingen, Wisse die Wege – Liber Scivias. Übers. v. M. Heieck. Beuron 2010, 385.

      8 Siehe dazu G. Lautenschläger, Viriditas. Ein Begriff und seine Bedeutung, in: E. Forster (Hrsg.), Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Freiburg i. Br. u.a. 1997, 224–237.

      9 Zur „kommunizierenden“ Struktur geistlicher Prozesse in den Visionen Hildegards siehe D. Flandera / M. Zátonyi, „Jeder, der Flügel im Glauben hat …“. Betrachtungen über Glaube, Hoffnung und Liebe bei der Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen, in: G. Ratzinger / R. Zörb (Hrsg.), Zum 90. Geburtstag. Festschrift der Gesellschaft zur Förderung christlicher Verantwortung e.V. für den Heiligen Vater em. Benedikt XVI. 16. April 2017. Rohrbach bei Weimar 2017, 43 f.

      10 Vgl. Hildegard von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes – Liber divinorum operum. Übers. v. M. Heieck. Beuron 2012, 316.

      11 Ebd., 318 f.

      12 Vgl. Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 43 [s. Anm. 7].

      13 Hildegard von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes, 319 [s. Anm. 10].

      14 Ebd.

      15 Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 369 [s. Anm. 7].

      16 Zum Begriff siehe das Interview mit M. Weninger, Vatikan-Dialogfachmann Weninger über Gespräche mit Muslimen, ursprünglich am 02.11.2013 im Radio Vatikan, jetzt abrufbar unter URL: https://gloria.tv/article/rjm4siQnsKMo4zW9QMMnEqu7s (Stand: 19.02.2019).

      17 Ebd.

      18 Vgl. Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 366–370, bes. 368 f. [s. Anm. 7].

      19 Vgl. ebd., 94.

      20 Ebd., 369 u. 385.

      21 Siehe A. F. Chávez, Die brennende Vernunft. Studien zur Semantik der rationalitas bei Hildegard von Bingen (Mystik in Geschichte und Gegenwart, Bd. I 8). Stuttgart – Bad Cannstatt 1991.

      22 Vgl. Hildegard von Bingen, Das Buch der Lebensverdienste – Liber vitae meritorum. Übers. u. eingel. v. M. Zátonyi. Beuron 2014, 46.

      23 Vgl. ebd., 56 f.

      24 Vgl. R. Berndt / M. Zátonyi, Glaubensheil. Wegweisung ins Christentum gemäß Hildegard von Bingen (Erudiri Sapientia, Bd. 10). Münster 2013, 193 f.

      25 Vgl. Hildegard von Bingen, Das Buch vom Wirken Gottes, 316 [s. Anm. 10]; s. auch Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 369 [s. Anm. 7].

      26 Hildegard von Bingen, Wisse die Wege, 385 [s. Anm. 7].

      27 Siehe M. H. Weninger, Europa ohne Gott? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften. Baden-Baden 2007, 21–29.

      28 Vgl. Johannes Paul II., Nachsynodales Schreiben Ecclesia in Europa zum Thema „Jesus Christus, der in seiner Kirche lebt – Quelle der Hoffnung für Europa“. Rom 2003, c. 7–9.

      29 Vgl. Paul VI., Enzyklika Populorum progressio über die Entwicklung der Völker. Rom 1967, c. 76–78.

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