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– sowohl was ihre Person wie auch ihre Erfahrungen betrifft (vgl. oben S. 10) H. Schott und R. Tölle). Reinhold Kilian und Thomas Becker beobachten bei psychiatrischen Versorgungsleistungen entsprechend dem Empowerment-Konzept (vgl. Abschn. 3.2.5) eine zunehmende Berücksichtigung der subjektiven Perspektive der Betroffenen bei der Erfassung des Bedarfs und der Beurteilung der Qualität gesundheitlicher Leistungen, sowie das Streben nach einer primär an den Ressourcen der Patienten orientierten Behandlung (vgl. Kilian u. Becker 2006, S. 332). Die Evaluation von Versorgung müsse sich auch daran messen lassen:

      Der Grad, in dem Gesundheitsleistungen an den vorhandenen individuellen Fähigkeiten und Ressourcen ihrer Nutzer zu einer selbständigen Lebensweise orientiert sind und in dem sie die Erweiterung dieser Fähigkeiten und Ressourcen anstreben und erreichen, bildet nach der Empowerment-Perspektive ein zentrales Kriterium der Qualitäts- und Effektivitätsbeurteilung (ebd., S. 334).

      Die vorliegende Studie möchte deshalb zu erhellen versuchen, inwieweit für psychiatrische Patienten ihre Religiosität bzw. Spiritualität persönliche Ressourcen darstellen.

      Welche Themen sind in Zukunft für die Versorgungsforschung besonders wichtig? Bei einem Workshop im November 2010 sprachen 36 namhafte Experten (aus den Gruppen Ärzteschaft, Förderer, Wissenschaft und Kostenträger) in vier Fokusgruppen über die Top-Zukunftsthemen (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 605). Zu den Top-5-Themen gezählt wurden in der Gruppe der Ärzteschaft unter anderem „Versorgung von chronisch Kranken, Multimorbidität, Versorgung psychisch Kranker“, in einer Fokusgruppe Wissenschaft u. a. „Patienten- und Nutzerperspektive“, in der Fokusgruppe Kostenträger u. a. „Patientenpräferenz Aktivierung/Autonomie“ (vgl. ebd., S. 607 f.). Auch im Plenum wurde hinsichtlich der Indikationen die Versorgung von chronisch Kranken, psychisch Kranken und multimorbiden Patienten als künftig besondere Herausforderung gesehen, dem Themenbereich „Patientenpräferenz“ räumten die Experten insgesamt große Bedeutung ein (vgl. ebd., S. 609). Es scheint, dass die vorliegende Studie sich gut in diesen Rahmen einfügt.

      Die Bedeutsamkeit psychischer Störungen wird auch in aktuellen großen Studien zur Epidemiologie eindrucksvoll erkennbar. Im Rahmen einer nationalen Gesundheitsberichterstattung wurde der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS; Robert Koch-Institut) bereits während der ersten Erhebungswelle der Hauptuntersuchung (DEGS1) ein Modul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH) zur Seite gestellt (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 77). Diesem „liegt eine bevölkerungsrepräsentative Erwachsenenstichprobe (18–79 Jahre, n = 5317) zugrunde, die überwiegend persönlich mit ausführlichen klinischen Interviews (Composite International Diagnostic Interview; CIDI) untersucht wurde.“ (ebd., S. 79) Die 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen – d. h. das Auftreten von klinisch relevanten, krankheitswertigen Störungen in der Bevölkerung innerhalb eines Jahres – beträgt insgesamt 27,7% (vgl. ebd.). Die größten Störungsgruppen sind Angststörungen (15,3%), unipolare Depressionen (7,7%) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7%) (vgl. ebd., S. 81).52 Diese Ergebnisse liegen im Bereich international vergleichbarer Studien, z. B. im ECNP/EBC Report 2011 (Wittchen et al. 2011): Die 12-Monats-Prävalenz in dieser EU-Studie (bzw. EU-27 plus Schweiz, Norwegen und Island) ist trotz anderer Methodik53 bei Beschränkung auf die in der DEGS1-MH einbezogenen Diagnosen mit 27% nahezu identisch (vgl. Jacobi et al. 2014, S. 83). Die Höhe der Prävalenz mag nicht nur Laien, sondern auch Fachleute erstaunen. Die Diagnosen beruhten aber auf voll erfüllten klinischen Kriterien (zumeist gemäß DSM-IIIR und DSM-IV), auch bezüglich Dauer und Schweregrad (vgl. Wittchen et al. 2011, S. 670). Die große Mehrheit erfahre keine Behandlung (vgl. ebd., S. 671). Das ist auch in Deutschland so: Nur ein geringer Teil dieser Betroffenen „berichtet, im letzten Jahr aufgrund psychischer Probleme in Kontakt mit dem Gesundheitssystem gestanden zu haben (11% derjenigen mit nur einer Diagnose, bis zu 40% der Betroffenen mit mindestens vier Diagnosen).“ (Jacobi et al. 2014, S. 84) Nach Wittchen et al. erfordert diese Datenlage dringend, die geltenden Versorgungsstandards im Bereich mentaler Gesundheit neu zu durchdenken (vgl. Wittchen et al. 2011, S. 670).

      Chronische Krankheitsverläufe sind eine besondere Herausforderung für das Gesundheitswesen: „Chronisch kranke Patienten stellen heute sowohl bei niedergelassenen Ärzten als auch in Krankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen die häufigste Behandlungsgruppe dar“ (Bengel et al. 2003, S. 84). Das betrifft auch psychische Störungen, bei denen ein erheblicher Anteil einen chronischen Verlauf nimmt: „Knapp 60% der psychisch erkrankten Patienten weisen einen chronischen Krankheitsverlauf auf. Diese Patienten sind – gerechnet ab dem Zeitpunkt der ersten Inanspruchnahme von Psychotherapie – länger als zwei Jahre krank.“ (ebd., S. 86) Damit stellt sich auf verschärfte Weise die Frage, wie die Krankheitsbewältigung unterstützt und Ressourcen aktiviert werden können. Ob die Beachtung und Betrachtung einer religiösen/spirituellen Dimension dazu etwas beizutragen vermag?

      Religiosität bzw. Spiritualität (im Sinne von Offenheit für Transzendenz, Sinn, das Ganze, Werthaltungen, ein transzendentes Gegenüber …) werden in dieser Studie als ernst zu nehmende und relevante Dimension von Menschen erkundet und in den Fokus gerückt – und zwar sowohl von der Anthropologie wie von der Empirie her. Dazu möchte die Studie theoretisch wie empirisch ein differenziertes Bild vorlegen,54 die eigenen Erkenntnisse in weitere Perspektiven und Diskussionen einordnen und psychiatrisch-psychotherapeutische wie seelsorgliche praktische Umsetzungen anregen.

      Zunächst wird in Kap. 2 die anthropologische Frage erörtert, inwiefern eine religiöse bzw. spirituelle Dimension zum Menschen gehört oder zumindest eine beachtenswerte Möglichkeit des Menschseins darstellt – und was mit Religiosität bzw. Spiritualität überhaupt gemeint sein kann. Erschöpfend abzuhandeln ist dies hier freilich nicht, das Thema soll jedoch von verschiedenen Seiten her betrachtet werden: Zunächst allgemein mit philosophischen Gesichtspunkten, theologischen Stimmen, unter religionspsychologischen und -soziologischen Aspekten, sodann speziell im Feld von Gesundheit und Krankheit. Insbesondere das Konzept Spiritualität erfährt verschiedentlich Kritik, diese wird in Abschn. 2.6 und 2.7 eigens dargestellt und diskutiert.

      Der richtige Umgang mit einer religiösen bzw. spirituellen Dimension in unserem Kontext wirft medizin- und berufsethische Fragen auf, diese werden in Kap. 3 thematisiert. Zunächst werden in Abschn. 3.1 einige allgemeine Überlegungen zur Medizinethik angestellt. Abschn. 3.2 untersucht, inwieweit verschiedene grundlegende Konzepte der Behandlung zumindest implizit eine Beachtung der religiösen / spirituellen Dimension beinhalten könnten. Offizielle Leitlinien (s. Abschn. 3.3) zeigen im internationalen Vergleich ganz erstaunliche und zum Nachdenken anregende Unterschiede. Abschn. 3.4 schließlich referiert Expertenaussagen zum Umgang mit Religiosität bzw. Spiritualität im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie.

      Unsere eigene Patientenbefragung an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Freiburg im Breisgau wird in Kap. 5 dokumentiert. Der Darstellung der Methode (Abschn. 5.1) folgen die detaillierten Ergebnisse (Abschn. 5.2). Die Diskussion schließlich (Abschn. 5.3) fragt nach der Repräsentativität der Studie, einem Überblick und Querschnitt der

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