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      Die Caritaswissenschaft hat einen sehr komplexen wissenschaftlichen Gegenstand: Dieser schließe u. a. „den leidenden und den helfenden Menschen sowie die Art und Qualität ihrer Beziehung ein“.19 Ihre Arbeit erfolge in drei Schritten: Sie möchte „Theorie und Praxis von Caritas und Christlicher Sozialarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven und Fragestellungen heraus“ 1. beschreiben, 2. erklären und 3. fördern bzw. konstruktiv verändern, wofür eine reflektierte Interdisziplinarität notwendig sei (vgl. Baumann 2015, S. 143).

      Sie ist darin der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“ (Gaudium et spes, Nr. 1) In dieser Solidarität ist ein umfassender Horizont gefordert: „Es geht um die Rettung der menschlichen Person, es geht um den rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch also, der eine und ganze Mensch, mit Leib und Seele, Herz und Gewissen, Vernunft und Willen steht im Mittelpunkt unserer Ausführungen.“ (ebd., Nr. 3) Die Brücke zum Thema und Anliegen unserer Studie ist leicht zu schlagen. Die Ausführungen des Konzils zum karitativen Tun in Apostolicam actuositatem Nr. 8 mit dem Blick auf Menschen, die „von Drangsal und Krankheit gequält werden“, der Rücksicht „auf die personale Freiheit und Würde“, den vorausgehenden „Forderungen der Gerechtigkeit“, der Förderung der Selbsthilfe und Eigenständigkeit20 und der Zusammenarbeit „mit allen Menschen guten Willens“ (vgl. Apostolicam actuositatem, Nr. 8) sind eine weitere Orientierung. In dieser Richtung formuliert die Deutsche Bischofskonferenz: „Die Caritas meint den ganzen Menschen einschließlich seiner existentiellen Ängste und Sehnsüchte und Fragen und reduziert ihn nicht auf materielle Bedürfnisse.“ (Die deutschen Bischöfe 1999, S. 16)

      Warum aber Caritas, also Nächstenliebe? Reicht nicht kompetente soziale oder therapeutische Hilfe? Benedikt XVI. betont in seiner Enzyklika Deus caritas est, es sei das Wesentliche, „das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung.“ (Benedikt XVI. 2005, Nr. 28) Deshalb sei für den Dienst an den Leidenden berufliche Kompetenz grundlegend notwendig, darüber hinaus aber geht es ja „um Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die Zuwendung des Herzens.“ (ebd., Nr. 31) Mathias Berger, vormals Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Freiburg, spricht im Kontext einer therapeutisch individuell angepassten Beziehungsgestaltung von der Forderung, „dass ein Therapeut seine Patienten mit so viel Engagement und Empathie behandeln sollte wie er es bei einem Familienangehörigen täte“ oder – auf ein Zitat Friedrichs II. zurückgreifend – „ex amore“ (vgl. Berger 2013, S. 64).

      Praktische Theologie (PT) will dem Menschen dienen. Ihr Ziel ist, wie das Handbuch praktische Theologie sagt, „der Mensch in seinem Menschsein-Können, d. h. in einem individuellen und sozialen Leben, das der Würde des Menschen vor Gott entspricht.“ (Haslinger et al. 1999b, S. 395) Sie hat dabei „eine vorrangige Option für benachteiligte, arme, unterdrückte, in die Bedeutungslosigkeit abgedrängte Menschen […] eine vorrangige Ausrichtung an den Menschen, bei denen dieses menschenwürdige Leben-Können am meisten verletzt ist.“ (ebd., S. 396) PT möchte durch ihre Arbeit dazu beitragen, die Zuwendung Gottes und „Leben in Fülle“ (Joh 10,10) in konkreten Lebenskontexten erfahrbare Wirklichkeit werden zu lassen (vgl. ebd., S. 395). Dafür muss die PT von den Erfahrungen der Menschen und ihren wirklichen Fragen ausgehen (vgl. Haslinger et al. 1999a, S. 28) f.).21 Die Beachtung der Betroffenenperspektive ist eine konstitutive Komponente von PT (vgl. Fuchs u. Haslinger 1999, S. 220)22: „Deshalb ist es für eine diakonisch ausgerichtete Praktische Theologie wichtig, nicht nur die Notsituation, sondern auch die Art der Bedürftigkeit von den Betroffenen selbst definieren zu lassen.“ (ebd., S. 223)23

      Stephanie Klein erinnert daran, dass Menschen, die zu den „Armen“ gehören, oft wenig Möglichkeit haben, „sich in der Gesellschaft, der Kirche und der Theologie sichtbar zu machen. Empirische Forschung kann dazu beitragen, deren eigene Deutungen, Hoffnungen, Definitionen und Perspektiven zur Sprache zu bringen und ihnen in theologischen wie auch in anderen Diskursen Relevanz zu verleihen.“ (Klein 2005, S. 103) Heinz Schott und Rainer Tölle sind überzeugt, dass „viele chronisch Kranke nolens volens Erfahrungen in der Psychiatrie gewonnen“ haben: „Sie können mitreden“ – Psychiater könnten viel gewinnen, indem sie auf diese hörten (vgl. Schott u. Tölle 2006, S. 503). Solche Anliegen teilt auch unsere Studie, indem sie Patienten selber befragt und versucht, die Relevanz ihrer Aussagen für die fachliche Diskussion deutlich zu machen.

      PT möchte zu einer „angemesseneren, unverfälschteren Wahrnehmung“ der Lebenswirklichkeiten beitragen (vgl. Haslinger et al. 1999a, S. 27) und erkundet dazu empirisch gerade auch solche Bereiche, die in der humanwissenschaftlichen Forschung sonst zu kurz kommen, wie etwa „Fragen nach der gelebten Religiosität […]: nach den religiösen Vorstellungen und Gottesbildern von Menschen in verschiedenen biographischen und sozialen Lagen, nach ihren Hoffnungen, Suchbewegungen und Zweifeln, ihrer religiösen Sozialisation und Praxis usw.“ (Klein 2005, S. 102). Die in unserem empirischen Teil angewandten Methoden quantitativer Sozialforschung „sind geeignet, um die Verbreitung von Phänomenen zu erforschen“ (vgl. Klein 2015, S. 63) und betreiben in diesem Teil PT als Sozialwissenschaft (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 173). Nach Heinrich Pompey bedient sich Caritaswissenschaft „der Methoden der Sozialempirie. Sie fragt: 1. Was bedeutet der Glaube für leidende und suchende Menschen?“ (Pompey 2001, S. 189). Zu ihren Forschungsfragen gehöre: „Erweist sich der Glaube als Lebensquelle für notleidende, kranke, konfliktbeladene und suchende Menschen, und liefert er lebensförderliche Lebens-Wertoptionen bzw. Lebens-Sinnperspektiven?“ (ebd., S. 192) In unserem Fall ist das nicht etwa auf christlichen Glauben begrenzt, sondern fragt nach Werten, Sinn und möglichem Benefit in allen möglichen Weltanschauungen.

      Damit wird auf der Basis kompatibler bzw. konvergierender Optionen24 zwischen Humanwissenschaften und Theologie in „interdisziplinären Suchbewegungen […] vor allem problembezogenes und Problemlösungs-Wissen“ produziert (vgl. Mette u. Steinkamp 1983, S. 170) f.).25 Nach Stephanie Klein erarbeite PT „nicht primär Lösungen für die Praxis“, sondern stelle „Wissen und Analysen für die Erarbeitung von Lösungen zur Verfügung“ (vgl. Klein 1999a, S. 263). In diesem Sinne wollen unsere Ausführungen niemandem eine „Lösung“ vorschreiben, sondern zum informierten Nachdenken über die aufgezeigten Phänomene und Aspekte anregen und einige Vorschläge zu Lösungsansätzen machen.

      Was für Menschen wirklich hilfreich ist, lässt sich oft nicht leicht bestimmen. Jürgen Werbick sieht in seiner Theologischen Methodenlehre eine Aufgabe der „Diakonik“ (hier: Caritaswissenschaft) darin, in einen „produktiv ausgetragenen Konflikt der Hermeneutiken des Hilfreichen“ einzutreten und dafür empirisch zu erheben, „was der Lebens-Not von Menschen wirksam abhilft und von den Betroffenen wie den diakonisch Tätigen so empfunden wird, dass sie sich mit solcher Hilfe identifizieren können“ (Werbick 2015, S. 567). PT mische sich als „empirisch forschende Wissenschaft“ ein „in den interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs um die soziale Wirklichkeit“: „Sie macht die Theologie dort präsent und trägt aus theologischer Sicht zur Benennung der Probleme, zur Methodendiskussion, zur Theoriebildung, zur Findung von Lösungen und zum Streit um die Wirklichkeit bei.“ (Klein 2015, S. 64) Ihre Dokumentationen und Analysen seien „oft ein Politikum“, weil sie evtl. Missstände und Ungerechtigkeiten sichtbar machten (vgl. Klein 1999a, S. 264). Anwaltschaft für Benachteiligte gehört zu den Prinzipien von Caritas: Caritaswissenschaft müsse theologisch und sozialwissenschaftlich begründen, warum diese geboten und möglich ist (vgl. Haslinger 2004, S. 159). Anwaltschaft zielt nicht auf Gegnerschaft, sondern eher auf einen fruchtbaren Dialog und die Zusammenarbeit „mit allen Menschen guten Willens“ für das „Werk sozialer Nächstenliebe“ und Anliegen wie Gerechtigkeit und Frieden (vgl. Benedikt XVI. 2009, Nr. 57).26

      Zwischen Empirie und Theorie besteht auf mehreren Ebenen ein – im besten Falle konstruktives – Spannungsverhältnis. Zunächst sind empirische Daten nicht einfach „neutrale“ Fakten: Gegen ein

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