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Thema der Anthropologie sei nun „nicht ‚der Mensch‘, sondern der Diskurs über den Menschen“, gerade weil die unterschiedlichen „Vorstellungen vom Menschsein“ unser Handeln mit bestimmten (vgl. ebd., S. 83). Christian Thies und Eike Bohlken stellen sich eine integrative Anthropologie vor, die Ansätze für disziplinübergreifende Projekte biete wie auch kritisch gegen übertriebene „Alleinvertretungs- oder Letztbegründungsansprüche“ einzelner Disziplinen stehe: „Als zentraler Richtpunkt dient ihr die in offenen Leitbegriffen anzudeutende Mehrschichtigkeit und Vieldimensionalität der Menschen, die Raum lässt für universale und partikulare Merkmale und Praktiken.“ (Bohlken u. Thies 2009, S. 6) f.) Und damit auch für die Dimension von Religiosität bzw. Spiritualität. Nach Thies kann (philosophische) Anthropologie Orientierungswissen bieten, d. h. „begründete und systematisierte Einsichten, die helfen können, sich in einer unübersichtlichen, vieldeutigen Welt zurechtzufinden. Das gilt vor allem für wichtige Handlungsbereiche wie Medizin, Pädagogik und Politik.“ (Thies 2004, S. 11)45

      Der Psychologe Jürgen Kriz hält im Blick auf Psychotherapie die zugrunde liegenden Denkmodelle für sehr wichtig: „Die Fragen danach, wie wir leben wollen, was wir für wesentlich erachten, aus welchem Bild vom Menschen wir die Maximen unseres Handelns ableiten, etc. betreffen daher nicht nur das therapeutische Handeln selbst, sondern auch dessen Erforschung.“ (Kriz 2012, S. 29) Aus medizinethischer Sicht meint Ulrich H. J. Körtner, „Medizin, Pflege, Philosophie und Theologie“ müssten „stärker miteinander ins Gespräch kommen […], und zwar nicht nur auf dem Gebiet einer im wesentlichen auf Risikoabschätzung reduzierten medizinischen Ethik, sondern auch im Bereich anthropologischer Grundfragen.“ (Körtner 2014, S. 353) Zu solchem Gespräch möchte diese Studie einen qualifizierten Beitrag leisten.

      Zur Einordnung der vorliegenden Studie in die medizinische Forschungslandschaft bietet sich besonders das Paradigma der Versorgungsforschung an.

      Seit einigen Jahren ist die Versorgungsforschung ein innerhalb der Gesundheitsforschung etabliertes und anerkanntes eigenes Forschungsgebiet (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 606). Angesichts begrenzter Mittel eine hohe Qualität der Kranken- und Gesundheitsversorgung sicherzustellen, gleiche oft einer Quadratur des Kreises: Dafür bräuchten alle Beteiligten einschlägiges Wissen, was die Versorgungsforschung mit entsprechenden Darstellungen des Ist-Zustands fördern wolle (vgl. Pfaff et al. 2011, S. XIII). In den USA kann sie auf einen sehr viel längeren Forschungszeitraum zurückblicken, als „Geburtsjahr“ wird dort das Jahr 1952 betrachtet, die offizielle Bezeichnung Health Services Research entstand aber erst 1960. In Deutschland kam sie erst ab den 90er-Jahren verstärkt auf (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 606). Derzeit sei das Interesse an der Thematik Versorgungsforschung in Deutschland sehr groß, wie auch die zahlreichen Aktivitäten im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) zeigten (vgl. Schrappe u. Pfaff 2011, S. 384).46

      In Deutschland hat sich folgende Definition der Versorgungsforschung allgemein durchgesetzt (vgl. ebd., S. 381):

      Versorgungsforschung kann definiert werden als ein fachübergreifendes Forschungsgebiet, das die Kranken- und Gesundheitsversorgung und ihre Rahmenbedingungen beschreibt und kausal erklärt, zur Entwicklung wissenschaftlich fundierter Versorgungskonzepte beiträgt, die Umsetzung neuer Versorgungskonzepte begleitend erforscht und die Wirksamkeit von Versorgungsstrukturen und -prozessen unter Alltagsbedingungen evaluiert. (Pfaff 2003, S. 13)47

      Ihr Gegenstand sei die „letzte Meile“ des Gesundheitssystems, darunter sei „die konkrete Kranken- und Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern, Arztpraxen und sonstigen Gesundheitseinrichtungen zu verstehen, in deren Rahmen die entscheidenden Versorgungsleistungen zusammen mit dem Patienten erbracht werden.“ (ebd., S. 13) f.) Mit Krankenversorgung ist „die Betreuung, Pflege, Diagnose, Behandlung und Nachsorge eines kranken Menschen durch medizinische und nicht-medizinische Anbieter von Gesundheitsleistungen“ gemeint, sie umfasst also sowohl die medizinische wie auch die psychosoziale Versorgung der Patienten (vgl. ebd., S. 14). Eine entscheidende Perspektive ist dabei deren Betrachtung unter Alltagsbedingungen.

      Was genauer sind die Ziele? Es geht um eine lernende Versorgung:

      Das Ziel der Versorgungsforschung ist, die Kranken- und Gesundheitsversorgung als ein System zu entwickeln, das durch das Leitbild der „lernenden Versorgung“ gekennzeichnet ist und das dazu beiträgt, Optimierungsprozesse zu fördern und Risiken zu vermindern. Dabei ist die Versorgungsforschung den Zielen Humanität, Qualität, Patienten- und Mitarbeiterorientierung sowie Wirtschaftlichkeit gleichermaßen verpflichtet. (Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer 2004)

      Um das mögliche Optimum an Versorgungsqualität zu erreichen, brauche es „ergebnisoffene Versorgungsforschung mit relevanter Fragestellung und valider Methodik. Wir erkennen zunehmend, dass Versorgung multiprofessionell analysiert werden muss, wenn die ganze Komplexität und Kontextabhängigkeit der Interaktion von Arzt und Kranken aufgedeckt und für Verbesserungen zugänglich werden sollen.“ (Scriba 2011, S. V)

      Versorgungsforschung ist also keine eigene Wissenschaft, sondern ein Forschungsfeld, das sich methodisch mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen bedient (vgl. Schrappe u. Pfaff 2011, S. 381). Vorrangig zu nennen seien hier „die Epidemiologie, insbesondere die Klinische Epidemiologie (Evidenz-basierte Medizin), Organisationswissenschaften/Soziologie, Didaktik, Lernpsychologie und Kommunikationsforschung, Gesundheitsökonomie, Public Health, Rechtswissenschaften, Ethik, Qualitäts- und Patientensicherheitsforschung, Lebensqualitätsforschung, Pflegeforschung und natürlich die Klinischen Fachgebiete“ mit ihren jeweiligen methodischen Herangehensweisen (ebd., S. 383 f.).48 Nur „durch die Beteiligung aller Fachdisziplinen (Multidisziplinarität)“ und „die Beteiligung aller in der Versorgung tätigen Berufsgruppen (Multiprofessionalität)“ könnten die vielfältigen Einflussfaktoren umfassend untersucht und verbessert werden (vgl. Pfaff u. Schrappe 2011, S. 5). Bedenkenswert ist dabei, dass das Ergebnis der Versorgungsleistung eine „Resultante der Gesundheitsleistung und der Kontextleistung“ sei, d. h. aus spezifischen und sogenannten unspezifischen Wirkfaktoren:

      Unter Gesundheitsleistung versteht man den spezifischen Wirkbestandteil, wie z. B. die OP-Methode oder das Medikament. Die Kontextleistung umschreibt den Beitrag der „weiteren Umstände“, also der beteiligten Personen (Ärzte und Pflegende), der Institutionen (z. B. Krankenhaus), des Finanzierungssystems. Jeder Arzt kennt die Bedeutung dieser unspezifischen Faktoren, häufig wird hier der Begriff des „Placebo-Effekts“ verwendet. (Schrappe u. Pfaff 2011, S. 382)49

      Versorgungsforschung versuche deshalb auch zu analysieren, welcher Art „die relevanten Kontextfaktoren sind.“ (ebd.)

      Viele Autoren unterstreichen, dass solche empirische Forschung unabhängig sein müsse, also nicht auftrags- und interessengebunden sein dürfe (vgl. z. B. Rabe-Menssen et al. 2011, S. 403). „Wenn man Versorgungsforschung nicht im engen Interesse der eigenen politischen, Wirtschafts- oder Berufsgruppe betreibt und fördert, dann erhofft man sich von ihr verlässliche Orientierung – durch neutrale, sachliche und wissenschaftlich belastbare Beschreibungen, Bewertungen, Analysen, Prognosen und Ratschläge.“ (Raspe 2011, S. IX) Allerdings sei sie als angewandte Forschung im Konflikt, dass sie bei Forschungsprojekten mit der Versorgungspraxis und möglichen Interessengruppen eng zusammenarbeiten müsse (vgl. Grenz-Farenholtz et al. 2012, S. 610). Das vom DNVF herausgegebene Memorandum III: Methoden für die Versorgungsforschung (Teil 1) rät deshalb: „In der Regel verfolgen alle Studien bestimmte Interessen. In jeder Untersuchung sind Interessenskonflikte von allen Beteiligten vollständig zu offenbaren und transparent zu dokumentieren.“ (Pfaff et al. 2009, S. 507)50

      Ein zentrales Grundkonzept der Versorgungsforschung ist (neben Ergebnisorientierung, Multidisziplinarität und Multiprofessionalität) die Patientenorientierung (vgl. Pfaff u. Schrappe 2011, S. 2).51 „Bereits im Jahr 1988 hatte Ellwood in der »Shattuck Lecture« darauf hingewiesen, dass es nicht ausreicht, sich der Patientenorientierung des ärztlichen oder pflegerischen Tuns gegenseitig zu vergewissern, sondern dass konkret in Erfahrung zu bringen ist, welche Interessen der Patient

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