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      Wie weit die innere Entfremdung gediehen ist, zeigt folgende Begebenheit beim letzten Abendmahl: Als Jesus davon spricht, dass ihn einer der Zwölf verraten wird, da wurden sie sehr traurig und einer nach dem andern fragte ihn: Bin ich es etwa, Herr? (Mt 26,21). Sie zweifeln nicht nur an Jesus, sondern tragen ihm gegenüber auch Ablehnung und vielleicht sogar Hass in ihrem Herzen, so dass sich keiner sicher ist, ob nicht er selbst es sein wird, der Jesus verrät. Jeder hat Anteil an Judas, der den Behörden den Aufenthaltsort Jesu anzeigt. Als Jesus seinen Jüngern nur ein paar Stunden später ohne jeden Vorwurf voraussagt, dass sie Anstoß an ihm nehmen werden, was sie doch de facto schon seit längerem tun, reagieren sie darauf wie bei den Leidensankündigungen Jesu: Sie blocken ab – umso mehr, als sie sich ertappt gefühlt haben werden: Was als unangenehm und unpassend erscheint, was dem Anschein nach nicht sein darf oder peinlich ist, was stört oder gar Angst macht, wird unter den Tisch gekehrt. Es scheint dann weg zu sein. Petrus kann mit voller Überzeugung behaupten: Auch wenn alle Anstoß nehmen – ich nicht! Jesus sagte ihm: Amen, ich sage dir: Heute, in dieser Nacht, ehe der Hahn zweimal kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Petrus aber beteuerte: Und wenn ich mit dir sterben müsste – ich werde dich nie verleugnen. Das Gleiche sagten auch alle anderen (Mk 14,27–31). Sie möchten zu ihm stehen, gleich was kommt. Da ihr guter Wille aber mit ihren Zweifeln an Jesus, ihrem Unverständnis, ihrer Kritik an ihm, ja Ablehnung und ihrer Angst vor den Juden nicht verbunden ist, steht dieser Wille auf tönernen Füßen: Sie werden ihr Versprechen nicht halten können.

      Und in der Tat ist es schon aus, als Jesus Petrus, Johannes und Jakobus bittet, ihm in seiner Todesangst beizustehen und mit ihm zu wachen. Wer würde das nicht für seinen Freund tun, wenn dieser in seiner Not so klar darum bittet? Dies wollen auch die drei Jünger im Garten Getsemani. Sie hatten eben erst versprochen, bei ihm zu bleiben. Sie wollen es, aber sie können es nicht. Sie vermögen einfach nicht mehr, sich wach zu halten. Zu groß ist die Spannung. Die Augen waren ihnen zugefallen (Mk 14,40; Mt 26,43), vor Kummer erschöpft (Lk 22,45). Sie sind am Ende. Aufgebraucht ist ihre Kraft, die vermiedenen und ungelösten Spannungen zu ertragen. Die Dämme, durch die sie sich selbst und ihre Liebe zu Jesus schützen wollten, brechen vollends ein, als die Häscher kommen. Sie kapitulieren und fliehen. Außer Petrus. Er reißt sich zusammen, überwindet seine Angst und setzt sich der feindlichen Umgebung des hohepriesterlichen Hofes aus, um bei Jesus zu sein. Doch seine verdrängten Gefühle und Bedürfnisse unterminieren die Mauer aus Willen und Vorstellung: Petrus verleugnet Jesus dreimal mit wachsender Aggression gegenüber denen, die ihn in Frage stellen (Mk 14,71). Als er merkt, was geschehen ist, was er getan hat, bricht er zusammen und kapituliert ebenfalls.

      Wir wissen nicht, was mit den Zwölfen – das war der Name für den Kreis der zwölf Apostel auch nach dem Weggang des Judas – geschieht. Es sind die Jüngerinnen Jesu, die Frauen, die unter seinem Kreuz stehen oder aus der Ferne Anteil an seinen Leiden nehmen und den Verstorbenen zu seinem Grab begleiten. Bei alledem sind die Zwölf nicht dabei!7 Ihr Fehlen mag Zeichen ihres mangelnden Mutes sein und Ausdruck des Anstoßes, den sie an Jesus nehmen. Doch geht die Bedeutung ihres Fernbleibens weit darüber hinaus: Denn bei Markus und Matthäus verschwinden die Zwölf als Handlungssubjekte komplett aus der Geschichte. Am radikalsten bei Markus: Kein einziger ihrer Namen taucht in seinem Evangelium noch einmal auf. Bei Matthäus finden wir sie erst Tage oder Wochen später wieder auf einem Berg in Galiläa, auf dem ihnen der Auferstandene erscheint, ein Widerfahrnis, das sich ohne ihr Zutun ereignet. Das Verschwinden der Zwölf als Akteure aus dem Evangelium erinnert an die Sterndeutergeschichte und das Verschwinden der Magier aus ihr in Jerusalem. Die Magier wie die Zwölf – sie sind wie aus der Geschichte gefallen, wie vom Erdboden verschluckt, wie gestorben und begraben mit dem, den sie suchten bzw. dem sie folgten. Und in der Tat wird dieses Ende Jesu den Zwölfen den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Nicht nur ihre menschlichallzumenschlichen Hoffnungen auf gutes Auskommen, Einfluss und Ansehen zur Rechten und Linken des regierenden Messias sind in den Abgrund des Nichts gefallen. Nicht nur erleiden sie den Verlust eines Menschen, der ihnen nahe war, den sie geliebt haben. Vielmehr ist alles in Frage gestellt, was sie in allen Zweifeln und Prüfungen bei Jesus bleiben ließ: die Verheißung ewigen Lebens, ihr Glaube, dass durch ihn das Reich Gottes kommt. Denn kein Gott tritt hervor und wendet das Blatt der Geschichte, vertreibt die Heiden und die Sünder, stellt das Reich Davids wieder her. Im Gegenteil: Römer und Herodes behaupten sich. Und das Rad der Geschichte dreht sich weiter, wie es sich immer gedreht hat, die Welt wird nicht gerichtet und anscheinend beginnt auch kein neuer Äon. Gott hat geschwiegen, hat Unrecht und Böses geschehen lassen. Wieder einmal, wie so oft. Oder hatte er gar Jesus verlassen (Mk 15,34)? Konnte es denn sein, dass „ihr“ Jesus von Gott verflucht war, wie es in der Torah geschrieben steht: ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter (Dtn 21,23c)? Sollte es denn möglich sein, dass Jesus, der doch Worte ewigen Lebens hatte, wie ihnen schien, sie nicht zu Gott, dem Ziel der menschlichen Sehnsucht, sondern in die Gottferne führte, in der sie ja nun tatsächlich saßen? War Jesus doch der Gotteslästerer, der sich zum Sohn Gottes gemacht hatte, als den der Hohe Rat ihn verurteilt hatte? Verwirrung, Angst, Ohnmacht, Sinn- und Perspektivlosigkeit … Passion und Tod Jesu befördern sie unversehens aus dem Raum des Außen und der historischen Ereignisse in den Raum des Innen, der Bewusstheit von Gedanken und Gefühlen, Empfindungen, inneren Bewegungen, geistigen Gegebenheiten, den sie bis dahin kaum kannten und so oft vermieden hatten. In der Tat hatten sie ja nichts wissen wollen vom Ende des Menschensohns in Jerusalem, von ihrer Entfremdung gegenüber Jesus, ihrer inneren Verwandtschaft mit Judas. Das Johannesevangelium berichtet anschaulich, dass die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren (Joh 20,19). Damit schützen sie sich vor den Juden, liefern sich aber all den Empfindungen und Gefühlen aus, die die Ereignisse der letzten Stunden, Tage, Wochen in ihr Bewusstsein spülen. In deren Untergrund brodelt die Schlüsselfrage: Wer ist Jesus aus Nazareth in Bezug auf Gott wirklich und wie ist Gottes Reich zu verstehen?

      Halten wir ein wenig inne, um das Geschehene nachwirken zu lassen. Wer meint, Nachfolge Christi sei nur ein leichtes und unbeschwertes Dahingleiten, wird angesichts des Weges der Jünger mit Jesus eines anderen belehrt: Ambivalenz von Glauben und Unglauben, Spannungen von Verstehen und Nichtverstehen, von Zeiten des Trostes und Durststrecken, von Verlust, Leid und Tod, von Vertrauen einerseits und Enttäuschung, Vorwürfen und Zweifeln andererseits. Ambivalenzen und Polaritäten gehören zu einem Glauben, der auf Wachstum angelegt ist: Man denke an Jesu Gleichnisse vom Senfkorn, das das kleinste von allen Samenkörnern [ist]; sobald es aber hochgewachsen ist, ist es größer als die anderen Gewächse und wird zu einem Baum (Mk 13,32), oder vom Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Sea Mehl8 verbarg, bis das Ganze durchsäuert war (Mt 13,33). Wachstum geht aber vonstatten nur in Spannungen und durch Krisen hindurch: Was bislang Sinn stiftete, plausibel erschien, Fundament des eigenen Lebens war, beginnt zu verblassen oder gar durch ein Ereignis auf einen Schlag zusammenzubrechen.

      Die Hinrichtung Jesu war für die Jünger ein solches Ereignis. Unglück, Verlust und Leid bleiben ihnen nicht erspart. Ein Teil der dadurch ausgelösten Krise besteht darin, dass selbstverständliche Grundannahmen über das Leben, da sie nun nicht mehr funktionieren, zu Bewusstsein kommen können – wie z. B. die Vorstellungen der Jünger vom politischen Messias, vom Reich Gottes als einem Wohlfahrtsstaat, von einem Gott, der in die Geschichte eingreift wie eine innerweltliche Ursache. Es gilt, sich die Wahrheit einzugestehen und seine gewohnten, aber falschen Vorstellungen loszulassen und zu kapitulieren.

      Der Kern dessen, was eine Krise aufdeckt, ist die Wahrheit der Sünde. Das zeigt uns das Beispiel des „verlorenen Sohnes“ (Lk 15) im Gleichnis vom barmherzigen Vater, durch das wir versuchen wollen, diesen für die Schrift wichtigen, aber schwierigen und unmodernen Begriff „Sünde“ zu verstehen. Der jüngere Sohn hat sein Vermögen durchgebracht und beneidet hungernd die Schweine um ihr Futter. Ähnlich wie die Jünger ist auch er eingeschlossen in einer ausweglosen Situation. Und so wird der Weg frei für das Entscheidende: Da ging er in sich … (Lk 15,17). Er wird seiner unbewussten Vorstellungen vom Leben und seines diesen entsprechenden Strebens inne. Er erkennt sie als Verfehlung, als Sünde: Ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich, Vater, versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein (Lk 15,18f). Das Wort „Sünde“ ist weitgehend aus unserem Sprachgebrauch verschwunden,

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