ТОП просматриваемых книг сайта:
Vom Lieben und vom Sterben. Bertram Dickerhof
Читать онлайн.Название Vom Lieben und vom Sterben
Год выпуска 0
isbn 9783429065263
Автор произведения Bertram Dickerhof
Жанр Религия: прочее
Издательство Bookwire
Dieses Wort hatten die Jünger bisher ganz und gar nicht verstanden. Um dieses Wort dreht sich nun die Geschichte von den beiden Jüngern, die am Ostertag nach Emmaus unterwegs sind (Lk 24,13–35). Unerkannt begleitet der auferstandene Jesus den Weg der beiden, so wie der irdische Jesus – unerkannt letztlich auch er – seine Jünger nach Jerusalem begleitet hatte. Der Unterschied ist, dass für die Emmausjünger inzwischen Wirklichkeit und damit besprechbar geworden ist, was für die Zwölf auf dem Weg nach Jerusalem unter keinen Umständen geschehen durfte und worüber nicht gesprochen werden konnte: der Tod Jesu. Dieser Tod erscheint nun, nachdem er eingetreten ist und die Jünger ihre Passion durchleben, in der Gegenwart des Auferstandenen nicht mehr nur als Verhängnis, sondern als göttliche Notwendigkeit: Musste nicht der Christus all das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen? (24,26). Obwohl dieser Satz den Emmausjüngern Hoffnung und Perspektive eröffnet, braucht es den Gang durch die ganze Schrift, durch Mose und alle Propheten, damit sein Inhalt sie erreicht. Den beiden brennt das Herz. Doch erst am Abend, beim Brechen des Brotes, als im Zeichen vollzogen wird, was Jesus am Kreuz in Liebe und Barmherzigkeit ausgelitten hat, gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn (24,31). Jetzt erst werden sie der Präsenz inne, die „da war“ auf ihrem ganzen Weg. Sie hatte sie Worte für das Selbstverständliche, das sie so sehr bewegt hatte, finden und aussprechen lassen. Sie hatte sie einander begegnen und ihre Herzen brennen lassen.
Was bedeutet nun dieser Satz: Musste nicht der Christus all das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen?
Er besagt, dass nicht Vermeiden und Abwehren, sondern Hineingehen in die Grenzsituation und sie durchleben der Weg zu Erfüllung und Vollendung ist. Über Grenzsituationen verfügt man nicht, man kann sie nicht herstellen, sie kommen auf einen zu. In sie hineinzugehen und sie zu durchleben heißt, Enttäuschung oder Verlust zu erleiden, da die Grenze ja darin besteht, dass die eigene Wunschvorstellung von einer Situation sich nicht erfüllt. Dass darin der Weg zur Erfüllung liegen soll, ist dem „gesunden Menschenverstand“ völlig entgegengesetzt. Es durchkreuzt das Prinzip, das Gefällige zu erstreben und das Missfällige zu vermeiden oder abzuwehren. Unabhängig von Gesellschaftsschicht, Bildungsgrad, moralischem oder sozialem Status erschallt vor dem Kreuz Jesu unisono die Überzeugung, dass ein „echter“ Messias vom Kreuz heruntersteigen könne und würde, d. h. die Macht habe, das Missfällige abzuwehren und das Gefällige herzustellen: Die Leute, die [vor dem Kreuz Jesu] vorbeikamen, verhöhnten ihn, schüttelten den Kopf und riefen: Ach, du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Rette dich selbst und steig herab vom Kreuz! Ebenso verhöhnten ihn auch die Hohepriester und die Schriftgelehrten und sagten untereinander: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Der Christus, der König von Israel! Er soll jetzt vom Kreuz herabsteigen, damit wir sehen und glauben. Auch die beiden Männer, die mit ihm zusammen gekreuzigt wurden, beschimpften ihn (Mk 15,29–32 par). Wer irgendeine Machtressource hat – dem Messias, dem König von Israel, dem Christus, müssten sie in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen –, der nutzt sie, um Ohnmacht, Leiden, Schmerz, Tod zu entgehen; der steigt herab vom Kreuz; der lässt nicht geschehen, was geschieht, wenn es unangenehm oder gar leidvoll wird; der wehrt sich mit allen Kräften dagegen.
Nicht aber so Jesus Christus, der in das Missfällige – seine Passion – hineingeht und so – und nur so – seine Herrlichkeit erlangt, die jedes Gefällige über-erfüllt.
Das heißt nun nicht, dass das Evangelium uns ganz generell zum Leiden auffordert. Es geht ihm nicht um eine süßliche Leidenssüchtigkeit; eine solche ist schräg! Es geht auch nicht um die Anpreisung von Opfern, die man suchen und bringen soll. Sondern, und darin besteht das zweite Fazit aus unserem Osterevangelium, es geht um die Entmachtung des Prinzips, das Gefällige zu erstreben und das Missfällige zu vermeiden oder abzuwehren. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu waren vor Ostern selbstverständlich in diesem Prinzip gefangen. Auferstehung kann jedoch nur vernehmen und erfahren, wem die Fesseln dieses Prinzips gelockert worden sind. Insofern geht es dem Evangelium um die Entkoppelung einer gegebenen, irgendwie unangenehm anmutenden Situation von einem spontanen, quasi automatischen Verhalten, das darauf zielt, die von der Situation ausgelösten Empfindungen nicht spüren und erleben zu müssen. Durchbrochen werden soll die Automatik. An ihre Stelle sollen Bewusstheit und Freiheit treten. Die Bergpredigt (Mt 5) ist voll von Beispielen solcher Automatismen, die im nächsten Kapitel ausführlicher untersucht werden: Da ist ein Feind – und sofort wird er gehasst und bekämpft; da kränkt mich einer – und spontan schimpfe ich auf ihn; da ist meine Partnerschaft unbefriedigend – und schon will ich ihn oder sie loswerden. Bei alledem ist die Aufmerksamkeit dessen, der in der missfälligen Situation ist, draußen: beim andern, bei den zu ergreifenden Maßnahmen … überall, nur nicht bei sich selbst und den eigenen Empfindungen. Die Entkoppelung besteht daher gerade darin, innezuhalten, d. h. sich nach innen zu wenden und seiner inneren Bewegungen, also seiner Gedanken, Gefühle, Impulse, Wünsche innezuwerden, die mit der unangenehm anmutenden Situation verbunden sind. In den Beispielen: die Wirkung der Feindschaft oder der Kränkung in seinen Gefühlen und Impulsen zu merken und dabei auszuhalten; den Ärger zu durchleben, statt ihn abzureagieren; sich die Frustration über die unbefriedigende Partnerschaft eingestehen, um zur Frage nach dem eigenen Beitrag gelangen zu können. Unsere Frauen aus den Osterevangelien sind ein Vorbild, was diese Entkoppelung angeht. Sie gehen in ihre Passion hinein. Sie setzen sich dem Kreuzestod Jesu aus; sie sind bei seiner Beisetzung dabei; ja, sie gehen in sein Grab hinein und erleiden dort ungeschützt alles, was die Endgültigkeit ihres Verlustes in ihrem Inneren auslöst. Sieht Markus in diesem entkoppelten Verhalten, das in das Unangenehme des Lebens aus Liebe und Sehnsucht hineingeht, die entscheidende Disposition für das Entstehen des Osterglaubens? Jedenfalls scheint es so, denn er lässt sein Evangelium mit dem Hineingehen ins Grab enden. Dennoch bedeutet Entkoppelung nun nicht, für immer in seinen negativen Gefühlen festzusitzen und auf jedes Handeln zu verzichten. Im Spüren, Fühlen, Erleben, Wahrnehmen seiner inneren Bewegungen bewusst zu verweilen verwandelt den Menschen. Der zweite Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,9–20) zeigt dies: Die Verwandlung der Hineingehenden befähigt sie zur Begegnung, in der sich die Erscheinung des Auferstandenen im Alltag realisiert und letztlich das Tun vollzieht, das der Auferstandene ihnen aufträgt: Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung! (Mk 16,15).
Und schließlich ist noch ein drittes Fazit aus dem markinischen Osterevangelium zu ziehen: In das Missfällige hineingehen wie die Frauen, indem sie beim Kreuz Jesu stehen, bei seiner Grablegung dabei sind und schließlich sogar in das Grab selbst eintreten, kann nur, wer sich genügend sicher fühlt. Bei den Frauen ist eine „Stimmung“ da, die überzeugt ist, dass ihnen letztlich nichts passieren kann, was immer auch geschieht. Sie fühlen sich angenommen und bejaht. Sie reden sich das nicht ein oder reißen sich zusammen. Es geschieht mit ihnen. Unser Text drückt dies aus durch diese kleinen Fügungen: Der Stein, der Sorge bereitet hatte, ist weg; die ganze Szenerie atmet Neubeginn, Frische, Energie: Alles Dunkel ist vertrieben; im Grab werden sie geleitet von dem jungen Mann bzw. Engel, der sich ihnen verständnisvoll zuwendet. Durch all das teilt sich den Frauen ein Gefühl unbedingten Gehalten- und Angenommenseins mit, göttliche Liebe, die Basis des ganzen Prozesses. Damit stellt sich die Frage, wieweit die Sehnsucht nach der Erfüllung über alles hinaus letztlich Sehnsucht nach dieser unbedingten Liebe ist.
Exkurs: War das leere Grab tatsächlich leer?
Diese Frage konnte bisher offenbleiben, weil der Osterglaube sich nicht aus dem Faktum eines leeren Grabes ableiten lässt. In der Tat spielt das leere Grab weder in den Osterzeugnissen vor Paulus noch bei Paulus selbst eine Rolle. Röm 6,4 und 1 Kor 15,4 sind die beiden einzigen paulinischen Stellen, die überhaupt das