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Geist & Leben 4|2020. Echter Verlag
Читать онлайн.Название Geist & Leben 4|2020
Год выпуска 0
isbn 9783429064709
Автор произведения Echter Verlag
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
„Es gibt noch etwas Schlimmeres als ein schlechtes Denken zu haben. Nämlich: ein ganz fertiges Denken zu haben. (…) Es gibt etwas Schlimmeres als sogar eine verderbte Seele zu haben. Nämlich: eine Gewohnheitsseele zu haben. (…) Man hat es erlebt, dass die unglaublichen Wirkungen der Gnade (…) in eine schlechte und sogar eine verderbte Seele Einlass fanden (…). Niemals jedoch hat man erlebt, dass eine Lackfläche die Feuchtigkeit annahm, dass das Undurchdringliche die Flüssigkeit durchließ; niemals hat man erlebt, dass die Gewohnheit durchtränkt und aufgeweicht wurde. (…) Selbst die Liebe Gottes verbindet den nicht, der keine Wunden hat. Weil ein Mann am Boden lag, hob der Samariter ihn auf. Weil das Antlitz Jesu schmutzig war, reinigte Veronika es mit einem Tuch. Wer aber nicht gefallen ist, wird niemals aufgehoben werden; und wer nicht schmutzig ist, wird nicht gereinigt werden. Die ‚anständigen Leute‘ werden von der Gnade nicht durchtränkt.“23
1 Eine Ausnahme bilden J. Hanimann, Der Unzeitgenosse. Charles Péguy. Rebell gegen die Herrschaft des Neuen. München 2017; C. Péguy, Das Geld. Aus dem Französischen u. mit einem Vorwort v. A. Pschera. Mit einem Nachwort v. P. Trawny (Fröhliche Wissenschaft, 099). Berlin 2017.
2 Vgl. C. Daudin, Art. Femme, in: S. Malka (Hrsg.), Dictionnaire Charles Péguy. Paris 2018, 130–136, hier: 130 f.
3 C. Péguy, Toujours de la grippe, in: Œuvres en prose complètes I (= OPC). Paris 1987, 464. Soweit nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen ins Deutsche vom Autor.
4 Vgl. C. Péguy, Un nouveau théologien. M. Fernand Laudet, in: OPC III. Paris 1992, 549 f.
5 C. Péguy, Das Mysterium der Erbarmung. Übertr. v. O. von Nostitz. Wien 1954, 41.
6 J. Roger, Blanche Raphaël, prisonnière ou fugitive?, in: Amitié Charles Péguy 153 (2016), 21–35.
7 C. Péguy, Das Geheimnis der unschuldigen Kinder. Übertr. v. O. von Nostitz (Christliche Meister, 59). Freiburg i. Br. 2014, 157 f.
8 C. Péguy, Das Mysterium, 118; 133 [s. Anm. 5].
9 Vgl. P. Claudel, XXXIIe Entretien radiophonique avec J. Amrouche. Januar 1952, zit. n.: Amitié Charles Péguy 165 (Januar 1971), 35 f.
10 C. Péguy, Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung (Christliche Meister, 9). Freiburg i. Br. 31993, 37.
11 Vgl. ebd., 54; 49.
12 Vgl. ebd., 55.
13 So in C. Péguy, Das Geheimnis, 91 [s. Anm. 6].
14 C. Péguy, Lettres et entretiens. Paris 1954, 174 f.
15 Ebd., 141 f.
16 C. Péguy, Darbringung des Landes Beauce an Unsere Liebe Frau von Chartres, in: ders., Die letzten großen Dichtungen. Hrsg. v. O. von Nostitz. Übertr. v. O. von Nostitz u. F. Kemp. Wien 1965, 93.
17 C. Péguy, Bittgebet, in: ders., Die letzten großen Dichtungen, 115 [s. Anm. 16].
18 C. Péguy, Lettres et entretiens, 215 [s. Anm. 14].
19 C. Péguy, Brief an Charlotte Péguy vom 16. August 1914, in: Amitié Charles Péguy 91 (2000), 332.
20 C. Péguy, Brief an Blanche Bernard vom 16. August 1914, in: Amitié Charles Péguy 161 (August 1970), 16.
21 So die Deutung von L.-M. Pocquet du Haut-Jussé, Charles Péguy et la modernité. Essai d’interpretation théologique d’une œuvre littéraire. Perpignan 2010, 32 f.
22 C. Péguy, Darbringung, 93 [s. Anm. 16].
23 C. Péguy, Nota Conjuncta. Übertr. v. F. Kemp. Wien 1956, 90 f.; 96 (Übertr. vom Autor bearbeitet).
Charles Péguy und die Hoffnung
Alljährlich, Mitte Juni, treffen sich Student(inn)en aus vielen Ländern der Erde in Paris, um von dort aus zu einer Wallfahrt nach Chartres aufzubrechen. Im Juni 1912 hat Charles Péguy, eine der inspirierendsten Gestalten der neueren französischen Kirche, ja der ganzen Kirche, seine eigene Fußwallfahrt von Paris nach Chartres gemacht. Seinen kleinen Sohn Pierre, der an Paratyphus erkrankt war, trug er dabei in eine Decke eingeschlagen in seinen Armen oder auf seiner Schulter. In Chartres, bei der Muttergottes, wollte er für die Genesung seines kleinen Pierre beten. In unvergesslichen Gedichten hat Charles Péguy seine Landschafts- und Wallfahrtserfahrungen festgehalten (La tapisserie de Notre Dame: Présentation de Paris à Chartres; Présentation de la Beauce à Notre Dame de Chartres; Les cinq prières dans la Cathédrale de Chartres). Er war ein Mann des Wortes, ein Dichter, dessen Werk mehrere umfangreiche Bände füllt. Sein vielleicht schönstes und bleibend wichtigstes Buch trägt den Titel Le porché vers la deuxième vertu – „Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung“1. Es wurde 1910, also vor gut hundert Jahren, geschrieben. Charles Péguy hat uns in diesem Buch ein auch heute noch tief bewegendes Zeugnis seiner Hoffnung hinterlassen.
Als Charles Péguy sein Buch über die Hoffnung schrieb, konnte er nicht ahnen, dass nur noch eine kurze Lebenszeit vor ihm liegen sollte. Am 5. September 1914, zu Beginn der Marneschlacht, ist er als Leutnant des französischen Heeres in einem Gefecht bei Villeneuve in der Nähe von Paris gefallen. Nur einundvierzig Jahre alt ist er geworden. Der Tod in den ersten Tagen des Ersten Weltkriegs bedeutete den abrupten Abbruch eines Lebens, das vom Anfang bis zum Ende ein Zeugnis der Hoffnung gewesen ist – trotz der Brüche und Verwerfungen, die ihm nicht erspart geblieben sind.
In den letzten fünf oder sechs Jahren seines Lebens erfuhr sich Charles Péguy mit einer Hoffnung beschenkt, die über jede Grenze hinausreicht, die wir endlichen und fehlbaren Menschen immer wieder aufrichten. Und indem er von dieser grenzenlosen Hoffnung in Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung Rechenschaft gibt, mutet er uns zu und lädt er uns ein, in dieselbe Weite einzutreten.
Halbierte Hoffnung I
Für Charles Péguy bedeutet die Erfahrung der Grenzenlosigkeit der Hoffnung eine Befreiung aus einer doppelten geistig-geistlichen Gefangenschaft, unter der er lange zu leiden gehabt hatte. Beide Male sah er sich einer ihn beengenden Halbierung der Hoffnung ausgesetzt. Was ist damit gemeint? Einer ersten Form halbierter Hoffnung begegnete das Kind und der Schüler im Katechismus- und Religionsunterricht. Dieser stand damals im Zeichen jansenistischer, letztlich auf Augustinus zurückgehender Grundentscheidungen. Sie betreffen die Lehre von der doppelten Vorherbestimmung des Menschen. Nach dieser Lehre bestimmt Gott von Ewigkeit her die einen Menschen unfehlbar zum Heil, andere Menschen bestimmt er ebenso unfehlbar zur Verdammnis. Gott selbst spaltet die Menschheit in die Gruppe derer, die in begründeter Weise Hoffnung auf Heil und ewiges Leben in sich tragen, und die Gruppe derer, die von einer solchen Hoffnung vielleicht irrtümlicherweise bewegt sind, in Wirklichkeit aber keinen Grund zur Hoffnung auf Heil und ewiges Leben haben. Hier ist die Hoffnung halbiert; denn sie steht nach Gottes Willen nur einigen offen, während sie anderen vorenthalten bleibt. Der junge Charles Péguy fühlte sich angesichts dieser Lehre, die ihm im Katechismusunterricht, aber auch in einer entsprechenden kirchlichen Verkündigung und Lebenspraxis begegnete, verwirrt und verängstigt, bis dass er schließlich gegen sie aufbegehrte und siebzehn-achtzehnjährig die Kirche, die so etwas vertrete, verließ. Wenn es schon zwei Menschengruppen gebe, so ziehe er es vor, aus Solidarität auf der Seite der Verdammten zu sein. Im Zusammenhang mit diesen inneren und dann nach außen tretenden Konflikten ist in Charles Péguy die Ahnung zur Evidenz gereift, dass Hoffnung „Hoffnung für alle“ sein muss. Hoffnung und Solidarität gehören zusammen. Andernfalls bleibt die Hoffnung halbiert und hebt sich auf.
Halbierte Hoffnung II
Erfüllt von solchen Gedanken suchte Charles Péguy nun nach einer neuen geistigen Heimat. Nach unruhigen Jahren, die er als Soldat und dann als Student der Literaturwissenschaften verlebte und in denen er ein Drama über Jeanne d’Arc, zu Papier brachte, fand er sie in der sozialistischen Partei,