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Geist & Leben 4|2020. Echter Verlag
Читать онлайн.Название Geist & Leben 4|2020
Год выпуска 0
isbn 9783429064709
Автор произведения Echter Verlag
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Notre Dame
Höchste Bedeutung bekommt die Mutter Jesu jedoch im Gedichtezyklus La Tapisserie de Notre Dame, der mit der Biographie Péguys untrennbar verbunden ist. Ausgangserfahrung dieses Gedichtes ist die Wallfahrt des Poeten von Paris nach Chartres im Jahr 1912, die für ihn einen entscheidenden Wendepunkt darstellt. Die Wallfahrt verbindet sich mit zentralen Gedanken Péguys, der als homme en marche die Unruhe menschlichen Lebens und, auf dem Hintergrund der Philosophie Henri Bergsons, das Leben als stetige Bewegung hervorhebt.
Im Jahr 1912 ist die Situation Péguys angespannt. Neben finanziellen Schwierigkeiten ist vor allem die bleibende Faszination seiner (platonischen) Liebe Blanche zu nennen, die zwar schon 1910 geheiratet hatte, für die er jedoch immer noch tiefe Gefühle empfindet. Ein weiterer Schlag in diesem Jahr ist die Krankheit seines Sohnes Pierre, der im Frühjahr an Typhus und im August an Diphterie erkrankt. Nicht zuletzt ist es diese Krankheit, die bei Péguy aufgrund der fehlenden Taufe der Kinder die alte Furcht vor der Hölle weckt. Ein erster Versuch, die Verzweiflung zu durchbrechen, war 1911 schon Le Porche du Mystère de la deuxième vertu, in dem er die Tugend der Hoffnung moduliert. 1912 nimmt Péguy seine Sorgen zum Anlass für die Wallfahrt zum alten Marienheiligtum, das in besonderer Weise das christliche Frankreich repräsentiert. Im Rückblick berichtet er darüber im Gespräch mit Joseph Lotte: „Ich habe meine Wallfahrt nach Chartres gemacht. Von nun an jedes Jahr, das steht fest. (…) Es wäre schön, auf einer Straße zu sterben und auf einmal in den Himmel zu kommen. (…) Unsere Liebe Frau [Notre Dame] hat mich vor der Verzweiflung bewahrt. Das war die größte Gefahr. (…) Stell dir vor, ich konnte während 18 Monaten nicht das Vaterunser sagen (…) ‚Dein Wille geschehe‘, das konnte ich nicht sagen. (…) Verstehst du das? Ich konnte nicht zu Gott beten, weil ich seinen Willen nicht akzeptieren konnte. (…) Deshalb habe ich zu Maria gebetet. Die Gebete zu Maria sind Gebete der Reserve. (…) In der ganzen Liturgie gibt es nicht ein einziges, nicht eines, verstehst du, dass der bedauerlichste Sünder wirklich sagen könnte. Im Mechanismus des Heils ist das Ave Maria die letzte Zuflucht. Mit ihm kann man nicht verloren gehen.“14 Auch die Wallfahrt selbst, für deren 144 km sich Péguy drei Tage Zeit nahm und deren Route sich im Gedichtezyklus nachzeichnen lässt, beschreibt Péguy eindrücklich: „Man sieht den Turm von Chartres von 17 km aus über der Ebene. (…) Sobald ich ihn sah, war es wie eine Ekstase. Ich spürte nichts mehr, weder meine Erschöpfung noch meine Füße. All meine Unreinheiten sind mit einem Mal abgefallen. Ich war ein anderer Mensch. Ich habe in der Kathedrale am Samstagabend eine Stunde gebetet. Ich habe am Sonntagmorgen vor dem Hochamt eine Stunde gebetet. Beim Hochamt war ich nicht dabei. Ich hatte Angst vor der Menge. (…) Ich habe gebetet, mein Lieber, so wie ich noch nie gebetet habe.“15
Die Gedichte des Zyklus offenbaren, dass Péguy in Chartres Klärung für seine Fragen und Sorgen findet. So beschreibt Péguy im ersten Teil, Présentation de la Beauce à Notre Dame de Chartres (Darbringung der Beauce an Unsere Liebe Frau von Chartres), Maria als personifizierte Kathedrale, die über dem Ozean der Weizenfelder in der Ebene der Beauce als Meeresstern festen Halt gibt. Maria ist in der Kathedrale Ausdruck der Fruchtbarkeit Frankreichs, aber als inaccessible reine, Turm Davids und „festeste Ähre“ auch unerschütterlicher Fixpunkt des persönlichen Leidenswegs des Dichters und der französischen Geschichte überhaupt. Die Wallfahrt wird aber auch zum reinigenden Gericht. Als der Pilger die flache Ebene betritt und unter der sengenden Sonne fortschreitet, deutet er diese Erfahrung als Entblößung vor den Augen Gottes, als Abstreifen aller Verkleidung. Nur die am Horizont aufstrahlende Majestät der Notre Dame kann den Wanderer aus dieser Beklemmung erlösen. Zur Erhabenheit der Königin mischt sich schließlich am Ende, in einer Art Ahnung des baldigen Todes, die Bitte um Fürsprache am Ende des eigenen Lebens und um Barmherzigkeit, in der auch eine gewisse Sehnsucht nach den Sakramenten deutlich wird:
Wenn sie uns betteten im Grabesschoße
Wenn nach der Messe unser Sarg sich senkte,
Denk, Königin, die uns Verheißung schenkte,
Der langen Wanderschaft im Lande Beauce.16
Péguys Versöhnung
Wie das Gespräch Péguys mit Joseph Lotte zeigt, erfährt der Dichter im Gebet in der Kathedrale eine Art Versöhnung seiner Situation und seiner Beziehung zu Blanche. Diese Erfahrung hält er in vier weiteren Gedichten, Les quatre prières dans la Cathédrale de Chartres (Die vier Gebete in der Kathedrale von Chartres), fest. Die damit verbundenen Motive der Treue, des Bewahrens der Ehre und des Anvertrauens treten vor allem im zweiten und dritten Gebet deutlich hervor:
Wir bitten nicht, dass nach den Irrefahrten
Die Seele wiederum ihr Glück erreiche.
Herrin, genug, dass wir die Ehre wahrten!
Herrin der Meere, Hafen aller Not
Um eins nur bitten wir als Sühnepreis,
Wir möchten, Königin, auf dein Geheiß,
Treue bewahren, stärker als der Tod.17
Péguy pilgerte zumindest zwei Mal zum Marienheiligtum nach Chartres. Noch im Mai 1914, kurz vor seinem frühen Tod, schreibt er an Joseph Lotte: „Ich will nicht sagen, dass wir uns nicht einmal in Chartres treffen. Dort ist es, wo ich mein Herz gelassen habe und ich glaube, dass ich mich dort begraben lassen werde. Ich habe dort unglaubliche Gnaden empfangen.“18 Als der Dichter schließlich zum Militärdienst eingezogen wird und voller Begeisterung, aber nicht ohne eine gewisse Ahnung seines Schicksals, in den Krieg zieht, sind es wieder die Frauen, die eine entscheidende Rolle spielen. So schreibt er an seine noch immer nicht gläubige Frau Charlotte: „Wenn ich nicht wiederkomme, dann geht jedes Jahr nach Chartres für mich. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was wir diesem Heiligtum verdanken.“19 Und am selben Tag schreibt er Blanche, die ebenfalls keine Christin ist: „Ich werde euch vielleicht eines Tages sagen, wo ich die Messe von Mariä Himmelfahrt gehört habe. Wenn ich nicht wiederkomme, geht jedes Jahr nach Chartres für mich. (…) Was auch passiert, ewige Treue, aber eine Treue ohne Trauer. Gott hat mir schon so viel geschenkt.“20 Hinzu gibt er ihr die lateinischen Texte des Vaterunsers, des Ave Maria und des Salve Regina und bittet sie, diese Gebete jeden Tag für ihn zu beten. Wenige Wochen später, am 5. September 1914, fällt Péguy auf dem Schlachtfeld an der Marne. Die letzten Briefe lassen eine Versöhnung erahnen, die maßgeblich mit dem Festtag der Mutter Jesu zusammenhängt, mit dem Besuch der Messe und wahrscheinlich mit der Beichte.21 Die Verse des Dichters an Maria wirken wie eine Art Prophetie:
Wenn Strick wir abgestreift und Pilgerkleid,
Wenn uns das letzte Zittern übermannte,
Wenn unser Mund den letzten Seufzer sandte,
Gedenke unser in Barmherzigkeit.
Zuflucht des Sünders, nur um eins wir flehen:
Wollst uns den letzten Platz der Büßer schenken,
Dass wir in Tränen unser Los bedenken
Und deinen jungen Glanz von ferne sehen.22
Wunden als Einfallstore der Gnade
Die inneren Kämpfe und das berührende Ende Péguys sind von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Glauben begleitet. Sein Bild Marias ist sowohl von der gottgewirkten Vollkommenheit als auch von der irdisch-existenziellen Nahbarkeit gezeichnet. Maria wird damit zum Sinnbild einer Erlösung, die zwischen dem Zeitlichen und Ewigen, zwischen dem Menschlichen und Göttlichen ausgespannt ist und nur dann erlösend wirken kann, wenn sie diese beiden Pole vollkommen vereint. Péguy, der sicherlich nicht zu den einfachen Charakteren gehörte, war ein Mensch, der sich nicht mit dem Vorläufigen zufriedengab, sondern in das Ringen mit Gott einstieg. Seine Beziehung zu Maria, deren Bild von diesen Polen geprägt ist, macht