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Geist & Leben 4|2020. Echter Verlag
Читать онлайн.Название Geist & Leben 4|2020
Год выпуска 0
isbn 9783429064709
Автор произведения Echter Verlag
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Ein Leben in Bewegung
Péguy wird 1873 in Orléans in eine Familie geboren, in der die christliche Praxis nicht großgeschrieben wird. Sein Vater stirbt im gleichen Jahr. Der kleine Charles wird von seiner Mutter, einer Stuhlflechterin, und seiner Großmutter in einfachen Verhältnissen großgezogen. Die weiblichen Bezugspersonen seiner Kindheit prägen ihn für sein Leben, auch weil schon seine Großmutter ledig geblieben war.2 Nach Schulzeit und Militärdienst wird er 1894 in die Pariser École normale supérieure aufgenommen und verliert dort während seines Studiums den Glauben. Ausschlaggebend hierfür ist, dass er den Katholiken Heuchelei vorwirft, aber auch eine andere Schwierigkeit, nämlich die Hölle. Diese Frage beschäftigt ihn schon als Kind und bleibt ein Stachel im Fleisch: „Das, was uns (…) am meisten fremd ist, und, ich werde es wörtlich sagen, was uns am meisten verhasst ist, was barbarisch ist, das, wozu wir niemals unsere Zustimmung geben werden, was die besten Christen verfolgt hat, weswegen die besten Christen ausgewandert sind oder sich still und heimlich abgewandt haben, (…) das ist dies: die seltsame Kombination aus Leben und Tod, die wir Verdammung nennen (…).“3
In Paris lernt Péguy das Elend der Arbeiterschaft kennen, schließt sich den Sozialisten an und heiratet 1897 Charlotte, die Schwester eines Freundes. Mit dem Sozialismus verbindet Péguy vor allem die Frage nach der Cité harmonieuse (harmonisches Gemeinwesen) und der Integration eines jeden Menschen in die Gesellschaft. Während dieser Zeit entsteht sein erstes Drama über Jeanne d‘Arc, jene Figur, die seine späteren Mysterienspiele inspirieren wird. Schließlich erschüttert die Dreyfus-Affäre die französische Öffentlichkeit. Péguy schlägt sich auf die Seite der Verteidiger des jüdischen Hauptmanns. Er gründet eine eigene sozialistische Buchhandlung und beginnt im Jahr 1900 mit der Veröffentlichung der Cahiers de la Quinzaine, in der verschiedenste Beiträge zu Literatur, Politik und sozialen Themen erscheinen. 1907 berichtet Péguy in einem Gespräch mit Jacques Maritain darüber, den Glauben wiedergefunden zu haben und macht seine Hinwendung 1910 mit der Veröffentlichung von Le Mystère de la Charité de Jeanne d’Arc bekannt. Überraschenderweise spricht Péguy nie von zwei „Bekehrungen“, sondern kennt nur eine conversion, nämlich jene zum Sozialismus. Das Wiederfinden des Glaubens selbst hat für Péguy den Charakter einer ständigen Vertiefung (approfondissement) seiner sozialistischen Voraustreue (préfidélité).4
Allerdings bringt die neue Glaubensgewissheit beträchtliche Probleme mit sich. Péguy, der auf Wunsch seiner Frau nur zivil verheiratet war und seine Kinder nicht gegen den Willen ihrer Mutter taufen lassen will, muss sich von nun an als Exkommunizierter betrachten. Verstärkt wird diese Krise noch durch die Initiative seines frisch bekehrten Freundes Maritain, der mehrmals versucht, Péguy wieder „auf den rechten Lebensweg zurückzubringen“, was in einem Eklat endet, der den Zusammenhalt von Ehe und Familie des Literaten in Gefahr bringt. Belastend ist für Péguy der daraus entstehende Status aus Gemeinschaft und Nichtzugehörigkeit, der sich besonders darin zeigt, dass er zwar betet, aber weder die Beichte noch die Eucharistie empfangen kann. Trotzdem bleibt der aus dem Sozialismus stammende Gedanke der Gemeinschaft für ihn wegweisend, wie Hauviette im ersten Mysterienspiel sagt: „[Man muss seine Seele] retten, so wie man einen Schatz verliert. Indem man sie ausgibt. Wir müssen uns alle zusammen retten! Zusammen beim lieben Gott ankommen! (…) Was würde er wohl von uns denken, wenn wir ohne die anderen ankämen, ohne die anderen heimkehrten?“5
Schmerzensmutter und Mutter der Hoffnung
In diese Zeit fällt seine intensive Beschäftigung mit der Mutter Jesu. Maria wird fortan für Péguy, nicht zuletzt wegen der fehlenden sakramentalen Teilnahme, zur Mittlerfigur. Sie reiht sich ein in eine Vielzahl von Frauengestalten, die in Péguys Werk eine zentrale Stellung einnehmen: Jeanne d’Arc, Véronique, Clio, Ève, Geneviève. Im Hintergrund der Beziehung zu Maria stehen aber auch ganz reale Lebensprobleme: Péguy verliebt sich in eine jüdische Frau, Blanche Raphaël, die Schwester eines Mitarbeiters, die eines seiner schönsten poetischen Werke inspirierte, die Ballade du cœur qui a tant battu.6 Hinzu kommen finanzielle Probleme und die Krankheit seiner Kinder, ein Thema, das er in den Mysterien-spielen verarbeitet. Während Péguy mit Gott aufgrund seiner religiösen Erziehung vor allem eine strenge Gerechtigkeit verbindet, erhält Maria die Züge einer gütigen Fürsprecherin: „[Gott spricht:] Meist sind wir verschiedener Meinung. Weil sie stets für Barmherzigkeit ist, bin ich notgedrungen für die Gerechtigkeit.“7
Die Anziehungskraft Marias, deren Anrufungen Ave Maria, Salve Regina und Stabat Mater zu Péguys Lieblingsgebeten gehören, leitet sich vorwiegend aus dem Gedanken der Inkarnation ab. Das Christentum als histoire arrivée à la chaire (fleischgewordene Geschichte) wird vor allen Dingen als „Frucht der Erde“ und als Verbindung von Fleisch und Geist gesehen. Unter diesem Gedanken erscheint Maria als eine zentrale Figur im Geschehen der Passion, die Péguy in Le Mystère de la charité de Jeanne d’Arc einzufangen versucht. In Anspielung an Péguys eigene Rolle innerhalb seiner Familie wird die Mutter Jesu hier in ganz menschlicher Perspektive als Mutter eines Sorgenkindes beschrieben, dessen Mission gescheitert ist. Maria steht hier in der Achse der Inkarnation als die ganz Schöne und Erhabene und zugleich als die, die dem ganzen Elend der Welt ausgesetzt ist: „Er war ein guter Sohn für Vater und Mutter. Ein guter Sohn für seine Mutter Maria. (…) Sie war stolz, sie war glücklich, solch einen Sohn zu haben. (…) Bis zu dem Tage, an dem seine Sendung begann. Doch seit seine Sendung begonnen hatte, rühmte sie wohl nicht mehr. (…) Sie weinte, sie weinte, sie war davon hässlich geworden. Sie, die größte Schönheit der Welt. Die mystische Rose. Der Turm aus Elfenbein. Turris eburnea. Die Königin aller Schönheit. In drei Tagen war sie hässlich geworden.“8
Diese Darstellung Marias in Péguys erstem Mystère erfuhr schon zu seinen Lebzeiten viel Kritik. Zur Freude über seine Konversion mischten sich große Vorbehalte gegenüber seiner Interpretation des Christentums. Vor allem Paul Claudel verurteilt die Darstellung Marias, die allzu sehr der Stuhlflechterin gleiche, die Péguys eigene Mutter war.9 Péguys zweites Mysterienspiel Le porche du Mystère de la deuxième vertu (Das Tor zum Mysterium der zweiten Tugend) führt diese Darstellung fort. Maria erscheint darin zunächst als Schutzpatronin, der ein Holzfäller und Winzer seine kranken Kinder anvertraut: „Er hatte genau begriffen, dass es so nicht weitergehen konnte. (…) Er konnte nicht leben mit Kindern, die krank sind. Da hatte er einen Streich vollführt (einen Handstreich), er muss jetzt noch lachen, wenn er daran denkt. (…) Und seelenruhig legt er sie euch. Durch ein Gebet legt er sie euch. Seelenruhig zwischen die Arme derer, die beladen ist mit allen Schmerzen der Welt. Und deren Arme schon so vollgeladen sind. Denn der Sohn übernahm alle Sünden. Aber die Mutter übernahm alle Schmerzen.“10
Maria wird gerade deshalb als vollkommen und einzigartig bezeichnet, weil sie als Immaculata den Schnittpunkt zwischen „Fleisch“ und „Reinheit“, zwischen Unversehrtheit und Anfechtung bildet. Hierzu tritt in diesem Mysterienspiel aber noch ein zusätzlicher Aspekt, nämlich die Hoffnung. Die Mutter Jesu zeigt sich als „die Mutter des Guten Hirten“, d.h. „des Mannes, der die Hoffnung gekannt hat“ und die deshalb über allen anderen Heiligen steht.11 Wenn vorher von der gealterten Mutter die Rede war, so werden Hoffnung und Reinheit hier ineinander verwoben: Maria ist die ganz Junge, die, die alle Heiligen an Jugend übertrifft. Péguy unterstreicht diesen Aspekt durch die Betonung von Marias jüdischer Herkunft. Mitbeeinflusst durch die antisemitische Stimmung im Umkreis der Dreyfus-Affäre, stellt sich Péguy diesen Strömungen entgegen und inszeniert sie