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Ein Quantum Zeit. Volkmar Jesch
Читать онлайн.Название Ein Quantum Zeit
Год выпуска 0
isbn 9783831257713
Автор произведения Volkmar Jesch
Жанр Математика
Издательство Bookwire
Sie ließ nicht locker: »Ja, und die Unfallgegner sagen sich: ›Was für ein dummer Zufall.‹«
Er wandte ein: »Ich gebe ja zu, dass die Begriffe Zufall und Wahrscheinlichkeit eng verknüpft sind. Ich möchte sie aber grundlegend unterscheiden.« Als er ihr fragendes Gesicht sah, bemüßigte er sich, hinzuzufügen. »Nehmen wir ein Beispiel aus der atomaren Ebene, ein Beispiel, das mit dem Begriff der sogenannten ›Halbwertszeit‹ verbunden ist. Radioaktive Stoffe wie Uran zerfallen, und die sogenannte Halbwertszeit ist der Zeitraum, in der die Hälfte des Stoffes in kleinere Bestandteile zerfallen ist. In diesem Fall ist es sehr wahrscheinlich, dass irgendein Atom des radioaktiven Elements in der nächsten Zeit zerfällt, den entsprechenden Zeitraum kann man aufgrund der Halbwertszeit berechnen, aber es ist rein zufällig, welches Atom das ist.«
»Schönes Beispiel. Können Sie noch mehr zum Zufall sagen?«, wollte sie wissen.
»Ich meine, ja. Die Geschehnisse in der Welt sind regelmäßig kausal miteinander verknüpft, bauen aufeinander auf, wie wenn ein Haus gebaut wird, Stein auf Stein. Schauen Sie von heute zurück in die Vergangenheit, sind grundsätzlich die früheren Ereignisse ursächlich für die folgenden. Der durchaus rätselhafte Zufall hat demgegenüber keine kausale Erklärung und beruht nicht auf einer bestimmten Gesetzmäßigkeit. Er passiert, und es gibt keinen Grund dafür, dass er passiert. Er hat keine kausale Ursache.
Alle vorherigen Geschehnisse bis zu Ihrem Unfall waren kausal. Nicht nur die Entscheidungen der späteren Unfallgegner waren dabei ausschlaggebend, sondern auch viele Entscheidungen derjenigen Fahrer, denen die späteren Unfallgegner an diesem Tag begegnet sind oder hätten begegnen können, wenn Sie eine andere Entscheidung getroffen hätten.«
Dann setzte er noch einen oben drauf: »Und Unfall, was heißt schon Unfall. Ihnen ist doch kein richtiger Unfall passiert.« Er wurde fast ein wenig ärgerlich. »Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren kollidierte die Erde mit einem anderen Planeten, der beim Einschlag zerbrach. Der Aufprall war so enorm, dass auch ein Teil der Erde herausgeschlagen wurde und fortan mit den Resten des Impaktors um die Erde kreiste. Aus diesen Teilen entstand später der Mond, wie die Analyse des Mondgesteins bestätigt, das von den Astronauten der Apollo-11-Mission und späteren Mondmissionen mitgebracht wurden. Dem Mond haben wir es vermutlich auch zu verdanken, dass überhaupt Leben auf der Erde entstehen konnte.1 Stabilisiert seine Gravitationskraft doch die Erde und hat entscheidenden Einfluss auf ihre Rotationsachse, deren Neigung wiederum die Jahreszeiten bestimmt.2 Bei der Entstehung des Mondes hat es richtig gerumst. Das nenne ich einen Unfall!«
Sie zuckte etwas zusammen, doch bevor sie sich verteidigen konnte, redete er schon weiter.
»Es ist ja richtig, dass es Besseres gibt, als einen Unfall zu erleben. Aber Sie haben ihn überlebt und nur kleine Schrammen davongetragen. Sie müssen das globaler sehen. Irgendwann erlebt fast jeder Mensch einen Unfall, also seien Sie froh, dass Ihrer so glimpflich abgelaufen ist. Denken Sie einmal darüber nach, dass es viel unwahrscheinlicher ist, dass Sie überhaupt hier sind. Es musste eine unheimlich lange Kette positiver Ereignisse eintreten, damit Sie jetzt existieren.«
»Meinen Sie jetzt die Tatsache, dass es aus den Abermillionen von …«, sie stockte und ärgerte sich, weil dieser Gedanke so unvermittelt gekommen war.
Ungerührt vollendete er ihren Satz: »… Spermien gerade ›Ihr‹ Spermafaden geschafft hat, die Eizelle Ihrer Mutter zu befruchten? Das ist allenfalls ein Aspekt, und es ist wahrlich ein wirklich kleiner. Für Ihre Existenz sind weit mehr Ereignisse verantwortlich, auch solche, die gerade nicht passiert sind.
Ihre Eltern mussten sich zum richtigen Zeitpunkt treffen und lieben lernen und Ihre Mutter bis zu ihrer Geburt überleben, das Gleiche gilt für Ihre Großeltern, Ihre Urgroßeltern und so weiter.« Er erhob seine Stimme: »Wissen Sie, wie viele Menschen seit der Zeitenwende überleben mussten, damit Sie entstehen konnten?«
Er beantwortete die Frage selbst: »Wenn man der Einfachheit halber davon ausgeht, dass die Frauen durchschnittlich mit 25 Jahren Kinder bekommen, dann wären das bei 2.000 Jahren 80 Generationen. Da sich die Zahl Ihrer Vorfahren in jeder Generation verdoppelt hat, nämlich zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern und so weiter, dann wären das 280 Vorfahren. Rein rechnerisch etwas mehr als eine Quadrillion Menschen.
So viele Menschen kann es gar nicht gegeben haben, werden Sie denken und haben natürlich recht. Seit Christi Geburt haben ungefähr 100 Milliarden Menschen auf der Erde gelebt.3 Tatsächlich sind ganz viele Ihrer Vorfahren untereinander eine Beziehung eingegangen. Aufgrund der dünnen Besiedlung auf dem Lande wurde früher maximal ins nächste Dorf geheiratet. Trotzdem gibt es weit mehr Menschen als Vorlauf für unsere Existenz, als wir uns gemeinhin vorstellen. Zudem tummelten sich Millionen Jahre lang andere Lebewesen bis hin zum Einzeller auf der Erde, noch bevor es Menschen gab. Alle gehören sie zu unseren Vorfahren. Wäre nur einer in dieser unendlich langen Kette zu früh gestorben, um einen Nachkommen – einen Ihrer Ahnen – zu haben, gäbe es Sie nicht.«
Er stellte ihr Weltbild gerade gründlich auf den Kopf. Ihr heutiges Dasein von so vielen Vorgängen in der Vergangenheit abhängig zu machen, war ihr noch nie in den Sinn gekommen.
»Vielleicht war auch Ihr ›Unfall‹ entscheidend für Ihre Zukunft«, fuhr er fort. »Wissen Sie es? Vielleicht es ist das Beste, was Ihnen passieren konnte, weil Sie damit jetzt hier sind und nicht an einer anderen Stelle irgendwo auf der Erde, wo Ihnen vielleicht große Gefahr droht. Und vielleicht treffen Sie aufgrund des Unfalls auch eine Entscheidung erst in der Zukunft, sagen wir bei der Fahrt in den nächsten Urlaub, die Ihnen dann das Leben rettet.«
»Oder es ist genau umgekehrt«, warf sie ein. »Morgen brennt das Krankenhaus ab, und ich komme dabei um.« Das war zwar eine sarkastische Bemerkung, aber eigentlich war sie ihm dankbar dafür, dass er sie aus ihrer Lethargie geholt hatte und auf andere Gedanken brachte.
»Zwar unwahrscheinlich, aber im Prinzip völlig richtig«, antwortete er. »Wahrscheinlichkeit ist ein Begriff, der mit der Zukunft verknüpft ist. Dass in jedem Moment das wahrscheinlichste Ereignis der Zukunft eintritt, bedeutet selbstredend nicht, dass es nur eine wahrscheinliche Möglichkeit gibt, was im nächsten Moment passieren kann. Es kann auch mehrere, ja ganz viele, gleich wahrscheinliche Möglichkeiten geben.
Bis kurz vor Eintritt eines Ereignisses waren verschiedene Möglichkeiten des Geschehensablaufes wahrscheinlich, danach nicht mehr. Wenn etwas passiert, endet die Wahrscheinlichkeit und reißt die gerade noch bestehenden, verschiedenen Möglichkeiten eines andersartigen Geschehensablaufes in den Abgrund.«
Er merkte, wie sie zusammenzuckte. Vielleicht war seine Aussage doch etwas zu theatralisch. Er präzisierte sie daher etwas nüchterner: »Wahrscheinlichkeit ist ein mathematisches Modell dafür, wie oft jedes Ergebnis anteilig eintreten sollte, wenn man den Vorgang beliebig oft unabhängig und unter gleichen Bedingungen wiederholen könnte. Wahrscheinlichkeit kann man berechnen.«
»Den Zufall also nicht?«, wandte sie ein.
»Nein, den konkreten Vorgang, der von einem Zufall ausgelöst wird, kann man nicht berechnen. Denn von einem zufälligen Ereignis spricht man, wenn die Möglichkeit besteht, dass ein Vorgang zu mehreren Ereignissen führen kann, niemand aber vorhersagen kann, welches Ereignis eintritt und bei Wiederholen des Vorgangs mit gleichen Ausgangsbedingungen ein völlig anderes oder vielleicht auch überhaupt kein Ereignis eintritt.«
Irgendwie konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, sie und ihr Gegenüber diskutierten nicht auf der gleichen Ebene. Ihr Widerspruchsgeist war aber noch nicht erloschen, und sie beschloss, zum Gegenangriff überzugehen.
»Ok, dann drehen wir die Zeit zurück und versetzen mich in den Zustand kurz vor den Unfall. Gleiche Ausgangsbedingungen. Dann werden wir sehen, ob etwas anderes passiert, ob der Unfall Zufall war oder ob das Geschehen den Grundsätzen der Wahrscheinlichkeit gehorcht.«
Ihr war ganz plötzlich dieser