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werden sich meine Freunde aber freuen«, sagte sie. »Da sind einige Experten dabei, die das Tiefschneefahren lieben. Und im Neuschnee lässt sich besonders gut wedeln.«

      »Na ja«, warf er ein. »Der Schnee wird wohl eher unwetterartig herunterkommen. Die Wetterlage ist nicht gerade konstant für die nächsten Tage. Sehen Sie es positiv, und freuen Sie sich, dass Sie hier so gut untergebracht sind und nicht unbedingt nach draußen müssen.«

      Doch die Erinnerung an den Unfall war zu frisch. Sie war immer noch in ihren trüben Gedanken gefangen, und so hörte sie sich auf einmal sagen:

      »Ich kann mich nicht so richtig freuen. Viel schlimmer als die paar Schrammen ist es, dass mein Auto kaputt ist. Ich habe gestern Abend auch wirklich Pech gehabt. Ich bin noch nicht einmal so weit gekommen, wie die anderen, die sich erst beim Skifahren verletzen. Ich wurde schon auf dem Weg dahin in einen Unfall verwickelt. Ich bin schon ein Unglücksrabe!«

      »Denken Sie nicht so«, warf er ein, »bei diesem Wolkenbruch war es nicht unwahrscheinlich, dass ein Unfall passiert. Seien Sie froh, dass er so glimpflich abgelaufen ist, wenn Sie schon einen Unfall erleben mussten.«

      Doch so einfach konnte sie ihren Gedankengang nicht verlassen: »Ich gebe es ja zu: Ich hadere mit meinem Schicksal.« Sie erwartete seinen Zuspruch. In ihr keimte der Wunsch, dass er ihren Schicksalsschlag bestätigte. Das hätte ihr gutgetan. Doch es kam anders.

      Schicksal

       Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.

       Aristoteles,

       griechischer Philosoph

      Ihm war das zu viel der Wortkrämereien, zu viel der unheilschwangeren Wortwendungen, und so begann er, ihr seine Sicht der Dinge darzulegen:

      »Schicksal! Welch ein wunderbarer Begriff! So geheimnisvoll, rätselhaft, so unerklärlich und mysteriös. Und doch außerordentlich unpassend für diesen Vorgang. Nein, für jeden Vorgang. Mehr noch, völlig fehl am Platze.

      Das Geschehene mit dem Begriff ›Schicksal‹ in Verbindung zu bringen, würde bedeuten, den Unfall entweder als einen nicht beeinflussbaren Vorgang darzustellen oder auf eine höhere Macht zurückzuführen – höhere Macht verstanden als eine Institution, die unsere Geschicke lenken oder auch nur Einfluss nehmen kann. Beides wäre grundlegend falsch. Der Gang unserer Welt ist nicht vorbestimmt. Das Geschehene war beeinflussbar. Es gibt auch keine höheren Mächte in Gestalt bestimmter Personen. Gott an dieser Stelle einmal ausgenommen; darüber zu urteilen, fehlt mir die Kompetenz.« Er machte eine kurze Pause. »Auch Pech gibt es nicht. Es gibt nur Gesetzmäßigkeiten.«

      Ihr Widerspruch regte sich. Was bildete sich der Mann eigentlich ein? Ihr gefiel der Gedanke, dass das Schicksal sie ereilt hatte. Die Krankenschwester hatte ihr gesagt, dass jemand von hinten auf ihr Fahrzeug aufgefahren sei. Dafür konnte sie nun wahrlich nichts. Nur weil sie eine Frau war, sollte sie an dem Unfall schuld sein? Sollte sie ihrem Besucher überhaupt antworten, sich auf ein weiteres Gespräch mit ihm einlassen? Aber sie hatte lange über ihre Situation nachgegrübelt, jetzt musste das Geschehene mit Worten verarbeitet werden. Und so hörte sie sich sagen, fast beschwörend:

      »Für mich war der Unfall ein nicht beeinflussbarer Vorgang. Ich konnte ihn nicht verhindern. Es war ein Auffahrunfall.« Bewusst simplifizierte sie den Vorgang auch sprachlich: »Mir ist jemand von hinten in den Kofferraum gerauscht. Das war echt Pech. Manchmal ereilt einen so ein Missgeschick. Zufällig bin ich vor meinem Unfallgegner gefahren, als der nicht aufgepasst hat.«

      Schnell kam die Antwort ihres Gegenüber: »Da gibt es deutlich andere Meinungen.«

      Er war jetzt in seinem Element. »Wir halten oftmals etwas für zufällig, wenn zwei verschiedene Kausalketten aufeinandertreffen und wir bis zum Eintritt des Ereignisses nur die eine Kette verfolgt haben. Der große Philosoph Voltaire meinte dazu: ›Zufall ist ein Wort ohne Sinn; nichts in unserer Umwelt kann ohne Ursache existieren.‹«

      Sie musste ihn unterbrechen. Der gute Mann wollte ihr tatsächlich eine Mitschuld an dem Unfall einreden! »Stopp! Nur weil ich Auto gefahren bin, bin ich doch nicht verantwortlich für den Unfall.«

      »Oh doch, da täuschen Sie sich aber. In manchen Rechtsordnungen kann sich Ihre Mitverantwortlichkeit für einen Unfall aus der Betriebsgefahr ergeben, die von Ihrem Auto ausgeht. Nur wenn der Unfall durch ein von außen einwirkendes, außergewöhnliches und nicht abwendbares Ereignis verursacht worden ist, kann diese Haftung ausnahmsweise entfallen.«

      Sie ereiferte sich, unterbrach ihn und betonte jedes einzelne Wort:

       »Der Unfall war für mich ein unabwendbares Ereignis! Mit einem Wort: Schicksal.«

      Er antwortete kühl, fast selbstgewiss: »Von Rechts wegen mag das so sein. Ich bin kein Jurist, und juristische Spitzfindigkeiten sind mir zuwider. Wie Menschen Normen formulieren, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen, interessiert hier weniger. Der Homo sapiens ist seit 200.000 bis 400.000 Jahren – da gehen die Meinungen etwas auseinander – auf diesem Planeten, in jedem Fall ein wahrhaft kosmischer Klacks. Sie müssen die Dinge globaler sehen. Es geht hier um eine viel grundlegendere Einsicht. Die Vorgänge in der Welt passieren, wenn Kausalketten aufeinandertreffen. Und ob dies geschieht, hängt nicht von Zufall oder Schicksal ab.«

      »Moment, das ist dann doch zu einfach«, warf sie ein. Das konnte sie nicht so stehen lassen. »Natürlich wäre der Unfall nicht passiert, wenn es mich nicht geben würde, ich heute Morgen nicht aufgestanden oder erst eine Woche später in Urlaub gefahren wäre. Dass der konkrete Unfall passiert ist, hängt allein davon ab, dass ich ausgerechnet vor diesem Trottel gefahren bin, als der nicht aufgepasst hat. Das war Pech, Schicksal oder mit einem Wort: Zufall. Basta!«

      Zufall

       Der Zufall ist nur das Maß unserer Unwissenheit.

       Henri Poincaré,

       Mathematiker und Philosoph

      Ihr Gegenüber ließ nicht locker. »Der durchaus rätselhafte Begriff des Zufalls passt nicht auf ein Ereignis in unserer realen Welt, auf einen Vorgang, wie Sie ihn erlebt haben.

      Ich will ja nicht behaupten, dass man ein derartiges Ereignis früher nicht mit dem Begriff Zufall bezeichnet hätte. Wie meinte schon Friedrich der Große so eingängig: ›Je mehr man altert, desto mehr überzeugt man sich, dass seine heilige Majestät, der Zufall, gut drei Viertel der Geschäfte dieses miserablen Universums besorgt.‹ Und Napoleon wird der Ausspruch zugeschrieben: ›Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.‹ Fraglich ist allerdings, ob diese Aussagen wirklich richtig sind.

      Bedenken Sie, wenn Menschen etwas als Zufall bezeichnen, haben sie häufig der anderen Hälfte dessen, was sich abspielte, keine Beachtung geschenkt. Der wirkliche Zufall ist etwas anderes, und er hat mit dem Unfallgeschehen nichts zu tun. Es war auch kein Pech oder Schicksal, dass Sie einen Unfall hatten.

      Mit dem Zusammenstoß ist keine negative Wertung zu verbinden, und vorbestimmt war er schon überhaupt nicht. Der Eintritt des Unfalls war wahrscheinlich. Ihnen ist etwas Wahrscheinliches passiert. Wahrscheinlichkeit ist die maßgebliche Größe in unserer Umwelt. Sie bestimmt die Vorgänge.«

      Wahrscheinlichkeit

       Zur Wahrscheinlichkeit gehört auch,

       dass das Unwahrscheinliche eintreten kann.

       Aristoteles,

       griechischer Philosoph

      Sie überlegte. Vielleicht waren sie gar nicht weit auseinander. Sie hatte sich jetzt auf ein Gespräch eingelassen und wollte nicht so schnell nachgeben. Um wieder Oberhand zu gewinnen, musste sie wissen, wie er die Begriffe definierte, und fragte daher: »Warum bin ich hier? Weil mein Unfall wahrscheinlich war? Wahrscheinlicher wäre doch, dass ich jetzt meine ersten Skiabfahrten hinter mir hätte. Was verstehen Sie denn unter Wahrscheinlichkeit?«

      »Kurz vor dem Unfall

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