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Art Reue kam mich an, als ob ich eine un­end­li­che Rei­he vor­über­flie­hen­der Tage nicht ge­nü­gend be­nützt hät­te; bei­lei­be nicht etwa im Sin­ne Bren­dels oder sonst ei­nes Schul­meis­ters. Ich er­kann­te viel­mehr in dem Ge­schenk ei­nes Ta­ges, in der Dar­bie­tung ei­ner sol­chen Son­nen­frist eine un­ge­heu­re Kost­bar­keit. Woll­te ich ih­ren Ver­lust über­haupt nicht wahr­ha­ben, so erst recht nicht ihre Ver­schleu­de­rung.

      And­rer­seits streb­te mein in­ne­rer Blick plötz­lich in die Zu­kunft hin­aus: nicht das Mor­gen, das Über­mor­gen, das Weih­nachts­fest oder sonst ei­nes im Jah­res­lauf war mehr sein Ziel, son­dern er ver­lor sich im Uner­gründ­li­chen. An­halts­punk­te für kos­mi­sche oder tran­szen­den­te Er­kennt­nis such­te er dies­mal nicht, son­dern sol­che, die Auf­schlüs­se über mein ei­ge­nes war­ten­des Schick­sal brin­gen konn­ten. Die­ser neue, aus­drucks­vol­le Blick je­doch wur­de zu­gleich von ei­ner Mau­er ge­hemmt, die er zu mei­ner Pein nicht durch­drin­gen konn­te.

      Hat­te ich der­einst mei­ne Ein­ma­lig­keit und da­mit mein un­ver­brüch­li­ches Al­lein­sein er­kannt, so sah ich mich heut zum ers­ten Mal ei­nem neb­lich­ten Schick­sal ge­gen­über­ge­stellt, das ich al­lein zu tra­gen hat­te. Wie wür­de es nach der Ent­hül­lung aus­se­hen? Wel­che Las­ten lud es mir auf?

      Das große Fra­ge­zei­chen blieb fort­an vor mei­ner See­le wie ein Me­men­to auf­ge­rich­tet. Da­hin­ter war eine wol­ken­haf­te Fins­ter­nis, in wel­cher Dro­hun­gen wet­ter­leuch­te­ten. Gott sei Dank war das Gan­ze mit ei­ner Him­mels­rich­tung ver­knüpft, wäh­rend die üb­ri­gen und die da­zwi­schen­lie­gen­den Punk­te mei­nes Ge­sichts­krei­ses frei wa­ren. Durch einen die­ser Punk­te fand sich ein Ra­di­us vom Zen­trum hin­aus­ge­führt. Er glich ei­nem sil­ber­nen Strahl, der sich al­ler­dings auch im Rau­me ver­lor, aber gleich­sam in ei­nem sil­ber­nen Ne­bel.

      Nie ei­gent­lich gab es in un­serm Hau­se pri­va­te Ge­sell­schaft. Som­mers konn­te da­von nicht die Rede sein, und da mei­ne Mut­ter sich im All­ge­mei­nen an Kaf­fee­kränz­chen und der­glei­chen nicht be­tei­lig­te, fehl­te auch im Win­ter die Ver­an­las­sung. Va­ter und Mut­ter pfleg­ten im Ort kei­ner­lei Ge­sel­lig­keit, eher mit Be­wusst­sein das Ge­gen­teil.

      Ein­mal aber wur­den doch die Ge­mä­cher des ers­ten Stockes für den Empfang ei­ner grö­ße­ren Abend­ge­sell­schaft her­ge­rich­tet, und zwar die gan­ze Zim­mer­flucht. Al­les wur­de sorg­sam durch­wärmt. Im ers­ten Rau­me stand das Bü­fett mit Lecker­bis­sen, Glä­sern und ge­öff­ne­ten Wein­fla­schen, im zwei­ten und drit­ten wa­ren Ess­tisch­chen auf­ge­stellt, das vier­te Zim­mer aber hat­te mein Va­ter zu ei­nem Le­se­ka­bi­nett aus­er­se­hen, wo man al­ler­lei Bü­cher und Zeit­schrif­ten durch­blät­tern konn­te, aus den sonst we­nig be­nütz­ten Schät­zen sei­nes Bü­cher­schranks: Meyers Uni­ver­sum mit sei­nen schö­nen Il­lus­tra­tio­nen, ein dickes Pracht­werk, das, in Kup­fer­stich re­pro­du­ziert, einen großen Teil der Schät­ze des Ber­li­ner Mu­se­ums ent­hielt, ein fran­zö­si­sches Werk mit far­bi­gen Li­tho­gra­fi­en, »Mu­ses et fées«, und Il­lus­tra­tio­nen zur Ili­as, die in einen deut­schen Pro­sa­text des Wer­kes ein­ge­fügt wa­ren.

      Selbst­ver­ständ­lich, dass ich vor dem Ein­tritt der Gäs­te alle die­se Wer­ke eif­rig durch­mus­ter­te.

      Be­son­ders »Mu­ses et fées« mit sei­nen durch Ga­ze­kleid­chen lose ver­hüll­ten ro­si­gen Mäd­chen­kör­pern ent­zück­te mich. Dann kam die Ili­as an die Rei­he. Als ich lan­ge das Buch durch­blät­tert und Pro­sa­stücke ent­zif­fert hat­te, ging mir jäh wie ein hel­les Licht der Ge­dan­ke auf, man müss­te die­se Pro­sa in Ver­se um­wan­deln. Wenn du die­se Auf­ga­be lö­sen könn­test, dach­te ich – der Ruhm ei­nes großen Dich­ters wür­de da­mit ge­won­nen sein.

      Ich habe da­mals we­der vom Vor­han­den­sein der Ili­as noch der Odys­see noch ei­nes Dich­ters na­mens Ho­mer ge­wusst.

      Die­se Er­kennt­nis, der Ge­dan­ke, die Ili­as zu dich­ten, die, ohne dass ich es wuss­te, als Dich­tung be­reits vor­han­den war, die da­mit ver­knüpf­te Hoff­nung des Dich­ter­ruhms war eben der sil­ber­ne Strahl, der kei­ne Mau­er zu durch­drin­gen brauch­te und sich in frei­er Fer­ne in ei­nem sil­bern-lo­cken­den Ne­bel ver­lor.

      Ir­gend­ei­nen Ver­such, die ge­fass­te Idee zu ver­wirk­li­chen, habe ich da­mals nicht un­ter­nom­men. Kei­ner­lei Über­le­gung, son­dern höchs­tens ein un­be­wuss­tes Wis­sen mei­ner kna­ben­haf­ten Un­zu­läng­lich­keit hielt mich da­von zu­rück.

      *

      Von großer Be­deu­tung wur­de für mich der di­cke Band, der Ma­le­rei­en und plas­ti­sche Bild­wer­ke Ber­lins, in­son­der­heit sei­nes Mu­se­ums, wie­der­gab. Ich habe zu be­ken­nen, dass mich Mu­ril­los »Se­me­le hin­ge­ge­ben dem wol­ken­haf­ten Zeus« auf eine rät­sel­haf­te Wei­se an­ge­zo­gen hat, ge­sün­der die Ama­zo­ne von Kiß, je­nes plas­ti­sche Bild­werk, das noch heut auf der Trep­pen­wan­ge des al­ten Mu­se­ums zu se­hen ist: in Erz ge­gos­sen ein bäu­men­der Gaul, ein nack­tes Weib zum Speer­wurf aus­ho­lend, um einen Pan­ther zu durch­boh­ren, der sei­ne Pran­ken um die Brust des Pfer­des ge­schla­gen hat.

      Auch das Denk­mal Fried­richs des Gro­ßen von Rauch mit sei­nem Ge­wir­re klei­ner Fi­gu­ren er­reg­te mir Be­wun­de­rung, und ich setz­te als selbst­ver­ständ­lich vor­aus, dass nur Halb­göt­tern, nicht ge­wöhn­li­chen Men­schen, wie wir es wa­ren, Wer­ke wie das von Kiß und das von Rauch ge­lin­gen könn­ten. Es war eine kind­li­che An­nah­me, die ich lan­ge be­lä­chelt habe. Heu­te weiß ich, dass sie zu Recht be­stand.

      Au­ßer die­sen plas­ti­schen Bild­wer­ken hat­te sich mir von ir­gend­wo­her die Ari­ad­ne von Danne­cker ein­ge­prägt, und ich trug sie als ei­nes von drei Wun­dern der Kunst im Geis­te mit mir her­um.

      Schein­ba­re Zu­fäl­le sind es meist, durch die fol­gen­schwe­re Wir­kun­gen aus­ge­löst wer­den. Hät­te mein Va­ter nicht wi­der sei­ne Ge­pflo­gen­heit eine Ge­sell­schaft ge­ge­ben und, um sie an­zu­re­gen, den In­halt sei­nes Bü­cher­schranks aus­ge­legt, so wür­de ich we­der die Kon­zep­ti­on des großen Ho­me­ri­schen Ge­dichts ha­ben fas­sen kön­nen, noch hät­ten sich jene be­rühm­ten plas­ti­schen Kunst­wer­ke in mei­ner Vor­stel­lungs­welt fest­ge­setzt. An ih­nen lern­te ich die Wahr­heit des Sat­zes ken­nen, den De­mo­kri­tos ge­spro­chen hat, wo­nach die großen Freu­den aus der Be­trach­tung schö­ner Wer­ke ab­zu­lei­ten sind. Hat­te die von mir ent­deck­ten eine über­mensch­li­che Kraft ge­schaf­fen, so er­füll­te sie sel­ber in mei­nen Au­gen au­ßer- und über­mensch­li­che We­sen­heit. Sie wur­den mir in sich und an sich Kult­bil­der, wie es mir die Kreuz­ab­nah­me ge­wor­den war und die Raf­fae­li­sche Ma­don­na im Gro­ßen Saal.

      Im Fe­bru­ar er­leb­te ich einen Fa­schings­ball. Im Mas­ken­ge­wim­mel be­weg­te sich je­mand un­ter ei­nem rie­si­gen schwar­zen Drei­mas­ter. Die­se ins Gi­gan­ti­sche ge­stei­ger­te Kopf­be­de­ckung war ei­gent­lich ein Tin­ten­fass, in dem eine Gän­se­fe­der steck­te. Das mons­trö­se Ge­bil­de zog mei­ne Au­gen vor al­lem an und er­reg­te in mir un­end­li­ches Stau­nen. Und mein Stau­nen stei­ger­te sich, als ich ei­ni­ge Tage spä­ter die­ses Papp­de­ckel-Tin­ten­fass in ei­nem

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