Скачать книгу

Schu­bert und Beetho­ven pfleg­te.

      Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen mei­ner Mut­ter und mei­ner Schwes­ter, die nicht sel­ten in mei­ner Ge­gen­wart statt­fan­den, stei­ger­ten sich mit­un­ter zu großer Hef­tig­keit. Mei­ne Mut­ter war hier­in kurz­sich­tig. Wäre Jo­han­na ihr ge­folgt, wahr­schein­lich wäre sie zei­tig zu­grun­de ge­gan­gen, denn eine Ent­wick­lung, wie die hier für sie er­streb­te, war für sie bei der Zart­heit ih­rer An­la­ge Un­na­tur.

      Eine Art Le­ben­stau­mel be­herrsch­te den Ba­de­ort, der in die­ser Sai­son den Zustrom von Gäs­ten kaum be­wäl­ti­gen konn­te. Wäh­rend des Tru­bels in­mit­ten der Ju­li­hit­ze hieß es plötz­lich, dass das Fräu­lein von Ran­dow ge­stor­ben sei. Ich schlang ge­ra­de wie­der ein­mal mein Mit­ta­ges­sen in der Bü­fett­stu­be, als mir die Mit­tei­lung ge­bracht wur­de. Im Vor­raum ka­men und gin­gen die Kell­ner und mach­ten mit lau­ter Stim­me ihre Be­stel­lun­gen. Ich war nicht we­nig über­rascht, als in mei­nem ab­ge­le­ge­nen öden Raum eine vor­neh­me Dame in tiefer Trau­er er­schi­en, die mich nach mei­nen El­tern frag­te. Die Er­schei­nung war nicht nur we­gen der schwar­zen Tracht auf­fäl­lig. Ein blas­ses, ed­les Ge­sicht mit bren­nen­den Au­gen ward sicht­bar, als die Dame den Schlei­er zu­rück­leg­te. Voll Un­ge­duld ging sie hin und her.

      End­lich, als ob sie die Frem­de ge­sucht hät­te, trat mei­ne Schwes­ter Jo­han­na ein, ent­schul­dig­te die lei­der un­ab­kömm­lich be­schäf­tig­ten El­tern und ent­fern­te sich mit der Be­su­che­rin.

      Es sei eine Baro­nin Ma­ria von Lie­big, sag­te man mir, eine Freun­din von Fräu­lein Jasch­ke, die zum Be­gräb­nis von de­ren Pfle­ge­ma­ma ein­ge­trof­fen war.

      Jo­han­na nahm mich mit in den Kur­län­di­schen Hof. Hier war das Fräu­lein auf­ge­bahrt; ein schwe­res Bro­kat­kleid ist mir er­in­ner­lich, des­sen Schlep­pe man über den Rand des me­tal­le­nen Sar­ges bis zur Erde dra­piert hat­te.

      Ich habe ver­mö­ge mei­ner of­fe­nen und an­schmieg­sa­men Na­tur vie­len ein­fa­chen Leu­ten, Kut­schern, Haus­die­nern, Dienst­mäd­chen und Kell­nern, wie mei­nes­glei­chen na­he­ge­stan­den. Ich hat­te mich in die­sem Som­mer an einen lus­ti­gen, lie­bens­wür­di­gen Sach­sen be­son­ders an­ge­schlos­sen, der als Kell­ner auch von mei­nem Va­ter be­vor­zugt wur­de und sehr tüch­tig war. Über­ra­schend hat­te sich die­ser bis da­hin so eif­rig tä­ti­ge Mensch aus dem Dienst ent­fernt, kam nicht zu­rück und wur­de da und dort in den Knei­pen des Orts ge­sich­tet, wo er, ohne grad im Trin­ken aus­zu­schwei­fen, sei­ner Um­ge­bung Re­den hielt.

      Die­ser jun­ge Ge­or­ge oder Fritz oder Jean, mit Stroh­hut, Stöck­chen und ele­gan­tem Som­mer­pa­le­tot, stand ei­nes Ta­ges, wäh­rend ich speis­te, vor mir in der Bü­fett­stu­be. Er schwenk­te sein Stöck­chen, hob den Hut, wisch­te mit ei­nem sei­de­nen Ta­schen­tuch sei­ne Stirn und frag­te mit ei­ner mir an ihm frem­den Un­ge­niert­heit: »Sa­gen Sie, Ger­hart, wo ist Ihr Va­ter?« Ich war er­schreckt, denn ich merk­te, dass et­was bei ihm nicht in Ord­nung war. Als ich zu­nächst durch Schwei­gen ant­wor­te­te, fiel ihm das, wie mir schi­en, nicht auf. Er pflanz­te sich vor den Spie­gel und bürs­te­te sorg­fäl­tig sei­nen Schei­tel, der ta­del­los von der Stirn bis zum Na­cken ging. Er müs­se mei­nen Va­ter spre­chen, er­klär­te er, weil er ein Ge­heim­nis ent­deckt habe. Er sag­te das aber nicht zu mir, son­dern führ­te ein Selbst­ge­spräch, wäh­rend­des­sen er mei­ne Ge­gen­wart, wie ich fühl­te, ver­ges­sen hat­te. »Ich habe ein Ge­heim­nis ent­deckt!« war der Schluss, der sich wohl zwan­zig­mal wie­der­hol­te.

      Es hieß am glei­chen Nach­mit­tag, der arme hüb­sche Jun­ge sei auf der Pro­me­na­de ei­ner Ge­ne­ra­lin buch­stäb­lich auf­ge­huckt, also auf den Rücken ge­sprun­gen, und sei, ar­re­tiert, in Tob­sucht ver­fal­len. Un­heil­bar geis­tes­ge­stört, steck­te er we­ni­ge Tage spä­ter hin­ter den Git­ter­stan­gen ei­ner Ir­ren­an­stalt.

      Es war das ers­te Mal, dass ich die Zer­stö­rung ei­nes Geis­tes aus der Nähe be­ob­ach­ten konn­te. Ein mir ver­trau­ter, lie­bens­wer­ter Mensch er­litt plötz­lich le­ben­di­gen Lei­bes den geis­ti­gen Tod. Dass et­was der­glei­chen schon in die­sem Le­ben mög­lich ist, er­schwert die Ant­wort auf die Fra­ge nach geis­ti­ger Uns­terb­lich­keit und macht den Glau­ben dar­an bei­nah un­mög­lich.

      *

      Ich be­fand mich da­mals im zehn­ten Jahr, ge­noss nach wie vor bei Bren­del den Schul­un­ter­richt, er­hielt von Dok­tor Oli­vie­ro in des­sen Woh­nung Gei­gen­stun­de und trieb mich die meis­te Zeit in Feld, Wald, Wie­se so­wie noch im­mer auf der Klei­nen Sei­te von Ober-, Mit­tel- und Nie­der-Salz­brunn her­um. Im­mer noch spuk­te die In­dianer­ro­man­tik, Ro­bin­son und das Step­pen­roß. Un­ter dem al­ten Birn­baum rühr­ten wir Jun­gens noch im­mer die Trom­mel, mach­ten rechtsum, links­um­kehrt un­ter dem Be­feh­le Gros­sers, des eins­ti­gen Feld­we­bels, und san­gen: »Heil dir im Sie­ger­kranz« – nicht mehr mit dem Schluss »Heil, Kö­nig …« son­dern »Heil, Kai­ser, dir!« Im Herbs­te, als sich der Ku­r­ort ge­leert hat­te und der ein­ge­ses­se­ne Salz­brun­ner zu sich sel­ber kam, wach­ten die Krie­ger­ver­ei­ne auf, Fes­te wur­den ge­fei­ert, pa­trio­ti­sche Re­den ge­hal­ten, und be­son­ders das Pflan­zen von Frie­den­sei­chen war im Deut­schen Reich all­ge­mein. Auch in Ober-Salz­brunn wur­de die Wur­zel ei­nes Ei­chen­bäum­chens nach fei­er­li­chem Auf­marsch der Schu­le und der Kriegs­teil­neh­mer dem Bo­den an­ver­traut. Man ge­dach­te da­bei der Ge­fal­le­nen. Durch die be­rühm­te Wal­den­bur­ger Berg­ka­pel­le wur­de mez­zo-for­te »Ich hat­t’ einen Ka­me­ra­den …« in­to­niert und der Ge­sang von »Deutsch­land, Deutsch­land über al­les« be­glei­tet.

      *

      Die­se Ze­re­mo­nie wur­de von mir eine Wo­che spä­ter in Ge­mein­schaft mit vie­len Dorf­jun­gens aber­mals mit ei­nem be­son­de­ren Bäum­chen auf ei­nem be­son­de­ren Platz aus­ge­führt. Wir ahm­ten al­les ge­treu­lich nach, nur dass wir kei­ne Ka­pel­le hat­ten. Als wir das Bäum­chen ge­pflanzt und tüch­tig be­gos­sen hat­ten, hielt ich mit lau­ter Stim­me die Fe­st­re­de. Ich sag­te: der Krieg sei gut und noch bes­ser der Sieg, am al­ler­bes­ten aber der Frie­de. Um sei­net­wil­len wer­de ja schließ­lich Krieg ge­führt – und ich weiß ge­nau, wel­che woh­li­ge Emp­fin­dung hei­te­rer Si­cher­heit sich da­bei um mei­ne Brust leg­te. Konn­ten wir da­mals ah­nen, dass eine Frie­den­se­po­che fast oh­ne­glei­chen, von mehr als vier Jahr­zehn­ten, vor uns und dem deut­schen Vol­ke stand?

      Beim Pflan­zen der Frie­den­sei­che, das ver­steckt hin­ter dich­ten He­cken in ei­nem Gar­ten ge­sch­ah, sind wir trotz­dem be­lauscht wor­den. Es hat­ten sich au­ßer­halb Men­schen an­ge­sam­melt. Als ich mei­ne Rede be­schloss, wur­de mir von dort aus durch Hän­de­klat­schen und Bra­vo­ru­fe der ers­te Bei­fall mei­nes Le­bens be­zeigt.

      *

      Im­mer tiefer ge­rie­ten wir in den Herbst hin­ein, und am 15. No­vem­ber brann­ten zehn Lich­ter um mei­nen Ge­burts­tags­ku­chen. In mei­nem Ge­dächt­nis ist die­ser Tag ver­zeich­net gleich­sam als epo­cha­ler Au­gen­blick. Höchs­tens drei- oder vier­mal hat es einen sol­chen ge­ge­ben im ers­ten Vier­tel­jahr­hun­dert mei­nes Da­seins­kampfs.

      Was war es? Was ver­lieh dem Zehn­lich­ter­tag die­se Wich­tig­keit? Die Fra­ge ist heut nicht mehr leicht zu be­ant­wor­ten. Ge­wiss ist, sie lag in mei­nem Geis­te, denn hier

Скачать книгу