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Ge­org und mir dies­mal nicht auf­kom­men. Mor­gens dar­auf brach­te uns On­kel in der üb­li­chen Land­kut­sche nach Strie­gau zur Bahn, eine Fahrt, die meh­re­re Stun­den ver­lang­te. Ich weiß nicht, wer es war, der uns in ei­ner glei­chen Kut­sche ent­ge­gen­kam, sie hal­ten ließ und uns zu­wink­te.

      Das Dump­fe, das über der gan­zen Rei­se ge­le­gen hat­te, lös­te, wie Ge­wit­ter­schwü­le ein ers­ter Blitz, die Nach­richt, die der Win­ken­de mit­brach­te. »Mei­ne Her­ren«, rief er, »wir ha­ben den Krieg! Ges­tern hat Kö­nig Wil­helm in Bad Ems den Ge­sand­ten Na­po­le­ons, der ihn wie einen La­kai­en Frank­reichs be­han­deln woll­te, ein­fach auf die Stra­ße ge­wor­fen. Die ge­sam­te nord­deut­sche Ar­mee mo­bi­li­siert, auch die süd­deut­schen Fürs­ten ma­chen mit, Bay­ern, Ba­den, Würt­tem­berg. Es braust ein Ruf wie Don­ner­hall!«

      Mein Va­ter und On­kel Schu­bert wa­ren bleich ge­wor­den.

      Da­mals stand ich noch vor Vollen­dung des ach­ten Le­bens­jah­res, aber es war nicht schwer zu be­grei­fen, dass sich et­was ganz Un­ge­heu­res, Grund­stür­zen­des er­eig­nen soll­te. Und nun wur­de im Wei­ter­fah­ren zum ers­ten Mal zwi­schen Va­ter und On­kel der Name Bis­marck laut, ein Name, den mein Be­wusst­sein bis da­hin nicht re­gis­triert hat­te. »Bis­marck,« sag­te der On­kel, »stürzt uns in ein sehr schlim­mes und sehr ge­fähr­li­ches Aben­teu­er hin­ein. Der All­mäch­ti­ge sei uns gnä­dig! We­der sind wir ge­rüs­tet ge­nug, aber wenn wir es wirk­lich wä­ren, wie wol­len wir den über­le­ge­nen Waf­fen und Mas­sen Frank­reichs wi­der­ste­hen?«

      Dem wei­chen und gü­ti­gen On­kel Gu­stav Schu­bert ge­gen­über schi­en mein Va­ter ein eben­so sanf­tes und wie­der­um gänz­lich ver­än­der­tes We­sen zu sein, aber er woll­te doch nicht in die Ver­zagt­heit des lie­ben Ver­wand­ten ein­stim­men. Mit ru­hi­gen und be­stimm­ten Wor­ten trat er für Bis­marck und sei­ne Hal­tung ein: er habe im­mer ge­wusst, was er wol­le, und es im­mer zum gu­ten Ende ge­führt. Er nann­te dann Molt­ke, Roon, Vo­gel von Fal­cken­stein und er­klär­te, wenn wirk­lich Bay­ern, Würt­tem­berg, Ba­den und Sach­sen mit­gin­gen, hät­te der Sieg eine große Wahr­schein­lich­keit.

      *

      Man schrieb den 25. No­vem­ber 1870, als der Brun­nen­in­spek­tor Fer­di­nand Straeh­ler, mein Groß­va­ter, starb. Die De­pe­schen Kö­nig Wil­helms, die Nach­rich­ten glän­zen­der Sie­ge und wie­der Sie­ge wa­ren noch an sein Ohr ge­schla­gen: die Er­stür­mung von Wei­ßen­burg, die der Spi­che­rer Hö­hen, die Sie­ge bei Wörth, Gra­ve­lot­te und St. Pri­vat, schließ­lich die Ka­pi­tu­la­ti­on von Se­dan.

      Das be­deu­te­te die Her­auf­kunft ei­ner neu­en Zeit. Er stand vor dem Ab­schluss ei­ner al­ten, die zu­gleich mit dem sei­nes Le­bens vollen­det war.

      Ei­ni­ger­ma­ßen fei­er­lich pil­ger­te ich mit mei­ner Mut­ter in das Ster­be­haus. Tan­te Gus­tel und Tan­te Lie­sel hat­ten ver­wein­te Au­gen. Schwei­gend be­ga­ben wir uns in ein hin­te­res Zim­mer des Dachrö­dens­hofs, das nach mei­ner Erin­ne­rung nur durch ein Guck­loch oben in der Wand Licht er­hielt. Es war Ende No­vem­ber, aber ein son­nen­hei­te­rer, fri­scher Tag.

      Et­was un­ter ei­nem lei­ne­nen Bet­tuch Ver­bor­ge­nes hat­te für mich eine schau­er­li­che An­zie­hungs­kraft. Man deck­te es ab, und ich sah eine mir zu­nächst un­ver­ständ­li­che Mas­se, die lang­sam durch einen Fuß, durch eine gel­be runz­li­ge Hand, durch et­was Haupt­haar und Ohr als mensch­li­che Form zu er­ken­nen war. Es wa­ren die ir­di­schen Res­te mei­nes Groß­va­ters.

      Man hat­te den To­ten mit großen Blö­cken Ei­ses um­legt. Ich war nicht ge­rührt. Hät­te mei­ne Emp­fin­dung Aus­druck ge­fun­den, viel­leicht wür­de es durch ein be­frem­de­tes Kopf­schüt­teln ge­sche­hen sein. Ich war wirk­lich ganz ein be­frem­de­tes Kopf­schüt­teln.

      Die tote Mas­se, die da lag, zwi­schen Eis­stücken – konn­te sie mein Groß­va­ter sein und ge­we­sen sein? Das war er ge­we­sen, er, des­sen stol­ze Gleich­gül­tig­keit mich ver­letzt, des­sen gan­ze Er­schei­nung mir aber doch Ehr­furcht er­weckt hat­te? Also das war un­ser al­ler Los! Man hat­te wohl Grund, sich das ge­gen­wär­tig zu hal­ten.

      *

      Die Stun­den dar­auf ver­ei­nig­ten äu­ßers­te Ak­ti­vi­tät im Spiel und ver­schwie­ge­ne Me­di­ta­tio­nen, wie denn viel­leicht über­haupt Träu­me­rei und Ak­ti­vi­tät viel­fach ver­bun­den sind.

      Es gab einen röt­lich ge­stri­che­nen ho­hen Kar­ren mit zwei Rä­dern in un­serm Hof. Ich be­spann­te ihn mit etwa acht Jun­gens zu vier und vier und stand, eine Peit­sche schwin­gend, dar­auf. Ein Wirr­sal von Zucker­schnü­ren er­setz­te die Zü­gel. So ras­ten wir pol­ternd über die Dorf­stra­ße, ras­ten in den Post­hof hin­ein, wo die Ross­kas­ta­ni­en mit dem Gold ih­rer Blät­ter den Bo­den ver­deckt hat­ten und brau­ne Früch­te in Men­ge her­um­la­gen. Dort be­lu­den wir, von Son­nen­schein und Herbst­fri­sche be­lebt, un­sern Kar­ren mit Laub, um ich weiß nicht was da­mit aus­zu­rich­ten. Und nun ras­ten wir wie­der dort­hin, wo wir her­ka­men. Äu­ßer­lich war es für mich ein herr­li­cher Rausch. Im In­nern je­doch hat­te sich eine un­ge­such­te Er­kennt­nis wie ein Pfeil ein­ge­bohrt, ein Zu­stand, der sich nicht än­dern konn­te. Den Pfeil zu ent­fer­nen, die Wun­de zu hei­len, gab es kei­ne Mög­lich­keit.

      Ei­gent­lich zum ers­ten Mal hat­te ich den Ge­dan­ken des un­ab­wend­ba­ren To­des mit mir selbst in Ver­bin­dung ge­bracht. Du ent­rinnst, stel­le dich, wie du willst, so sprach eine Stim­me in mir, dem Ende dei­nes hoch­mö­gen­den Groß­va­ters nicht: er reich­te ei­ner Za­rin den Mund­be­cher, aber das ret­te­te ihn kei­nes­wegs vor dem Schick­sal, das eben das all­ge­mei­ne ist. Schie­be es noch so lan­ge hin­aus, su­che es noch so sehr zu ver­ges­sen, len­ke dich tau­send­fäl­tig in die Fül­le und den Reich­tum des Le­bens ab: ei­nes Ta­ges wird es auch dir un­ab­wend­ba­re Ge­gen­wart. Du kannst es kei­nem an­de­ren zu­schie­ben, du musst da­bei­sein, du ganz per­sön­lich. Und wenn du auch hun­dert Jah­re alt wür­dest, geht es am Ende nicht ohne dich. Du wirst at­men, le­ben und le­ben wol­len wie jetzt, dann wird es hei­ßen: leg weg, was du in Hän­den hast, ein Stück Brot, eine Hand­voll Zucker­schnü­re, oder was es auch im­mer sei, es ist aus, du musst fort – musst ster­ben. Und das Ster­ben wie das Le­ben wirst du hin­neh­men müs­sen als Ge­gen­wart.

      An mei­nem letz­ten Ge­burts­tag, den ich vor we­ni­gen Ta­gen ge­fei­ert hat­te, stan­den acht bren­nen­de Jah­res­lich­ter um den ob­li­ga­ten Streu­sel­ku­chen her­um. Al­les in die­sen Blät­tern Er­zähl­te lag hin­ter mir, ja un­end­lich viel mehr, was ei­ni­ger­ma­ßen er­schöp­fend mit­zu­tei­len Men­schen­kraft über­stei­gen wür­de. Durch fünf von die­sen acht Jah­ren war ich gleich­sam mit flie­gen­dem Haar hin­durch­ge­stürmt, hat­te ge­lacht, ge­weint, ge­rast, ge­lit­ten, ge­kämpft, und was noch sonst. Aber über al­les sieg­te der in­ne­re, flie­ßen­de Strom von Le­bens­lust. Un­be­que­mes und Un­an­ge­neh­mes wur­de mit ei­ner Be­we­gung ähn­lich der ei­nes Foh­lens, wenn es, die Mäh­ne um sich wer­fend, ei­gen­sin­nig da­von­ga­lop­piert, ab­ge­schüt­telt.

      Nun aber, seit Groß­va­ters Tode, ge­lang dies mit­un­ter so ganz nicht mehr.

      *

      Wenn sich mei­ne Mut­ter im Som­mer nach den Stra­pa­zen in der glü­hen­den und lär­men­den Ho­tel­kü­che, nach­dem ei­ni­ge hun­dert Men­schen ab­ge­füt­tert wa­ren,

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