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verlässlich aufgefangen und mein Friend, den ich vorher noch platzieren konnte, hat sich perfekt im Felsspalt verkrallt und keinen Millimeter nachgegeben.

      Der gesamte Flug verlief angesichts des überhängenden Geländes ohne jeglichen Felskontakt; das hat mir eine Verletzung erspart. Daniel sah mich fliegen und hat sich dabei noch mehr erschreckt als ich. Nun hänge ich zitternd in den Seilen. Einige Minuten brauche ich, um das Erlebte zu verarbeiten und für die Fortsetzung der Kletterei bereit zu sein, doch dann nehme ich die Wand wieder unter meine Finger und kehre an den Ort des Geschehens zurück. Ich konzentriere mich auf meine Bewegungen und merke, wie sich dadurch meine Psyche nach und nach beruhigt. Unter uns ziehen Karawanen von Touristen auf dem Weg zum Paternsattel. Sie sind uns so nahe, dass wir sie plaudern hören. Immer wieder bleiben welche stehen und schauen uns zu, während wir dem Gipfel entgegenstreben. Dort angekommen, genießen wir das großartige Ambiente der Drei Zinnen mit ihrem einzigartigen Zug in die Vertikale. Dann gleiten wir an unserem Doppelseil bequem hinab bis zum Wandfuß, beenden unseren viertägigen Kletterurlaub und fahren zufrieden nach Hause.

      Ein Bilderbuchriss spaltet den Torre di Valgrande in zwei Teile und zieht wie eine Rakete gegen den Himmel.

      3.

      Werde, der du bist

      CIVETTA-DOLOMITEN | TORRE DI VALGRANDE

      Via Carlesso-Menti

      VI+ A1 (VIII–) | 480 Meter

      Berge üben auf mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Schon als Kind konnte ich mich nicht genug satt sehen am alpinen Panorama, das sich mir auf den Gipfeln meiner Lesachtaler Heimat bot. Da gab es steile Wände, luftige Grate und elegante Spitzen. In der Zwischenzeit habe ich noch viele andere bezaubernde Bergformen kennen gelernt. Nach wie vor am meisten aber faszinieren mich Berge, die sich einem Turm gleich gegen den Himmel recken. Dann habe ich das Gefühl, der Stein hat zu seiner eigentlichen Berufung gefunden. Welches andere Material wäre in der Lage, sich über Hunderte von Höhenmetern gegen die Schwerkraft zu behaupten? Unter allen alpinen Felsformen ist der Turm die kühnste und edelste. Dass wir das so empfinden, liegt vielleicht auch darin begründet, dass das Bild des Turmes tief in unserer Seele verankert ist und – wie die Psychologie sagt – zu den Archetypen unseres kollektiven Bewusstseins gehört.

      Carl Gustav Jung, Schweizer Psychiater und Gründer der analytischen Psychologie, hat Zeit seines Lebens an einem Turm gebaut. Für ihn war das Bauen Ausdruck eines inneren Prozesses der Selbstwerdung. Dieser Prozess der Individuation, wie Jung ihn auch nennt, ist in jedem von uns angelegt und hat zum Ziel, die unverwechselbare Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen auszuprägen. Durch engagierte Auseinandersetzung mit den in unserer Psyche angelegten Kräften sollen wir uns möglichst umfassend verstehen, um zu der oder dem zu werden, die oder der wir von unserem ganzen Wesen her sind. Werde, der du bist!9 Mit diesen Worten ruft bereits der im fünften vorchristlichen Jahrhundert lebende griechische Dichter Pindar seine Leser zur Selbstfindung auf. Und auch das Delphische Orakel kennt kein wichtigeres Lebensziel, als sich mit der eigenen inneren Persönlichkeit auseinanderzusetzen, wie die Worte Erkenne dich selbst! (gnôthi seautón) über dem Eingang des Tempels von Delphi bezeugen. Die Gesetzmäßigkeit, nach welcher die Selbstwerdung des Menschen vonstattengeht, hat der deutsche Dichter Friedrich Rückert in einem Gedicht so beschrieben:

       Vor jedem steht ein Bild des, das er werden soll;

       Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll.

      Weitgespannt ist die Literatur zur Frage, welche denn nun genau jene Kräfte der Seele sind, die es im Prozess der menschlichen Selbstwerdung zu entwickeln gilt. Der deutsche Autor und Psychotherapeut Lutz Müller10 meint aufbauend auf der Lehre von C. G. Jung, dass sich die für die Individuation sinn- und orientierungsstiftenden Prinzipien auf fünf reduzieren lassen. Er bezeichnet sie mit griechischen Namen, deren Bedeutung sich einem jedoch leicht erschließen, weil uns die Begriffe aus der Alltagssprache geläufig sind. Die fünf Prinzipien der Lebenskunst lauten: BIOS, HEROS, EROS, LOGOS und MYSTOS. Während sich BIOS auf unsere vitalen Bedürfnisse, das Sinnliche und Körperliche, bezieht, nimmt HEROS die Aspekte unserer Aktivität in den Blick wie zielgerichtetes Handeln, Tatkraft, Mut und Stärke. EROS ist dazu das polare Gegen- und Ergänzungsprinzip, das verbindet und vereint. EROS steht für Beziehung, Einfühlung, Liebe, Schönheit, Freude und Harmonie. Das LOGOS-Prinzip bezeichnet die geistige Dimension. Dazu gehört alles, was sich auf Erkenntnis, Bewusstsein, Wahrheits- und Sinnfindung bezieht. Alle vier Prinzipien bilden ein umfassendes Ganzes. Dieses wird als MYSTOS (schöpferisches Geheimnis) bezeichnet. MYSTOS weist auf den verborgenen Mittelpunkt des Menschen wie auch des Lebens hin. Er ist das Mysterium der sich selbst organisierenden schöpferischen Einheit und Ganzheit des Seins, aus der sich die beschriebenen anderen Prinzipien in einem andauernden Wachstums- und Veränderungsprozess herausdifferenzieren bzw. hineinintegrieren.

      Diese fünf Prinzipien können als eine Art Kompass für die Selbstverwirklichung verwendet werden. Sie können uns zeigen, wo wir uns möglicherweise zu sehr von unserer natürlichen Ganzheit entfernt haben, in die Sackgasse geraten sind und in welcher Richtung es für uns weitergehen könnte. Sie können unser Bewusstsein erweitern, indem sie uns auf Bereiche der Seele und des Lebens aufmerksam machen, die wir vielleicht verdrängt haben oder aus anderen Gründen nicht genügend würdigen. So lässt sich zum Beispiel mit ihrer Hilfe erkennen, dass in unserer heutigen westlichen Gesellschaft die Aspekte und Werte des HEROS und des LOGOS dominieren, während eine verantwortliche, konstruktive Beziehung zum BIOS, zu Natur und zum Leben, zum EROS, zur Liebe und Schönheit und auch zum MYSTOS, der die Welt als eine lebendige schöpferische göttliche Ganzheit auffasst, verloren gegangen scheint.

      Wenn ich mit diesem einfachen, aber erstaunlich umfassenden Diagnoseinstrument auf das alpine Klettern blicke, so fällt mir auf, dass darin das Prinzip HEROS mit seiner vorwärts drängenden Energie, die uns Mut schenkt, Angst überwinden hilft und Grenzen überschreiten lässt, eine erstrangige Rolle spielt. Aber bei näherem Zusehen entdecke ich, dass auch die anderen Prinzipien aktiviert werden. Aufgrund des starken körperlichen Schwerpunktes im Klettern ist die gesamte Dimension des Sinnlichen und Vitalen (BIOS) sehr präsent, aber auch die Bereiche Beziehung, Einfühlung, Schönheit und Harmonie (EROS) spielen beim Klettern angesichts von Kletterpartnerschaft und Naturbegegnung eine große Rolle. Routenfindung und alpine Logistik fordern den Geist und stellen ihm vielfältige und umfassende Aufgaben, weshalb auch das Prinzip LOGOS sehr oft zum Zug kommt. Und schließlich stellt die Erfahrung des Kletterns im Gegenüber zur Mächtigkeit der Berge eine ständige Einladung dar, sich dem schöpferischen Geheimnis (MYSTOS) zu öffnen.

      Werden wir gefragt, wozu das Klettern gut ist, müssen wir eingestehen, dass es eigentlich zu nichts dient. Es bringt keinen Nutzen. Wir betreiben es aus reiner Lust an der Sache. Und dennoch habe ich den Eindruck, dass mir das alpine Klettern auf dem Weg der Selbstverwirklichung irgendwie behilflich war. Vielleicht in der Weise, dass es mir – einem Exerzierfeld gleich – die Möglichkeit bot, mich in die oben genannten Prinzipien, welche für die Lebenskunst so entscheidend sind, einzuüben. Auf diese Weise ist es mir vielleicht auch gelungen, sie im beruflichen und zwischenmenschlichen Alltag besser und ausgeglichener zur Geltung zu bringen. Mag sein, dass dadurch mein eigener Turm, den durch mein Leben zu bauen ich vom Schöpfer berufen bin, die gegenwärtige Gestalt gewonnen hat. Jedenfalls blicke ich dankbar auf meine fünfzigjährige Kletterkarriere zurück, der ich nicht nur unvergessliche Erlebnisse, sondern zweifellos auch eine entscheidende Charakterformung verdanke. Und sehe ich irgendwo einmal einen schönen Felsturm, so muss ich an all das denken.

      Beim Klettern gilt es wie im Leben so manchen Rucksack zu schultern.

      In der Civetta steht eine solch faszinierende Felsgestalt, ein Turm von schwindelerregender Steilheit, der Torre di Valgrande. Niemand käme auf die Idee, in seine Südwestwand einzusteigen, gäbe es da nicht

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